Manchmal braucht man lange um zu verstehen. Diesen Blogbeitrag hat der geneigte Leser dem Stöbern in meinem Archiv zu danken, wo ich auf einen alten Flyer der „Sigmund Freud PrivatUniversität, Wien“ gestoßen bin. Es geht um eine Veranstaltung zu Reichs 50. Todestag 2007.
Der Soziologe Prof. Dr. Helmut Dahmer führte aus, wie es zu Reichs „Verabschiedung der Psychologie zugunsten einer phantastischen Naturwissenschaft (der ‚Orgonologie‘)“ gekommen sei. Reichs Lehrer Freud hatte sich, so Dahmer, von einem materialistischen Physiologen der Helmholtz-Schule zu einem Kulturkritiker entwickelt, der unsere „seelischen und kulturellen Institutionen“ als „Religionen“ enttarnte. Dahmer weiter: „Seine (Freuds) neuartige Wissenschaft – eine Kritik von Pseudonatur, die sich sowohl von der traditionellen Geistes- wie von den traditionellen Naturwissenschaften unterscheidet – präsentierte er (aus verschiedenen Gründen) auch weiterhin als eine Naturwissenschaft.“ Die „Freudsche Linke“, nicht zuletzt Reich, sei diesem Verständnis der Psychoanalyse als Naturwissenschaft treugeblieben, wobei er, Reich, schließlich „die resignative Abkehr von der Geschichtsphilosophie und die Hinwendung zur Naturphilosophie (…) (wiederholte), wie sie schon für die nachhegelsche Philosophie (Schelling, Feuerbach) im 19 Jahrhundert charakteristisch war“.
Mit großen Bildungsgestus spielt Dahmer die alte Leier der Marxisten: Reich war kein richtiger Marxist, weil er den Menschen unkritisch nicht primär als gesellschaftliches Wesen, sondern als Naturwesen betrachtete. Reich konnte darauf nur antworten, daß er der „Ausdruckssprache des Lebendigen“ folgte, in der sich beides zeigte: die durch die Gesellschaft verformte Pseudonatur, der Freud sein Lebenswerk widmete (Muskelpanzerung, sekundäre Triebe, das komplizierte und verwickelte „Unbewußte“), und die wirkliche Natur (die denkbar einfachen primären Triebe), zu der Leute wie Freud und Dahmer keinen Zugang haben, weil sie von der bunten und verwirrenden Welt der Neurosen und Perversionen in Beschlag genommen werden und sich in dieser behaglich suhlen.
In vieler Hinsicht die Gegenposition zum „Freudo-Marxisten“ Dahmer nimmt Dr. med. Heike Buhl ein, die 2007 am gleichen Ort über „Orgonmedizin in der Praxis“ referierte. Dabei fällt der bemerkenswerte Satz: „Wilhelm Reich entwickelte seinen zunächst psychosomatischen Ansatz im Laufe seines Lebens zu einem energetischen Konzept weiter. Seine Arbeit veränderte sich: nicht mehr der Gefühlsausdruck, sondern die Anregung der selbstregulierten Lebenskraft, die er Orgon nannte, stand nun im Vordergrund.“ Nun, das ist eine der Hauptmißverständnisse der Orgontherapie durch orgonomische Laien: daß der Orgontherapeut von innen her das Lebendige gegen den Panzer mobilisiert. Tatsächlich ist es umgekehrt: der Panzer wird von außen Schichtweise abgetragen, genauso, wie am Anfang jedes Cloudbusting zunächst die Beseitigung des DOR steht, das Aufbrechen der „atmosphärischen Panzerung“, bevor man „mit dem Orgon arbeitet“.
Buhl führt auch aus, daß „der energetische Ansatz“ „im übrigen erstaunliche Parallelen zu den östlichen Energiesystemen des Daoismus aufweist“. Es geht also darum, das „selbstregulierte“ Chi, Prana und vermeintliche „Orgon“ zu unterstützen, auf daß die Selbstregulation sozusagen die Macht im Menschen übernimmt. Nun, das ist keine Wissenschaft, sondern genau die „Religion“, die Freud zu Recht kritisiert hatte. Die vermeintliche reine „Lebenskraft“, die Buhl mobilisieren will, ist erstens geprägt durch die gepanzerte Gesellschaft, etwas, was Reich schon in seinen bioenergetischen Experimenten in den 1930er Jahren feststellte („negative bioelektrische Konditionierung“), und zweitens hatte Reich schon in den 1920er Jahren bei der Weiterentwicklung der Psychoanalyse zur Charakteranalyse festgestellt, daß es nur zu Chaos führen kann, wenn man ohne systematische Widerstandanalyse durch Deutungen die Libido sozusagen direkt anspricht. Die Ausdruckssprache des Lebendigen übergehen zu wollen… – grotesker geht es einfach nicht!
