Der orgasmische Affe (Teil 2)

Die im ersten Teil angeschnittene für die Orgonomie so fremde „negative Beurteilung“ unserer entwicklungsgeschichtlichen Vorfahren wird durch Meldungen wie die folgenden beiden unterstützt, die den braven Reich-Anhänger ziemlich blaß aussehen lassen:

Bei Männern der Gattung Homo sapiens baut der Sexualakt im allgemeinen Aggressionen ab, Mäuse-Männchen dagegen werden danach erst richtig wild. In den ersten drei Wochen nach einer Kopulation töten sie alle neugeborenen Mäuse, die ihnen in die Quere kommen. Nach dieser Frist werden aus den Kinderkillern fürsorgliche Väter. Gesteuert wird das bizarre Verhalten nach Ansicht von Biologen der University of Missouri durch eine innere Uhr. Der Timer, der jeweils nach einer Ejakulation in Gang gesetzt wird, ließ sich im Labor (durch künstliche Veränderung von Tag- und Nachtrhythmen) verlangsamen oder beschleunigen. In der Natur läuft die neurale Uhr, synchron mit der Tragzeit einer Maus, nach drei Wochen ab. (Spiegel 33/90, S. 181)

Die amerikanische Psychobiologin Nancy Ostrowski vom National Institute of Mental Health hat festgestellt, daß körpereigene Abwehrsystem von Goldhamstermännchen sei „noch Wochen nach einer heftigen Kopulationsserie stark in Mitleidenschaft gezogen – sie erkranken leichter als Artgenossen, deren Geschlechtstrieb schwächer ausgeprägt ist“. Sexuell aktive Männchen, denen man körperfremdes Protein spritzte, konnten deutlich weniger Antikörper mobilisieren und Killerzellen bilden, als jene Hamstermännchen, denen man ein Sexualleben verwehrte (Spiegel 50/89). Es ist allgemein bekannt, daß Säugetiermännchen, die als einzige Männchen ein regelmäßiges Sexualleben haben, durch den Streß, der dadurch entsteht, daß sie ständig ihre Macht gegen Konkurrenten verteidigen müssen, früher an der „Managerkrankheit“ sterben als ihre erfolglosen Konkurrenten. Sowas bezeichnet man kurioserweise als „Zivilisationskrankheit“.

Reich ging es immer darum, den Menschen von der Zivilisation zu befreien und wieder zum Tiersein zurückzuführen, zum „Menschentier“ (ein Begriff, den übrigens auch Freud, wenn auch mit entgegengesetzter Tendenz, benutzt, ebenso Nietzsche). Der Mensch solle sich als Tier bekennen, um zur sexuellen Gesundheit zurückzufinden. Er, Reich, habe „nur eine einzige Entdeckung gemacht: die Funktion der orgastischen Plasmazuckung“ (Äther, Gott und Teufel, S. 3), die nur bei einem einzigen Tier, nämlich dem Menschen, nicht erfüllt werde – weil dieses Tier vor seinem Tiersein flüchte. Es gelte zum sexuell unverdorbenen Tier in uns zurückzukehren.

Der Orgasmusreflex sei „neben der Atmung die wichtigste Bewegungserscheinung im Tierreich“ (Charakteranalyse, S. 482). Folglich, wenn der Orgasmusreflex in der ganzen Tierwelt auftritt, muß die Genitalität in der Tierwelt allgegenwärtig sein. Konkret vergleicht Reich die orgastische Zuckung mit der von einer „Akme“ begleiteten Ausstoßung des Laichs bei Fischen und des Spermas bei Landtieren (Charakteranalyse, S. 518). Doch kann man dies wirklich mit dem menschlichen Orgasmus und seinem spezifischen Reflex gleichsetzen?

Die meisten Menschen wissen nicht, daß es beim Orgasmus zu einer reflexartigen Zuckung kommt. Dies kann man aus persönlichen Gesprächen schließen. Er wird auch in all dem Aufklärungszeugs, mit dem wir seit den 1960er Jahren überflutet werden, nirgends erwähnt. Vielleicht hat die „Sexuelle Revolution“ sogar bewirkt, daß viele Menschen diesen Reflex, bzw. den Beckenreflex, willentlich zurückhalten, weil es nicht „normal“ ist oder der Körper den Genuß stört, „da Sex sich ja sowieso nur im Kopf abspielt“ und die Lust durch Kontrolle der Beckenbodenmuskulatur prolongiert werden könne.

