Das Trauerspiel der Reich-Editionen

Publish or die! Für Reich war das Publizieren seiner Arbeiten überlebenswichtig. Das begann mit seiner Arbeit als Psychoanalytiker und später als Sexualpolitker, den man schon bald mundtot machen wollte, und mündete schließlich in seinen sexualökonomischen und später orgonomischen Schriften im Exil. Beispielsweise waren seine Veröffentlichungen in den 1950er Jahren eine Hauptwaffe gegen die Kampagne der FDA und der amerikanischen Linkspresse gegen ihn. (Es ist durchaus vergleichbar mit Trumps heutigen Twittern!) Ohne seine Publikationsarbeit wäre er sehr schnell in der Versenkung verschwunden. Entsprechend wurde von ihm und später seinen Mitarbeitern, insbesondere Theodore P. Wolfe, eine ungeheure Arbeit und Sorgfalt in die Aufmachung der Schriften und Periodika investiert. Entsprechend wird man kaum je irgendeinen Fehler finden. Und das war lange vor den heutigen Rechtschreibprogrammen und unendlich vielen Recherche- und Korrekturmöglichkeiten, die wir heute mit den Computern haben!

Das hohe Niveau änderte sich nach Reichs Tod als Chester M. Raphael und seine Partnerin Mary Boyd Higgins Herausgeber seiner Schriften wurden. Anfangs passierte außer das eine oder andere verpeilte Vorwort nicht viel, denn die von Wolfe in enger Zusammenarbeit mit Reich angefertigten Übersetzungen wurden neu aufgelegt und erhielten teilweise positive Besprechungen, weil man nicht erwartet hatte, daß die FDA eine so wertvolle Literatur hat verbrennen lassen. Doch seit Anfang der 1970er Jahre wurden diese Originalübersetzungen, von denen ein eigentümlicher sprachlicher Zauber ausging, durch Neuübersetzungen ersetzt, die fast durchweg ein Desaster waren. Der Sprachduktus war für amerikanische Ohren mit einem Mal hölzern und „teutonisch“ und vor allem voller faktischer Fehler. Beispielsweise wurde aus dem „Generalpsychopathen“ (Hitler, unter dem u.a. seine Generäle litten) idiotischerweise „psychopathic generals“ – und zahllose andere Beispiele von Übersetzungsmurx (siehe hier und hier). Und das alles im Namen einer Organisation, die Reichs Namen trug. Es war alles sozusagen „Reich-offiziell“!

Aus verschiedensten Gründen konnte man sich nach Reichs Tod praktisch nur noch aufregen. Wirklich in jeder Neuausgabe wurde irgendein Bockmist gebaut, so als wollte man Reich posthum noch toter machen, als er ohnehin schon war. Dabei waren seine Schriften nach seinem Tod für sein Überleben (bzw. natürlich für das Überleben und die Verbreitung seiner Ideen) um Potenzen wichtiger als zu seinen Lebzeiten. Die Arbeit war auch um soviel einfacher, denn der Kanon lag abgeschlossen vor.

Den Leuten, die dieses posthume Verbrechen an Reich begangen haben, glaube ich keine einzige Sekunde, daß es keine andere Möglichkeit gab, daß man doch froh sein solle, daß Reich überhaupt wiederveröffentlicht wurde und was für ungeheure persönliche Opfer sie doch aufgebracht haben. Mir kommen die Tränen! Tatsächlich geht es nur um eins: daß sich diese Leute unglaublich stark voller Liebesinbrunst zu Reich hingezogen fühlen, er ihnen aber imgrunde fremd ist, sie deshalb nicht „mitschwingen“ können, aber auch nicht von ihrem vermeintlichen Erlöser lassen können. Die Lösung dieses Konflikts kann jeder in der Umgebung an den diversen Beziehungs- und Ehehöllen sehen: man kommt nicht vom angeblich „geliebten“ Partner los und versucht ihn deshalb mittels „Sabotage“ nach und nach buchstäblich umzubringen.

Deshalb reagiere ich so überaus empfindlich etwa jetzt auf Kinder der Zukunft. Reichs Wort ist Reich selbst, das ist das einzige, was von ihm geblieben ist, das ist sein LEBEN. Kleinere Fehler, wir sind alle nur Menschen – aber hier geht es um ein MASSAKER. Nehmen wird etwa die drei „Orgasmuskurven“ im „Kapitel“ über „Die sexuellen Rechte der Jugend“. Auf S. 160 ist die Orgasmuskurve zum Beispiel mit „F = Vorlust – Vorspiel“ beschriftet. Das „F“ wurde so aus der amerikanischen Ausgabe übernommen für „forepleasure – foreplay“. Im deutschen Orgnalmanuskript steht natürlich „V“! Was der unbedarfte Leser von Kinder der Zukunft in diese und die anderen aberwitzigen Beschriftungen (etwa „C = Beginn des Höhepunkts“ – im Orginal „A = Einsetzen der ‚Auslösung‘“) hineininterpretieren mag… S. 165: „N = Unlust nach der Ejakulation“, im Original „U = nachfolgendes Unbehagen“. S. 169: die Hemmungen werden mit „I“ statt wie im Original mit „H“ beschriftet. Man kann hier nur die Sorgfalt der amerikanischen Herausgeber und Übersetzer loben, denn „V = foreplay“ etc. wäre einfach derartig lächerlich gewesen!

