Unser Haus am Meer

Das Lied „Home by the Sea“, das 1983 auf der nach der Gruppe selbst betitelten CD „Genesis“ erschienen ist, handelt nach dem Autor der Liedtextes, dem Keyborder Tony Banks, von einem Einbrecher, der in ein Geisterhaus gerät und von den Gespenstern für den Rest seines Lebens mit ihren Geschichten gepiesackt wird. Betrachten wir den Text selbst und was das Unbewußte des Autors uns zu erzählen hat – mit Kürzungen frei übersetzt:

An der uneinsehbaren Seite hinaufkriechen, an der Wand hinaufklettern, schleichend durch das Dunkel der Nacht. Durch ein Fenster klettern, auf den Boden treten, nach links und nach rechts schauen, Sachen an sich nehmen und einstecken. Doch irgendetwas fühlt sich nicht normal an. Hilf mir jemand, laßt mich hier raus. Dann hört man plötzlich aus der Dunkelheit: „Willkommen im Haus am Meer“. Aus dem Gebälk, durch die offene Tür drängen von oben und unten kommend Schatten ohne Substanz. In Menschengestalt wirbeln sie ziellos durcheinander. Ihre Augen sind voller Verzweiflung und sie stöhnen wehklagend wie ein Mann: „So helfe uns doch jemand, laßt uns hier raus, die wir hier so lange ungestört lebten, träumend von der Zeit, als wir frei waren vor so vielen Jahren, vor der Zeit, als wir zum ersten Mal hörten: ‚Willkommen im Haus am Meer.‘ Setz dich hin, während wir unser Leben in dem, was wir euch davon erzählen, noch einmal durchleben. Bilder des Kummers, Bilder der Freude, Dinge, die ein Leben ausmachen: endlose Tage des Sommers, längere Nächte der Finsternis, Warten auf das Morgenlicht, Szenen der Unwichtigkeit, Fotos in einem Rahmen. Dinge, die ein Leben ausmachen. – Setz dich hin. Du entkommst uns nicht. Nein, bei uns wirst du bleiben für den Rest deiner Tage. – Setz dich hin. Wir erleben unser Leben neu in dem, was wir dir erzählen. Laß uns unser Leben neu erleben in dem, was wir dir erzählen.

Als Fremde stehlen wir uns ins Leben – und finden uns unvermittelt in der Falle, im klaustrophobischen „Haus am Meer“ – dem Meer mit seinen unendlichen Weiten. Schattenhafte, orientierungslose Wesen, die einst ebenso frei waren, wie wir, als wir eben noch draußen am Strand waren, bedrängen uns mit ihren bedeutungslosen Geschichten, die genauso leer sind wir ihre gesamte Existenz in diesem bedrückenden Gefängnis. Ein Leben aus zweiter Hand, während draußen die Meereswellen verheißend gegen den Strand stoßen.

Bedeutsam wird das Lied durch den weitestgehend instrumentellen zweiten Teil „Second Home by the Sea“, wo das Unbewußte der Musiker sich ungestört ausdrücken kann. Wie bei praktisch jeder Instrumentalmusik seit der Wiener Klassik geht es um einen quasi sexuellen Spannungsaufbau bis zu einer orgastischen Entladung. Man kann „hören“ wie sich im Becken Orgonenergie immer mehr konzentriert, sich mit jedem Wellenschlag der Körper windet, es aber schließlich nicht zur befreienden steil aufsteigenden Akme und anschließender Entladung kommt, sondern alles flach in Melancholie versandet: „Bilder des Kummers, Bilder der Freude, Dinge, die ein Leben ausmachen: endlose Tage des Sommers, längere Nächte der Finsternis, Warten auf das Morgenlicht, Szenen der Unwichtigkeit, Fotos in einem Rahmen. Dinge, die ein Leben ausmachen. Wir erleben unser Leben neu in dem, was wir dir erzählen.“

Wir alle leben gefangen im Haus am Meer, während draußen das glückverheißende Meer unerreichbar geworden ist. Jeder „Einbrecher“, jedes dem Meer entstiegene lebendige neugeborene Kind, machen wir zu einem schattenhaften, substanzlosen toten Gespenst, so wie wir selbst es sind. Wir „leben“ nur, indem wir uns gegenseitig mit Geschichten über das Leben vollabern. Ein „Leben“ aus zweiter Hand! Das „Haus am Meer“ ist unsere Panzerung, die uns gefangenhält, d.h. befriedungsunfähig macht. So sitzen wir und sitzen und sitzen in alle Ewigkeit im Haus am Meer – und öden uns gegenseitig mit unseren Geschichten an. Willkommen im Haus am Meer, wo wir unser Leben vollkommen sinnlos vertun und rettungslos verzweifeln, da uns das Leben unwiederbringlich wie der Sand einer Sanduhr durch die Finger rinnt:

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