An der Orgasmuszuckung ist nichts Geheimnisvolles, denn sie ist den Krämpfen beim Nießen oder beim Erbrechen ähnlich. Aber andere krampfartige Erscheinungen, wie das Lachen, treten beim Tier nicht auf. Bei einer Erregung „oberhalb der Toleranzgrenze“ lachen wir – das Tier nicht (Baker: Der Mensch in der Falle, S. 105). Schon LaMettrie meinte: „Das Lachen ist es, was den Menschen vom Tier unterscheidet“ (Anti-Seneca, S. 102).

Ist die Genitalität also vielleicht doch nicht in der Tierwelt allgegenwärtig? Warum hat Reich sich bei seinen bioelektrischen Experimenten, wo es mehr denn nahe gelegen hätte, nicht mit höheren Tieren beschäftigt? Ließ er sie mehr oder weniger instinktiv als „orgastisch fragwürdig“ bei Seite und griff lieber direkt zum „Urtier“ zurück? Es gibt bei Reich Stellen, die dies nahelegen:

Die Lösung (der) segmentären Panzerung setzt Ausdrucksbewegungen und plasmatische Strömungen frei, die von den anatomischen Nerven- und Muskelanordnungen des Wirbeltieres unabhängig sind. Sie entsprechen weit mehr der peristaltischen Bewegung eines Darms, eines Wurms oder eines Protisten. (Charakteranalyse, S. 515f)

Die Ausdrucksbewegungen im Orgasmusreflex sind funktionell identisch dieselben wie die einer lebenden und schwimmenden Qualle. (ebd. S. 517f)

Die Ausdrucksbewegung des Orgasmusreflexes bedeutet (…) eine (…) aktuelle Mobilisierung einer biologischen Bewegungsform, die bis zum Quallenstadium zurückreicht. (ebd. S. 518)

Die Qualle ist bei Reich das Paradebeispiel für die zuckungsartige gesamtorganismische Pulsation des Orgasmusreflexes; umgekehrt zeige sich, so Reich, beim menschlichen Orgasmus die „Quallenfunktion“. Reich weiter:

Wir werden uns mit dem Gedanken befreunden müssen, daß es sich hier nicht etwa um tote, archaische Überreste der phylogenetischen Vergangenheit, sondern um höchst aktuelle, bioenergetisch höchst bedeutsame Funktionen im hochentwickelten Organismus handelt. Die primitivsten und die höchstentwickelten plasmatischen Funktionen bestehen nebeneinander und funktionieren wie ineinandergeschaltet. Die Entwicklung komplizierter Funktionen im Organismus, die wir „höher“ nennen, verändert nichts an Existenz und Funktion der „Qualle im Menschen“. Es ist gerade diese Qualle im Menschen, die seine Einheit mit der niedrigen Tierwelt darstellt. (Charakteranalyse, S. 519)

Die Pulsation läßt sich beim Einzeller

an den rhythmischen Kontraktionen der Vakuolen oder an den Zuckungen und schlangenartigen Bewegungen des Plasmas leicht beobachten. Beim Vielzeller sehen wir sie vor allem am Gefäß-System. Hier tritt die Pulsation im Pulsschlag klar hervor. Sie läuft an den verschiedenen Organen (…) verschieden ab. Am Darm erscheint sie als in distaler Richtung verlaufende Kontraktions- und Expansionswelle, als „Peristaltik“. An der Harnblase funktioniert die biologische Pulsation auf den Reiz der mechanischen Expansion durch Harnfüllung. Sie funktioniert in der Muskeltätigkeit, in den quergestreiften Muskeln anders als in den glatten, dort als Zuckung, hier als wellige Peristaltik. In der orgastischen Zuckung erfaßt die Pulsation den Gesamtorganismus („Orgasmusreflex“). (Der Krebs, S. 169f)

Die Frage ist nun, ob man die konvulsorischen Zuckungen, die Entladung und Entspannung begleiten, nur bei Zellteilung und menschlichem Orgasmus findet, jedoch nicht im übrigen Tierreich. – Nochmals: Selbstverständlich wird auch das übrige Tierreich von der Orgasmusformel bestimmt und in diesem Sinne ist die Genitalität phylo- und ontogenetisch allgegenwärtig, doch im Speziellen, d.h. im Sinne der Koordinierung der verschiedenen Teilpulsationen zu einer den gesamten Organismus als Einheit erfassenden Plasmazuckung hat die Genitalität eine Entwicklungsgeschichte.

