
Als dieser Blogeintrag Januar 2013 erschien, beschäftigt sich in seiner Titelgeschichte der Spiegel (4/2013) mit der grundlegenden Krise der heutigen Psychiatrie. In dem Artikel hieß es: „Wahnsinn wird normal. Neue Kriterien machen aus Alltagsproblemen seelische Störungen. Millionen Menschen werden über Nacht zu psychiatrischen Fällen. Gesundheitsexperten warnen vor der Ausweitung der Behandlungszone.” Die normale menschliche Erfahrung (Trauer, Freude, Haß etc.) wird pathologisiert – während gleichzeitig das Pathologische normalisiert wird insbesondere sexuelle Perversionen und Identitätsstörungen.
Wie der amerikanische Psychiater Dr. med. Charles Konia in seinem Artikel Der Niedergang der modernen Psychiatrie konstatiert, geht es nur mehr um die Behandlung von Symptomen, während die Herstellung emotionaler Gesundheit, wie sie Reich definierte, vollkommen draußen vor bleibt.
Robert (Berlin) antwortete mit einem Link über die Frühzeit der Psychiatrie, der mittlerweile tot ist, aber es wird wohl um die Lobotomie gegangen sein, denn bei der Recherche im Netz stieß ich über den besagten Link auf die erst jetzt publik gewordene Geschichte von Rosemary Kennedy: „Die Schwester des späteren US-Präsidenten John F. Kennedy hatte Lernprobleme, auch an ihrem Sexleben störten sich ihre katholischen Eltern. Ein dubioser Arzt versprach, ihre angebliche psychische Krankheit zu heilen: mit einem Schnitt durch ihr Hirn.”
Als in den 1940er und 1950er Jahren die Psychoanalyse langsam aber sicher die Psychiatrie eroberte, schien dieser Art von Barbarei ein Riegel vorgeschoben zu sein, doch da die Psychoanalyse mit dem Ausschluß Reich 1934 selbst kastriert hatte, verpuffte dieser Ansatz und, wenn man so will, die „chemische Lobotomie“ hielt Einzug in die Psychiatrie. Ich verweise hierzu nochmal auf den oben verlinkten Spiegel-Artikel von 2013.
O. kommentierte:
Die Hysterie gibt es nach wie vor mit fast all ihren Symptomen nur unter anderen Namen im ICD. Sie ist keine Einbildung von Charcot, Freud oder Reich gewesen.
Die fiesen Methoden der Psychiatrie gibt es auch zum Teil noch: EKT, Fixierungen, Zwangsjacken und Psychopharmaka, die schlecht eingestellt sind.
Bei entsprechend „dämlicher“ Behandlung gibt es auch Todesfälle in der Psychiatrie, wie zu Charcots Zeiten, entsprechende Statistiken sind mir nicht bekannt und werden wohl auch nicht veröffentlicht. Beispielweise verstarb meine Großmutter nach wenigen Wochen aufgrund von Dauerfixierung, Bewegungsmangel und künstlicher Ernährung.
Nach dem die Psychiatriereform alle Dauerpatienten plötzlich entlassen hatte, die Betten reduziert wurden, ist die psychiatrische Behandlung in Deutschland sichtbar besser geworden und ähnelt nicht mehr einem „Zuchthaus“. Dennoch sind EKT (Elektroschocktherapien) und Fixierungen gängige Praxis und werden an Universitäten umworben und gelehrt.
Und weiter O.:
Ein anderer Spiegelartikel (vermutlich von dieser Woche) unterstellt die Zunhame von psychischen Erkrankungen würde durch das DSM 5 und das kommende ICD begünstigt. Die APA, in der auch Psychopharma-Vertreter mitwirken, würde Diagnosen „erfinden“, um ihre Medikamente in großem Stil verkaufen zu können. Eine sehr plakative These, wie ich finde. Man würde einen Großteil von psychisch „normalen“ Patienten jetzt Diagnosen verpassen und sie medikamentös behandeln wollen.
Hier wird nicht reflektiert, was die neue Arbeitswelt mit den Menschen gemacht hat. Leider gibt es auch immer mehr Menschen, die nicht mehr bis zur Rente arbeiten wollen, da sie keine adäquate Arbeit für sich finden oder die zu schlecht bezahlt wird. Das Heraufsetzen des Rentenalters bewirkt außerdem, dass immer mehr Leute ihre positive Arbeitshaltung verlieren und sich dem Arbeitsmarkt innerlich verweigern. Ab 50 wird vermehrt an die Rente gedacht. Ab 60 ist kaum einer noch zu motivieren. Diesem Beispiel folgen auch schon jüngere. Die Angebote des Arbeitsamtes sind völlig inakzeptabel, eine Vermittlung findet hier quasi nicht statt. [Robert (Berlin) verweist darauf, daß hier die Jobcenter die wirklichen Übeltäter sind.] Das Arbeitsamt kann man im Grunde schließen. Und Jugendliche ohne Abitur beginnen gleich mit Hartz IV Jobs wie Kranken- und Altenpfleger.