Selbst die Herausgeber der amerikanischen Ausgabe sind dumm dran. Die Fußnote „Sulfonamides are the appropriate drugs used today“ wird übersetzt als:

Anm. der Hrsg. der amerik. Ausg.: Der weiche Schanker wird heutzutage antibiotisch behandelt. (S. 171)

Oder gar aus…

The incidence of later stages of syphilis has been declining, even without the indicated treatment, because antibiotics are now so frequently used for other infectious diseases as well.

…wird das veritable Gegenteil:

Anm. der Hrsg. der amerik. Ausg.: Die Syphilis ist durch die Antibiotikabehandlung zwar deutlich zurückgegangen, die Anzahl der Neuerkrankungen stieg ab (sic!) seit 1990 wieder deutlich an. Vor allem in Großstädten und unter Homosexuellen ist auch heute die Syphilis weit verbreitet.

Übrigens „1990“: die (einzige) amerikanische Ausgabe erschien 1983!

Alle gehen selbstherrlich mit Reich um. Die amerikanischen Herausgeber maßen sich an aus Versatzstücken selbst ein „Buch von Wilhelm Reich“ aus dem Hut zu zaubern, das er so nie geschrieben hat, und der deutsche Übersetzer setzt in einer zweiten Schicht an Selbstherrlichkeit noch eins drauf. Also normal ist das nicht!

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5 Antworten to “Das Trauerspiel der Reich-Editionen”

  1. Robert (Berlin) Says:

    Wie schreibt Jamie Ogg (http://wilhelmreich.eu/101/):

    Hal, I, Eva, Roger, and Bill Moise; We were all present in Farmington court in winter 1974-75 to contest the WRITF; MBH & Raphael mis-use of the will and support the opening the archives for students to research. Little did we know that the WRITF was at that exact time having all previous translations by Wolfe retranslated to stop having to pay royalties for the original translations by Wolfe and you. This was a blatant distortion of your work and a blatant act of changing your words.

    Und weiter:
    In May of 1968, a lawyer, David Blasband of NYC, made it clear to the children of Reich that very soon the second copyright (extending for another 28 years from the initial publishing of „The Function of the Orgasm“ in 1942) would have to be renewed. That book had been translated by Wolfe. The copyright for other books, which Wolfe had also translated, would also have to be renewed, in due course. The lawyer also pointed out that Reich’s children and Wolfe’s widow, Gladys, and their daughter, would also have a legitimate right to receive royalties upon the renewals of the original copyrights. This information was shared with the WRITF trustee. In response to this knowledge, as early as 1969 the WRITF had hired new people to re-translate the German-language books that had previously been translated by Theodore Wolfe and published by Reich and the Orgone Institute. The purpose of this, some folks have been told by Reich’s family members, was to avoid having to pay Wolfe’s family any further royalties for the translations. Thus, more money could be saved for the WRITF. The Museum’s priority now seemed to be the optimization of income, rather than adherence to the directives of Reich’s last will and testament (section d. and e. — see below).

    http://web.archive.org/web/20081208024210/http://www.orgone.org/wr-wolfe-trans01a.htm

  2. Peter Nasselstein Says:

    Präsident des Wilhelm Reich Infant Trust ist nun nicht mehr Higgins, sondern James Strick.

  3. Robert (Berlin) Says:

    Mary Boyd Higgins, Wilhelm Reich’s Devoted Trustee, Is Dead at 93

    • Peter Nasselstein Says:

      “Reich had been victimized and blackballed because he was a leftist, he was Jewish and he was a sex researcher at a time when that seemed over the top,” James Strick, the author of “Wilhelm Reich, Biologist” (2015), said in a telephone interview

      So ein SCHWACHSINN! Nie, wirklich nie, war von Reichs „Jüdischheit“ die Rede. Ganz im Gegenteil: es waren seine psychoanalytischen und marxistischen Gegner, die ständig ihre (soweit vorhanden) Jüdischheit haben raushängen lassen. Er wurde von der Linkspresse fertiggemacht und (erstaunlicherweise) spielte „Sex“ bei der Gerichtsbverhandlung keinerlei Rolle.

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