Nach Reichs Tod Ende 1957 sah es denkbar finster für die Orgonomie aus. Gerettet wurde sie vom „Aufbruch der 60er Jahre“. Die Menschen wollten sich von den alten rigiden Strukturen befreien. „Bewegung“ war das Zauberwort. Hier kam Reich wie gerufen. Wie kein anderer war er dazu prädestiniert, dieser Grundtendenz des Aufbruchs Stimme zu geben:
Entsprechend blühte die Orgonomie: Konferenzen, Universitätskurse, zahlreiche Forschungsprojekte, immer neue Zeitschriften und Bücher, Medizinstudenten interessierten sich für eine Laufbahn als medizinischer Orgonom, etc.
Obwohl die Eigendynamik dieses Aufbruchs vielleicht noch ein oder eineinhalb Jahrzehnt nachwirkte, kam es mit Anbruch der 1980er Jahre zu einem vollkommen unerwarteten Einbruch. Es begann das 30 Jahre andauernde finstere Mittelalter der Orgonomie. Es war, als ob in den 1980er, 1990er und 2000er Jahren für die Orgonomie kein rechter Platz mehr vorhanden war. Das Interesse und Engagement nahm rapide ab, für größere Aktivitäten fehlte die Nachfrage und es wurden in dieser Zeit kaum neue medizinische Orgonomen ausgebildet. Heute fehlt eine ganze Generation medizinischer Orgonomen!
Was war geschehen? Die Orgonomie war überflüssig geworden! Die alten Strukturen waren erstaunlich schnell zerfallen und die Botschaft von „sexueller Befreiung“ und Infragestellung der Autoritäten auf allen Ebenen war kein unwiderstehliches Faszinosum mehr, sondern wirkte eher schal und abgeschmackt. Leute, die „auf der Suche“ waren, wandten sich eher „spirituellen Pfaden“ zu und „kritischen Geistern“ ging es nun darum auch noch die letzten Festungen der „repressiven Genitalität“ zu schleifen. Mit Leuten wie Michel Foucault konnte Reich einfach nicht mehr mithalten.
Während dieser finsteren Jahrzehnte war die Orgonomie natürlich alles andere als untätig. Tatsächlich ist sie in dieser Zeit erst richtig zu sich selbst gekommen. Die Orgonometrie, die vorher kaum existierte, wurde ausgebaut, die soziale Orgonomie wurde zu einem eigenständigen Bereich, der an Bedeutung der medizinischen Orgonomie in nichts nachsteht, und die Orgontherapie hat ihre wahrscheinlich endgültige Form erhalten. Waren die ersten 20 Jahre vor allem von Elsworth F. Baker geprägt, so die letzten 30 Jahre von Charles Konia.
Gegenwärtig sind wir Zeitzeugen des Beginns einer dritten Phase in der Entwicklung „der Orgonomie nach Reich“. Der Zerfall der antiautoritären Gesellschaft ist vorangeschritten und hat derartig katastrophische Ausmaße erreicht, daß die jungen Menschen heute im allgemeinen entropischen Chaos nach Struktur, Orientierung und Halt suchen:
Nach ihrer Konsolidierung unter Charles Konia steht die Orgonomie unvermittelt als zutiefst konservative Kraft da, die sich nie vom Zeitgeist der „Genderstudien“, „Dekonstruktion“, Political Correctness, Verharmlosung, wenn nicht sogar Glorifizierung „weicher Drogen“, vermeintlicher „Esoterik“ und all dem anderen Unsinn hat korrumpieren lassen. Sie hat sich nie der jeweiligen „Jugendkultur“ angebiedert. Die Orgonomie wirkt wie der letzte Hort geistiger und emotionaler Gesundheit und Klarheit, wie die letzte Festung der Integrität, wie der letzte Halt vor dem Fall in den Wahnsinn.
Das ist zwar eine grundsätzlich andere Situation als in den 1960er und 1970er Jahren, trotzdem hat die Orgonomie wie damals wieder eine gesellschaftliche Funktion inne. Uns allen steht eine Zeit ungeahnter und aus der Natur der Sache heraus diesmal zeitlich nicht begrenzter Blüte und Expansion bevor. Die erste Gleichung steht für Zerfall, die zweite für Dauer.
Schlagwörter: 60er Jahre, autoritäre Strukturen, Dekonstruktion, finsteres Mittelalter, Genderstudien, Jugendkultur, Michel Foucault, political correctness, sexuelle Befreiung


5. September 2012 um 12:56 |
Was denkst Du über Ingo Diedrichs Ansatz, der sich ebenfalls auf die Funktionen von Bewegung und Struktur stützt?
http://www.orgonomische-sozialforschung.de/Sonst_Sex.htm
Ist seine Gegenüberstellung von Pulsation auf der einen Seite, Erstarrung in Kontraktion bzw. Expansion auf der anderen Seite sinnvoll? Intuitiv erscheint mir seine Formulierung „Erstarrung in der Expansion“ merkwürdig, da die beschriebenen Phänomene ja auf den ersten Blick nicht direkt „starr“ sind, sondern eher zerfahren und überdynamisch (er schreibt ja auch etwas von „heftigem Ausdruck“).
Und eine weitere Frage: können die akademischen Arbeiten zu Reich/Orgonomie, die während des „finsteren Mittelalters“ immerhin entstehen konnten, etwas zur Revitalisierung der Orgonomie beitragen? Ich denke da an Müschenich, Hebenstreit (gerade die neue Dissertation), Diedrich und Hellmann?
5. September 2012 um 16:13 |
Mir ist das alles nicht sauber genug 😉
Beispielsweise wird die lebendige Pulsation mit dem energetischen Orgonom illustriert, chronische Kontraktion und Expansion aber mit dem orgonotischen System. Sozusagen ein „Kategorienfehler“.
Gesundheit bedeutet nicht eine mechanisch ausgewogene Kontraktion/Expansion, sondern es liegt eine leichte Parasympathikotonie vor. Man betrachte nur eine Katze! Krankheit ist immer chronische Sympathikotonie. Dagegen kann der Körper reagieren, ähnlich wie er sich etwa in einem Erstickungsanfall heftigst wehrt. Das ist dann eine krankhafte Parasympathikotonie, etwa Asthma.
Die Orgonomie ist doch nie zu sich selbst gekommen. Erst die Zeit Reichs, der immer Neues „auf den Markt geworfen hat“, bevor seine Schüler das alte überhaupt verdauen konnten. Nach der kurzen Schockstarre infolge seines Todes wieder eine manische Phase. Die letzten 30 Jahre waren einfach notwendig, um erstmal alles sacken zu lassen und die Spreu vom Weizen zu trennen.
Jetzt kann sich eine neue Generation unaufgeregt daran setzen, die Sache lebendig zu halten.
6. September 2012 um 02:21 |
Nachdem ich meinen in 2 Stunden verfassten Kommentar in den Äther des kollektiven Unbewußten geschossen habe, … kürze ich eine Widerholung damit ab, dass ich die Worte von Peter Nasselstein hiermit unterstreiche bezogen auf den deutschen WR-Markt.
„Jetzt kann sich eine neue Generation unaufgeregt daran setzen, die Sache lebendig zu halten.“ PN
Akademische Arbeiten im engen Denkrahmen de Lassekschen Pulsationsphilosophie (vgl. Hellmann, Hebenstreit) bringen neben der falschen Sichtweise nur Erstarrung im eigenen Denken, statt selbst im Kleinen etwas zu entwickeln und seine Gedanken in Artikeln, Blogs oder wie auch immer zu präsentieren.