Viele Menschen sehen sich eben nicht mehr nur als körperlich leidend an, sondern fordern psychische professionelle Hilfe durch Psychologen. Sie warten hierfür bis zu einem Jahr auf die Therapie und bekommen dafür nur VT oder Tiefenpsychologie in der Kurzform.
Eine Verbesserung dieser Situation ist nicht in Sicht, von daher sollen wohl doch die Pillen alles richten, was sie nicht tun. Die Rehabilitationseinrichtungen der Rentenversicherungen rüsten nun auf: weg von der Psyche, hin zur Arbeitswelt orientierten Medizin.
Robert (Berlin):
Psychiater bezeichnen Non-Konformität als Geisteskrankheit: Nur die Herdenmenschen sind »vernünftig«
Die moderne Psychiatrie ist zur Brutstätte der Korruption geworden, insbesondere die Strömung, die jeden verteufeln und für geisteskrank erklären will, der von der allgemein anerkannten Norm abweicht. Das geht eindeutig aus der neuesten Ausgabe des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders [Diagnostisches und Statistisches Handbuch Psychischer Störungen, ein Klassifikationssystem der Amerikanischen Psychiater-Vereinigung] oder kurz DSM hervor, in der Menschen, die nicht konform gehen mit dem, was die Verantwortlichen für normal erklären, als geisteskrank eingestuft werden
Der ursprüngliche Link, den Robert präsentierte, funktioniert nicht mehr. Dies ist inhaltlich aber identisch: Psychiater bezeichnen Non-Konformität als Geisteskrankheit: Nur die Herdenmenschen sind »vernünftig« – Jonathan Benson | Light up Reader
Schließlich gab ich selbst zwei Jahre später meinen Senf hinzu:
In der New York Times wird der Niedergang der Psychiatrie diskutiert, die immer noch mit den Mitteln, die Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre entdeckt wurden, hantiert, auf der Stelle tritt und die Psychotherapie und deren Weiterentwicklung sträflich vernachlässigt.
In Deutschland ist es, was die psychotherapeutische Ausbildung der Psychiater betrifft, vielleicht etwas besser bestellt, doch die neuen Psychiater lernen jetzt fast immer VT, während die Psychodynamik als „unwissenschaftlich“ mehr und mehr verpönt ist. Bald wird der Ödipuskomplex wieder ein großes Geheimnis sein.
In dem Artikel Psychiatry’s Identity Crisis von Richard A. Friedman vom 17. July 2015 heißt es: „Die amerikanische Psychiatrie steht vor einem Dilemma: Trotz enormer Investitionen in die neurowissenschaftliche Grundlagenforschung und deren vielversprechende Ergebnisse haben wir an der Behandlungsfront wenig vorzuweisen.“
Schlagwörter: Pharmaindustrie, Psychiatrie, psychiatrische Versorgung, Psychopharmaka, Psychotherapie
10. September 2025 um 09:37 |
Kann ich leider nur bestätigen. In Reha-Kliniken soll es nur noch VT Psychologen geben. Weil billiger und schneller. Der Ödipus-Komplex spielt aber schon länger in der Psychoanalyse keine Rolle mehr.
12. September 2025 um 02:28 |
In der Reha sind für die individuelle „Therapie“ genau maximal 120 Minuten (neben Gruppenarbeit) vorgesehen und alle Verwaltungsarbeiten müssen in der Zeit auch noch gemacht werden. Patienten wünschen sich in dieser Zeit eine komplette psychotherapeutische Behandlung. Das das nicht funktionieren kann, auch und schon gar nicht mit VT oder Tiefenpsychologie, dürfte eigentlich nicht verwundern. Wer sich nicht selbst (vorher und nachher) um seine psychische Gesundheit kümmert, kann doch nicht in 5 Wochen erwarten, dass hier alles für ihn geklärt werden könnte. Maximal können motivierte und mitarbeitende Patienten durch erfahrene Therapeuten sich hier eine neue Orientierung für sich abholen und erarbeiten, dann hätte sich der Aufenthalt schon gelohnt. Das Ziel einer Reha ist es, trotz Erkrankung sich möglichst schnell wieder auf dem Arbeitsmarkt oder im Arbeitsleben wieder zurecht zu finden. Es ist nicht das Ziel sich hinter einer „ich kann nicht mehr“-Haltung zu verbarikadieren und zu ewarten, dass die Allgemeinheit die Kosten dafür übernimmt. Wenn in der Reha festgestellt wird, dass jemand aus medizinischen/ psychosomatischen Gründen nicht mehr arbeiten kann, erst dann wird er als zeitbegrenzt erwerbsgemindert eingestuft.
Diese Einschätzung erfolgt nicht durch den Hausarzt, den Psychiater oder durch die ambulante / (teil-)stationäre Psychotherapie, auch nicht durch den med. Dienst einer Krankenkasse oder der Agentur für Arbeit.
Bestenfalls kann ein externes sozialmedizinisches Gutachten von der DRV bestellt werden, welches evtl. nochmals durch eine Reha überprüft wird. Erst dann entscheidet die Rentenversicherung über ein Vorliegen einer Erwerbsminderung.