Die Genitalität, die Reich beim Menschentier und der Zellteilung von Protozoen entdeckte, ist bei den restlichen Tieren nicht zu finden. Vielmehr ist eine Entwicklungslinie, wie sie implizit schon die Psychoanalyse vertreten hat, von den primitivsten Formen der Prägenitalität niederer Metazoen bis zur schließlichen Genitalität beim Menschentier aufzufinden, das deshalb der generische Genitale Charakter ist. Wir stoßen also nicht einfach auf die Genitalität, sondern auf deren Entwicklung, wenn wir auf die Affen und weiter zurückgehen.

Genauso wie die Orgasmusformel die Trennungslinie zwischen lebender und nichtlebender Natur markiert, kennzeichnet die Genitalität die Trennungslinie zwischen Menschentier und Tier. Reich hat diesen zweiten Trennungsstrich vermieden, indem er den Orgasmusreflex von der Genitalen Umarmung trennte und schon in der Körperhaltung und Bewegung der Wirbeltiere verwirklicht sah. Es sei nochmals die Frage gestellt: Warum hat Reich den Orgasmusreflex nicht im Sexualleben der Tiere nachgewiesen? Was doch angesichts des gepanzerten Menschen naheliegend gewesen wäre!

Trotz jahrelanger Suche ist es mir nicht gelungen, zur Beschwichtigung der vom im ersten Teil zitierten „Bioenergetiker“ bei mir hervorgerufenen schmerzlichen Zweifel einen Beleg dafür zu finden, daß der Orgasmusreflex bei Tieren auf dem Höhepunkt der geschlechtlichen Vereinigung auftritt. Wer diese Aussage widerlegen will, soll es versuchen.

Tiere haben offensichtlich ähnliche sexuelle Bedürfnisse wie der gepanzerte Mensch (sie masturbieren, wenn sie in Gefangenschaft allein sind, etc.), aber man kann keine orgastische Reaktionen finden, die dem entsprechen, was Reich für den orgastisch potenten Menschen beschreibt.

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7 Antworten to “Der orgasmische Affe (Teil 2)”

  1. Avatar von Robert (Berlin) Robert (Berlin) Says:

    Sexuelle Praktiken bei Säugetieren
    Betrachtet man die gesamte Klasse der Säugetiere, ist wohl die häufigste sexuelle Praktik der vaginale Geschlechtsverkehr in der a tergo Stellung und im weiteren Sinne Balzrituale, also fortpflanzungsorientierte Techniken. Evolutionsforscher bewerten die selten beobachtete Missionarsstellung (Gesicht zu Gesicht) teilweise als progressives Spezifikum, da sich bei der Zuwendung der Gesichter leichter die Emotionen des Partners erkennen lassen und entsprechende Reaktionen möglich sind. Die Missionarsstellung findet sich vereinzelt auch im Tierreich bei den Hominiden, insbesondere unter den Bonobos.

    Häufig kommt bei Säugetieren ein oraler Kontakt mit Geschlechtsteilen und Afterbereich vor. Biologen haben außerdem ein gewisses Maß an homosexueller Praxis bei allen beobachteten verschiedengeschlechtlichen Arten festgestellt, manchmal als Ersatzhandlung bei Mangel an paarungsbereiten gegengeschlechtlichen Individuen. So versuchen sich paarungsbereite Stiere bei Mangel an Kühen zuweilen gegenseitig zu besteigen. Bei manchen Affenarten ist die eigene sowie gegenseitige Stimulation der Geschlechtsteile üblich – unabhängig davon, ob das andere Tier fremd- oder gleichgeschlechtlich ist, etwa bei den Bonobos. Es gibt mittlerweile zahlreiche Beobachtungen und Belege darüber, dass das Sexualleben bei vielen Tierarten äußerst kreative Komponenten hat, mitunter kurios anmutende: so die nasale Penetration bei Delphinen oder bei der Vogelart Büffelweber die Stimulation der Genitalien des Weibchens durch das Männchen mit Hilfe eines speziellen Pseudophallus (unechter Phallus) aus Bindegewebe, der nicht der Spermienübertragung dient.

    http://de.wikipedia.org/wiki/Sexualpraktik

    Es gilt als erwiesen, dass bei vielen Säugetieren ein Reflex während der Begattung den Eisprung auslöst, so vor allem bei Raubtieren, Nagetieren und Hasenartigen. Wissenschaftlich bisher nicht nachgewiesen ist hingegen, ob bei Tieren ein Orgasmus stattfinden kann. Es gibt jedoch Hinweise, die auf ein mögliches Orgasmuserleben bestimmter Tiere hindeuten.

