Nietzsche und die Entwicklung des Menschen (Teil 3)

Wenn das Leben seine Instinktsicherheit verliert, hat es, Nietzsche zufolge, die Vernunft als Tyrannen nötig, weil es sonst in der Anarchie seiner widerstreitenden Triebe, die nicht mehr von einem herrschenden Instinkt regiert werden, verloren ist (Götzendämmerung, Das Problem des Sokrates). Freud und Hans Hass teilen diese Meinung mit Nietzsche, während Reich die Diktatur durch eine „Arbeitsdemokratie“ funktionell ersetzen will. Anstelle dem Aufdämmen und der Regelung der Triebe durch geistige Moral und physische Panzerung tritt die sexualökonomische genitalorgastische Funktion. Nicht unsere Moral unterscheidet uns vom Tier (wir haben sie notwendig, wenn wir „regredieren“), sondern unsere Genitalität (die Moral erübrigt).

In seinem 1963 erschienen Buch Das sogenannte Böse, führte Konrad Lorenz den „Aggressionstrieb“ ein (gemeint ist natürlich „Destruktionstrieb“), den der Mensch mit allen höheren Tieren teile, aber zusammen mit seinen anderen atavistischen Trieben steuern, kontrollieren, unterdrücken und sublimieren müsse. So muß sich, Lorenz zufolge, der Mann zusammenreißen, um nicht gleich über jede Frau auf der Straße herzufallen. Die modernen Soziobiologen führen Rassismus und Nationalismus auf unsere „egoistischen Gene“ zurück, die wir zu beherrschen hätten. Dergestalt stellt sich die Frage der soziopathogenen Panzerung erst gar nicht, bzw. sie stellt sich umgekehrt: unsere Steinzeittriebe oder -gene sind für alles Unheil verantwortlich und wir müssen uns gegen sie abpanzern.

Reich hat 1942 in Die Funktion des Orgasmus dargelegt, daß es widersinnig ist, von einem „Aggressionstrieb“ zu sprechen, da er kein Trieb im eigentlichen Sinne sei, „sondern das unerläßliche Mittel jeder Triebregung. Diese ist an sich aggressiv, weil die Spannung zur Befriedigung drängt“. Demgegenüber faßt Hans Hass unter dieser Bezeichnung

sämtliche angeborenen und erworbenen Steuerungen zusammen, welche als Akte von Instinkt und Intelligenz dazu führen, daß der Mensch sich Mitmenschen gegenüber ärgerlich, gegnerisch, bösartig, feindlich, ja sadistisch verhält. (Hass/Lange-Prollius: Die Schöpfung geht weiter, 1978, S. 252)

Hass wendet sich gegen die Annahme, diese aggressiven Tendenzen des Menschen seien nur eine Antwort auf ihn frustrierende Umwelteinflüsse und daß ohne Frustrationen keine Aggressionen aufträten. Als abschreckendes Beispiel verweist Hass auf das Buch Frustration and Aggression (Yale 1939) der Psychoanalytiker Dollard, Miller, Doob, Mowrer und Sears, wonach durch Frustrationen, die das Kind in seiner Entwicklung erfährt, zur Aggression neigende Menschen entstehen.

In den Vereinigten Staaten empfahlen darum einige Psychologen den Müttern, ihre Kinder ohne Widerspruch und Strafe, also permissiv und möglichst frustrationsfrei zu erziehen. Diese Anregung (…) führte jedoch keineswegs zu einem überzeugenden Resultat. (ebd. S. 253f)

Betrachtet man jedoch extreme Formen von Destruktion, z.B. wenn ein SS-Wachmann in Auschwitz einer Mutter das Kleinkind aus den Armen riß, an den Beinchen packte, um den Schädel des Kindes an einer Betonwand zu zerschmettern, dann sieht man, daß da kaum der Affe durchbricht, sondern die Zivilisation. Freud und Lorenz und andere, die von „bösen Trieben“ reden, sehen mit ihrer „realistischen“ Weltanschauung sofort den angeborenen Aggressions- und Todestrieb am Werk, aber die weit grausigere Wahrheit ist, daß der SS-Mann dies als typischer Moralist tat, dem sein Gewissen befahl, seine natürlichen mitmenschlichen Gefühle mit aller Gewalt zu unterdrücken: „Wenn ich dies tue, zeige ich, daß du kein Mensch bist – und die Moral erlaubt mir, ja, zwingt mich, solch schädliches Ungeziefer auszurotten.“ Moral! Schließlich ist auch die Bibel auf seiner Seite, wenn er beim Religionsunterricht aufgepaßt hat (Ps 137,9)!