Heike Buhl, die den Menschen nicht als gesellschaftliches Wesen, sondern als Naturwesen betrachtet, präsentiert genau den „orgonologischen“ Strohmann „Wilhelm Reich“, den Helmut Dahmer dann mit überlegener Leichtigkeit umhauen kann.
Übrigens sind die klassische Psychoanalyse und die diversen Therapien der „energetischen Medizin“ durchweg für die Katz, vollkommen sinnlos, wenn nicht kontraproduktiv, weil sie einseitig das energetische Orgonom (Zentrales Nervensystem, Sensationen) ansprechen, so daß der Organismus immer ins orgonotische System (Vegetatives Nervensystem, Emotionen) ausweichen kann, wenn die Therapie das neurotische Gleichgewicht gefährdet. Und genau darum geht es pseudo-progressiven „Antiorgonomen“ wie Helmut Dahmer und Heike Buhl in Wirklichkeit: es soll sich ja nichts verändern, genauso wie sich im daoistischen China über Jahrtausende nichts verändert hat am ständigen Massaker am Lebendigen.
Der Begriff „Psychopath“ bedeutet für viele Menschen mehrere Dinge. Die vielleicht populärste Vorstellung ist die des skrupellosen Hedonisten, der seinen Impulsen nachgeht, ohne das geringste Schuldgefühl oder Skrupel zu haben. In Wirklichkeit ist das Bild viel komplizierter und wird oft mit anderen Diagnosetypen vermischt. Hier kann Reichs Monographie ein beträchtliches Licht auf die Ätiologie und die hervorstechenden Merkmale dieses Typs werfen.
Nach Reich ist das Kennzeichen des Triebhaften ein schwerer Defekt in seiner Fähigkeit, Verdrängungsmechanismen zu nutzen. Er steht dabei im Kontrast zum triebgehemmten Neurotiker, der sich stark auf Verdrängungsmechanismen stützt, um sich gegen den Durchbruch unbewusster Wünsche zu wehren. Der letztere Typus kann Ängste binden, der erstere nicht.
Aber die Fähigkeit, Angst zu binden, wenn auch oft im Dienste der Neurose, zeugt immer noch von einem gewissen Maß an Ich-Reife. Hierin liegt ein zweites Unterscheidungsmerkmal: Der triebhafte Charakter leidet unter schweren Entwicklungsdefekten des Ichs. So ist der größte Teil seiner libidinösen Energie auf einem sehr primitiven Entwicklungsstadium festgelegt und er behält ein übermäßiges Maß an Narzissmus bei. Während sich alle prägenitalen Stadien bis hin zum Phallischen in seiner Struktur widerspiegeln, zeigt er eine extreme Instabilität und Brüchigkeit, ganz anders als jeder andere Typ. Die Fähigkeit zu sinnvollen Objektbeziehungen ist nicht entwickelt. Was an Objekten vorliegt, dient lediglich als Versorgungslieferant. Der Neurotiker zeigt ebenfalls viele prägenitale Komponenten, aber aufgrund seiner Fähigkeit, Energie zu binden, leidet er nicht unter der extremen Instabilität des Triebhaften. Der Triebhafte wird von sekundären (d.h. sadistischen, destruktiven) Trieben bombardiert, die seine unreife Ich-Struktur nicht eindämmen kann, während der Neurotiker in der Lage ist, eine Reaktionsbildung herbeizuführen, die den Durchbruch der antisozialen Triebe verhindert.
Aufgrund der Unreife des Ichs funktioniert der Triebhafte hauptsächlich nach dem Lustprinzip, d.h. sofortiger Befriedigung. Seine Frustrationstoleranz ist sehr gering. Gleichzeitig fehlt ihm aufgrund der gestörten libidinösen Ökonomie die Fähigkeit, Spannungen effektiv abzubauen. In Folge leidet er unter einer übermäßigen Ladungsspannung, die er weder, wie der Neurotiker, binden noch verdrängen kann. Das Ausagieren wird dann zu seiner einzigen Möglichkeit der Entladung.
[Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Charles Konia. Journal of Orgonomy, Jahrgang 7 (1973), Nr. 1, S. 40-58. Übersetzt von Robert Hase]
Um das Verschwörungsdenken zu durchschauen, muß man die Problematik von bio-psychologischer Seite betrachten. Wir sind gezwungen, die Welt als Modell zu erfassen. Bevor der Affe von einem Ast zum anderen springt, muß er erst in einer inneren Bühnenaufführung (ähnlich einem Traum) das ganze durchspielen. So begreifen wir die Welt – als Kasperletheater und nicht als einen funktionellen Zusammenhang. Das wäre nicht so schlimm, wären wir nicht gepanzert und würden uns ob dieser Kontaktlosigkeit nicht ständig paranoiden Unsinn zusammenphantasieren, so als würden wir ständig in der Traumwelt leben, die Freud 1900 analysiert hat. Eine illusionäre Welt, die von unserem Unbewußten (= Panzerung) bestimmt wird – so daß wir, um im obigen Bild zu bleiben, stets den Ast verfehlen. Rationalisiert wird das ganze, weil das Unbewußte tatsächlich den Alltag bestimmt: ständig müssen wir die Motive unserer Mitmenschen (und unsere eigenen!) hinterfragen – ständig wittern wir „Verschwörungen“.
1901 führte Freud das Konzept der „unbewußten Absicht“ in seiner Psychopathologie des Alltagslebens ein, als er etwa anmerkte: „Wenn man die (von ihm dargelegten) Fälle von Verlegen übersieht, wird es wirklich schwer anzunehmen, daß ein Verlegen jemals anders als infolge einer unbewußten Absicht erfolgt.“ Oder er weist auf den Gleichmut hin, mit dem man reagiert, wenn „unabsichtlich“ ein Geschenk zerbricht, das man gar nicht haben wollte, was „wohl als Beweis für das Bestehen einer unbewußten Absicht bei der Ausführung in Anspruch genommen werden (darf)“. Die unbewußte Absicht zeigt sich im nicht zum Malheur passenden Affekt. Das ganze Buch handelt davon, daß „zufällige“ Aktionen letztendlich doch absichtlich erfolgen. Er selbst faßt seine Schrift wie folgt zusammen:
Als das allgemeine Ergebnis der vorstehenden Einzelerörterungen kann man folgende Einsicht hinstellen: Gewisse Unzulänglichkeiten unserer psychischen Leistungen (…) und gewisse absichtslos erscheinende Verrichtungen erweisen sich, wenn man das Verfahren der psychoanalytischen Untersuchung auf sie anwendet, als wohlmotiviert und durch dem Bewußtsein unbekannte Motive determiniert.
Freud schreibt: „Die bisher beschriebenen Handlungen, in denen wir die Ausführung einer unbewußten Absicht erkannten, traten als Störungen anderer beabsichtigter Handlungen auf und deckten sich mit dem Vorwand der Ungeschicklichkeit.“ Das ist bemerkenswert, spricht er doch im Grunde von Panzerung!
Auch Reich spricht von „unbewußter Absicht“ und setzt sie mit einer „charakterlichen Hemmung“ bzw. einer „strukturellen Absicht“ gleich (Äther, Gott und Teufel, S. 80). Auch anderswo kommt bei ihm diese Begrifflichkeit vor: „Die Vermeidung oder zwangsmoralische Beurteilung der Sexualprobleme ist eine absichtliche, wenn auch meist unbewußte Haltung der Erzieherschaft und Ärzteschaft“ (Der Krebs, Fischer TB S. 410).
Das ganze erinnert natürlich an Reichs Darstellung der pestilenten Reaktion. Bei dieser „sind die Motive des Handelns regelmäßig vorgeschoben; das angegebene Motiv deckt sich niemals mit dem wirklichen Motiv, gleichgültig, ob das letzte bewußt oder unbewußt ist“ (Charakteranalyse, KiWi, S. 340f). Der pestilente Charakter agiert unter einem „strukturellen Zwang“ und kommt dabei nie ins Schwanken, was seine Motive betrifft. Ganz anders der neurotische Charakter, der ständig an sich zweifelt, innerlich zerrissen ist und keinen wirklichen Antrieb hat.
Wenn letzterer das obenerwähnte Geschenk in „unbewußter Absicht“ zerbricht, ist das so etwas wie die Kompromißlösung eines Feiglings, der Angst vor klaren Worten und offener Konfrontation hat. Das Geschenk ist „halt kaputtgegangen“. Ganz anders die Reaktion des pestilenten Charakters, der in dem Geschenk vielleicht eine geheime Aggression gegen sich sieht und dich deshalb bestrafen will und auf jeden Fall alles tut, nicht etwa deine Gefühle zu schonen, sondern ganz im Gegenteil dich als Verlierer dastehen zu lassen. Auf der einen Seite haben wir entsprechend die ständig unsicheren und zweifelnden Massen und auf der anderen Seite pestilente Politiker und spinnerte Blogger, die mit Eindeutigkeit und „Weltanschauung“ imponieren.
