Die „Kulturdebatte“ zwischen Reich und Freud am Beispiel der Bundesliga

Frei nach Freud „geht die Kultur“ vor, was die Erziehung unserer Kinder betrifft. Alles, was ich als Kind wollte, war von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang durch das wilde Billwerder-Moorfleet streunen, mit meinen Spielkameraden ein haarstreubendes Abenteuer nach dem anderen zu bestehen. Aber die Wilden müssen ja zivilisiert werden und zur Schule gehen. Dabei zahlt die Gesellschaft einen hohen Preis dafür, daß sie Kinder in stinklangweilige Schulen preßt. Wir hatten immerhin noch lange Nachmittage zur freien Verfügung und unsere Eltern waren heilfroh uns nicht zu sehen. Heute ist das Leben der Kinder lückenlos durchorganisierter als das von Sträflingen!

Wie immer, wenn der gepanzerte Mensch etwas unternimmt, kommt am Ende so ungefähr das Gegenteil des Intendierten dabei raus. Die Menschen sollen auf die Erwachsenenwelt vorbereitet werden, doch tatsächlich bleiben die Erwachsenen infantil, weil sie die entsprechenden Strebungen in ihrer Kindheit nicht ausleben konnten. A.S. Neill, Gründer von „Summerhill“ und Freund Reichs, schreibt dazu:

Ich wollte, es ließe sich genau bestimmen, wieviel Schaden Kindern zugefügt wird, die man nicht spielen läßt, wie sie möchten. Ob die Menschenmassen, die den professionellen Fußballspielen zuschauen, nicht insgeheim ihren gehemmten Spieltrieb ausleben wollen, indem sie sich mit den Fußballern identifizieren, sie sozusagen stellvertretend für sich spielen lassen? Die meisten unserer ehemaligen Schüler gehen nicht zu Fußballspielen. (Neill: Theorie und Praxis der anti-autoritären Erziehung, Fischer TB, S. 79)

Offenbar konnte ich mich einigermaßen ausleben, denn mein aktiver und passiver Spieltrieb geht gegen null. Um so mehr befremden mich Menschen, die praktisch ihre gesamte so überaus kostbare Zeit mit Kinderspielen verbringen, etwa War of Soundso – oder wie die Videospiele immer heißen mögen, oder gebannt zuschauen, wie 22 „Männer“ einem Lederball hinterherlaufen.

Das, was die Gesellschaft an, wenn man so sagen kann, „Menschenzeit“ gewonnen hat, als sie Kinder vom „sinnlosen“ Spielen abgehalten hat und mit Polizeigewalt (sic!) auf Schulbänke preßte, verliert sie zigfach an den ganzen infantilen Schwachsinn, der für die meisten Menschen ihr wichtigster, wenn nicht einziger Lebensinhalt darstellt.

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10 Antworten to “Die „Kulturdebatte“ zwischen Reich und Freud am Beispiel der Bundesliga”

  1. claus Says:

    Aus der Seele gesprochen. Ich spiele nur noch bei Verwandtenbesuchen in Altenheimen.
    Und die studentische Jugend (Nichten, Neffen): spielt allen Ernstes Kartenspiele, in denen es darum geht, ‚Nazis‘ zu ’schlagen‘.

  2. Frank Says:

    Tolle Analyse, Neill und Nasselstein, danke!

  3. claus Says:

    Kann man schlicht sagen: Nach Reich: Wo Ich ist, soll Es werden.
    ?

    • Sven Says:

      Genau andersrum z.B.: Hunger (Trieb/Es) -> Appetit -> Ich esse -> Ich bin satt und zufrieden. In der Reihenfolge also Spannung, Ladung, Entladung, Entspannung (Verdauung).

      „Wo Es war, soll Ich werden“

    • Peter Nasselstein Says:

      Was Claus sagt ist RUNDSÄTZLICH falsch und was Sven sagt – m,E, hat sich da, for lack of a better term, ein „Kategorienfehler“ eingeschlichen.

      Das mit „Wo Ich ist, soll Es werden“ ist voll Reichianisch! Habe ich alles ausgeführt hier:

      http://www.orgonomie.net/hdobespr2.htm#10.

      WO ÜBER-ICH WAR, SOLL ICH SEIN!

      • Zeitgenosse Says:

        Sind diese Begriffe Über-Ich, Es usw.nicht Hilfskonstrukte der Freudschen Psychoanalyse und mit den Entdeckungen Reichs nicht obsolet geworden?

      • Peter Nasselstein Says:

        Ja, aber sie sind in bestimmten Zusammenhängen brauchbar. Etwa bei der Ausbildung von Orgontherapeuten. Es ist weitaus einfacher und eindeutiger zu erklären, ob etwas vom Es her oder vom Ich her gedeutet werden soll (etwa wenn ein Patient drängend mit Träumen kommt), als da nach Worten ringen zu müssen, um dem angehenden Orgontherpeuten die Zusammenhänge auseinanderzusetzen. Ohne diese Begriffe kriegt man da einen Knoten im Gehirn! Zweitens ist das schlicht und ergreifend eine Sprache, die fast jeder versteht. Selbst Laska hat das Wort „Über-Ich“ genommen, um zu kommunizieren. Ich wüßte gar nicht, wie ich ohne das Wort „Ichideal“ bestimmte Dinge erklären sollte.

      • claus Says:

        „Orgonomisch steht das Ich für die Koordination aller Organempfindungen. Das Ziel der Orgontherapie ist es, diese durch die Panzerung (= Über-Ich) gestörte Koordination wiederherzustellen, damit es in der Genitalen Umarmung zur einheitlichen orgastischen Konvulsion kommen kann (wobei sich das Ich zeitwillig auflöst – um gestärkt wiederzuerwachen). Wo Über-Ich war, soll Ich sein!“
        Ist „Es“ dann gar nicht mehr brauchbar, oder erlaubt der Jargon so etwas zu sagen wie, dass das Es dann nicht mehr im Widerspruch zum Ich steht?

        • claus Says:

          „Wo Es war, soll Ich werden“ war ja Freud.
          An „Sind diese Begriffe Über-Ich, Es usw.nicht Hilfskonstrukte der Freudschen Psychoanalyse und mit den Entdeckungen Reichs nicht obsolet geworden?“ ist sicher etwas dran und an „Ohne diese Begriffe kriegt man da einen Knoten im Gehirn!“ sicher auch.
          „Das mit ‚Wo Ich ist, soll Es werden‘ ist voll Reichianisch!“ – hemmungslos Fuckifuckiinbaracki und Charles Manson.
          Wer es mit der Theorie ernst meint, kann sich wohl keine Verkürzung erlauben.

        • Peter Nasselstein Says:

          Das Grundproblem mit dem Es ist, daß die Psychoanalytiker nicht zwischen primären und sekundären Trieben unterschieden haben.

          Ich bin mir etwas sehr unsicher, aber was solls: ähnliches läßt sich über das Über-Ich sagen. Es gibt einen Unterschied zwischen „Gewissen“ im Sinne verinnerlichter elterlicher Dressur und Gewissen im Sinne von, daß man sich für das Gute (die primären Triebe) entscheidet, statt den bequemen Weg „in die Verdammnis“ zu gehen.

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