    Bekannt ist die Reaktion der Hauskatzen und der Falbkatzen, die bei einer sexuellen Stimulation oft lautstark schreien. Das Schreien ist jedoch nicht zwangsläufig ein Anzeichen eines Orgasmus, es könnte auch Schmerz ausdrücken, der durch den bedornten und mit Widerhaken besetzten Penis des Katers verursacht sein könnte. Auch bei einigen anderen Wirbeltierarten begleiten Laute den Paarungsakt. Besonders eindrucksvoll sind die Laute der Breitrandschildkröte und des Igels, die zuweilen an menschliche Schreie oder menschliches Stöhnen erinnern.

    Neben Lautäußerungen wurden bei verschiedenen Tierarten weitere Vorgänge beobachtet, die auf einen Orgasmus hinweisen könnten, wie rhythmische Zuckungen des Körpers, kurzfristige Erstarrung der Mimik, nachfolgende Entspannung – so auch beim nächsten Verwandten des Menschen, dem Schimpansen, dessen Raffinesse beim Liebesspiel in mancher Hinsicht mit der des Menschen vergleichbar ist (siehe Bonobos: Sexuelle Interaktion). Auch bei weniger menschenähnlichen Wirbeltieren wurde Entsprechendes beobachtet, etwa bei bestimmten Vogelarten (siehe Büffelweber: Sexualität)

    Neurologisch betrachtet ist das Orgasmuserleben bei bestimmten Tierarten nicht auszuschließen: Das Sexualzentrum mit dem „orgastischen Reflex“ befindet sich in den phylogenetisch älteren Teilen des Zentralnervensystems (vergl. Limbisches System, Hypothalamus, Amygdala), es ist beim Menschen wie bei sämtlichen Wirbeltierarten in ähnlicher Form vorhanden. Kommen weitere physiologische Voraussetzungen hinzu (z. B. Genitalien, die mit empfindungsreichen Nerven ausgestattet sind), ist ein Orgasmuserleben bei der entsprechenden Tierart denkbar.

    http://de.wikipedia.org/wiki/Orgasmus

    Erstaunlich, dass der Autor hier vom „orgastischen Reflex“ spricht.

  2. Avatar von Robert (Berlin) Robert (Berlin) Says:

    Soll der Titel „Der orgasmische Affe“ an das Buch „Der nackte Affe“ anlehnen?

  3. Avatar von Peter Nasselstein Peter Nasselstein Says:

    „(…) one of Reich’s central assumptions seems to be wrong: that the orgasm pulsation is natural to ‘the organism” – meaning the person as animal, rather than simply human. If this were so, it might be expected to occur in similar organisms, such as other primates – who have the bonus of not being subjugated to society’s compulsory repression and defenses against feeling. However, as Adolph Smith points out (unpublished) following a search on the literature of primate sexuality, ‘out ofthe 200 odd nonhuman primates, there is only one species, the bonobo, which leads what Reich would call a sex positive life.” Coitus in many animal species observably consists of ‘Wham, bam, thank you Ma’am”, and often without a discernible thank you. Although dogs and cats (and lions and other big cats) for example may show apparently reflexive undulating pelvic movements, the moment of orgasm is often accompanied only by a stiffenening tremor. (…)“ (Sean Haldane: Pulsation, London 2014, S. 61f).

  4. Avatar von Klaus Klaus Says:

    „Tiere haben offensichtlich ähnliche sexuelle Bedürfnisse wie der gepanzerte Mensch (sie masturbieren, wenn sie in Gefangenschaft allein sind, etc.), aber man kann keine orgastischen Reaktionen finden“ – übrigens auch nicht bei Bonobos, bei denen Kopulation wie ein Ritual – vermutlich mit sozialer Funktion – aussieht. Dass Bonobos uns entwicklungsgeschichtlich nicht näher sind als Schimpansen, wurde hier ja schon an anderer Stelle gesagt.

  5. Avatar von Robert (Berlin) Robert (Berlin) Says:

    Hat der weibliche Orgasmus doch einen Sinn?

    Warum gibt es den weiblichen Orgasmus, obwohl er für die Fortpflanzung doch unnötig ist? Früher war das wohl anders, wie Forscher nun herausgefunden haben – indem sie sich mit Kaninchen beschäftigten.

    https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/klitoris-forscher-entschluesseln-nutzen-des-weiblichen-orgasmus-a-1289561.html

  6. Wir SIND Affen – Celle – die freie Seite Says:

    […] https://nachrichtenbrief.com/2011/11/09/der-orgasmische-affe-teil-2/ https://nachrichtenbrief.com/2011/11/10/der-orgasmische-affe-teil-3/ […]

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