Im übrigen entsprechen Verschwörungstheorien den Wahngebilden des Animismus und Mystizismus, wobei der Animismus schlicht auf Unwissen beruht, der Mystizismus aif Verzerrung (Panzerung). Entsprechend geht Mystizismus immer mit Faschismus einher.
Gestern habe ich die Frage der Intentionalität offengelassen. Das möchte ich heute nachholen:
Verschwörungstheorien und Orgonomie? Schwierig! Einfach, weil Reich selbst eindeutig „Verschwörungstheoretiker“ war, von wegen „The Red Thread of a Conspiracy“ (Der rote Faden einer Verschwörung), andererseits dieses Denken in Begriffen bewußter Intentionalität der Orgonomie so wesensfern ist. (Wobei natürlich von vornherein zu sagen ist, daß niemand und keine Theorie derartige Verschwörungen jemals wirklich ausschließen kann!)
Die Psychoanalyse war in ihrem Wesen vor allem eine Psychologie, in der es um Bilder, Vorstellungen und Intentionen ging, d.h. um Bewußtsein, das Vorbewußte und vor allem das Unbewußte, das sich aber immer noch mit Hilfe der Sprache ausdrückt. Reich gesamter Ansatz hingegen war es nicht nur jenseits des Bewußtseins, sondern prinzipiell auch jenseits der Sprache zu gehen. Es ging also sozusagen nicht um die „K-a-t-z-e“, sondern um die Katze als „Ding an sich“. Das Unbewußte war entsprechend unmittelbar in der verspannten Muskulatur gegeben, jenseits aller Sprache. Und die Sprache selbst war unmittelbarer Ausdruck von Körperlichkeit, beispielsweise in dem Wort „Hartnäckigkeit“. Psychologie und Soziologie wurden auf Biologie reduziert und die weiter auf Physik bzw. „Biophysik“.
In dieser Weltsicht bleibt kein Platz für eine zentrale Rolle von Intentionalität, dem „freien Willen“, der insbesondere in der Gestalt des „gefallenen Engels“ Satan zum Ausdruck kommt, der dem Vaterunser zufolge mit seinen bewußten Machinationen hinter allem steckt, was in der Welt falschläuft. Auf diese Vorstellung lassen sich wirklich alle Verschwörungstheorien zurückführen, von der „jüdischen Verschwörung“ („die Synagoge Satans“) angefangen. Das Denken der weitaus meisten Menschen auf diesem Planeten wird von diesem Grundmuster („alles läßt sich auf die böse Intention zurückführen“) geprägt, insbesondere in der moslemischen Welt.
Für die Orgonomie gibt es nicht „den Bösen“, sondern nur „das Übel“ der Panzerung, das jeden guten Impuls in sein Gegenteil verkehrt. Mit anderen Worten geht es um Struktur ganz entsprechend dem Marxismus. In Der Mensch im Staat legt Reich größten Wert darauf, daß für Marx die Kapitalisten keine „Teufel“ waren, sondern Menschen, die in einem System gefangen sind, das ihnen selbst keine Wahl, keine Willensfreiheit läßt. Von daher sind alle Verschwörungstheorien über „die bösen Kapitalisten“ null und nichtig bzw. rotfaschistische Propaganda.
Wenn Reich von „Verschwörung“ spricht, dann meint er etwas vollständig anderes: die Emotionelle Pest, d.h. keine intentionale, „gedankliche“ Verschwörung, sondern eine emotionale Verschwörung. Dabei geht es um objektive Strukturen, d.h. die Panzerung, die aus gesunden (primären) Impulsen kranke (sekundäre) Impulse macht, welche für gepanzerte Menschen leider ansprechender (sozusagen naher) sind als die primären (die bedingt durch den Panzer fern, fremd und deshalb nicht ansprechend wirken). Es entwickelt sich entsprechend ein struktureller Zwang „Böses“ (eben „Sekundäres“) zu tun, ähnlich wie bei Marx die Kapitalisten auch bei besten bewußten Intentionen durch das kapitalistische System gezwungen sind, die Arbeitskraft ihrer Mitmenschen auszubeuten.
Die hier erläuterte Unterscheidung mag spitzfindig klingen, entspricht aber dem, wie Reich den Unterschied zwischen ursprünglichem „Arbeiterkommunismus“ und dem späteren roten Faschismus der Sowjetunion beschrieb. Gleicher Art ist der Unterschied zwischen den üblichen Verschwörungstheorien und dem, was Reich mit „The Red Thread of a Conspiracy“ ausdrücken wollte. Ihm ging es dabei nicht um „Verschwörungen“ per se, sondern um „emotionale Verschwörungen“, die auf dem beschriebenen (charakter-) strukturellen Zwang beruhen.