Die moderne Neurobiologie zeigt, daß das Mitgefühl ein „Trieb“ ist und damit die gängige Moral schlichtweg überflüssig und schädlich. Mitgefühl beruht schlichtweg darauf, daß wir mitfühlen – Moral kann das nur behindern. Ich zitiere aus David Holbrooks Weltnetzseite:

Ein anderes Thema in der Neurowissenschaft, das in den letzten Jahren sehr populär geworden ist, war die Entdeckung sogenannter „Spiegelneuronen“: „Mitte der 1990er Jahre fand der italienische Neurowissenschaftler Rizzolati … im prämotorischen Kortex von Makaken eine Klasse von Neuronen, die nicht nur bei selbstinitiierten Bewegungen feuerten, sondern auch bei der Beobachtung entsprechender Bewegungen bei anderen Affen …“ (Wallin 2007, S. 76). Mit anderen Worten, dieselben Motoneuronen, die gefeuert haben, als der Affe seinen Körper bewegte, wurden auch ausgelöst, als der betreffende Affe einen anderen Affen beobachtete, der ähnliche Bewegungen machte. Dies hat die 100 Jahre alte Doktrin, daß motorische und sensorische Neuronen zwei völlig getrennte Kategorien von Neuronen in separaten Bereichen des Gehirns sind, umgeworfen. Darüber hinaus „sind es nur beabsichtigte Aktionen, die das Feuern von Spiegelneuronen auslösen…“, d.h. Aktionen, die geplant und absichtlich ausgeführt werden. „Es ist offensichtlich nicht unsere Wahrnehmung von Handlungen per se, die eine mitschwingende Antwort auslöst, sondern vielmehr die Wahrnehmung von Handlungen, die den Eindruck vermitteln, daß eine Absicht dahinter steckt …“. Dies hat zu der Theorie geführt, daß Spiegelneuronen die neuronale Basis für das Phänomen der Empathie und für bestimmte Aspekte der Wahrnehmung der Motive oder Absichten der Handlungen anderer darstellen können. Das Interessante ist, daß diese Wahrnehmungen eng mit der Beobachtung somatischer, nonverbaler Ausdrucksbewegungen in anderen verbunden sind: „… Es sind nicht nur die wahrgenommenen beabsichtigten Zustände anderer, sondern auch ihre Emotionen und körperlichen Empfindungen, die unsere Spiegelneuronen dazu bringen können zu feuern …. es wurde theoretisiert (Iacoboni 2005), daß die Insula (ein Bereich des Gehirns) unsere Eindrücke der Affekte [Emotionen] anderer aus dem Kortex, der wahrnimmt, zur Amygdala [einem Kern im Gehirn] übermittelt, die dann im Beobachter körperliche Gefühle auslöst“ (S. 77). Dies ist ein Beispiel dafür, wie die Neurowissenschaft den Weg weist für ein anatomisches und physiologisches Verständnis der Prozesse der nonverbalen, unbewußten, unwillkürlichen Übertragung von Emotionen von einer Person, oder einem Lebewesen, auf eine andere (für eine ausführliche Diskussion über die Entdeckung der Spiegelneuronen und ihre Implikationen siehe Iacoboni 2008).

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9 Antworten to “Nietzsche und die Entwicklung des Menschen (Teil 3)”

  1. Avatar von Robert (Berlin) Robert (Berlin) Says:

    Es hat jedenfalls evolutionär größe Vorteile, seinen Konkurrenten oder Nebenbuhler auszuschalten. Dieser kann sich nicht mehr reproduzieren. Vermutlich hat es in den letzten 6000 Jahren (diese Zahl nimmt immer Reich, nur woher hat er sie?) eine Auslese in Richtung Mörder gegeben, falls die Annahmen vom friedlichen Matriarchat stimmen sollten.
    Sehr aufschlussreich ist da: David Buss, Der Mörder in uns.

  2. Avatar von Jonas Jonas Says:

    „…aber die weit grausigere Wahrheit ist, daß der SS-Mann dies als typischer Moralist tat, dem sein Gewissen befahl, seine natürlichen mitmenschlichen Gefühle mit aller Gewalt zu unterdrücken…“

    Lesenswert zu diesem Thema ist „Die Dialektik der Ordnung“ des Soziologen Zygmunt Bauman. Bauman versucht nachzuweisen, dass der Massenmord im 3. Reich nicht deshalb geschah, dass „natürliche“ Aggressionen enthemmt, sondern dass umgekehrt natürliches Mitgefühl mit den Opfern verhindert wurde. Die Shoah war demnach kein „Rückfall in die Barbarei“, sondern ein Zivilisationsprodukt.

  3. Avatar von Peter Nasselstein Peter Nasselstein Says:

    Soeben erhalte ich diese interessante Mitteilung:

    ich wurde auf ein sehr erstaunliches Buch aufmerksam gemacht.

    Clancy McKenzie: Delayed Posttraumatic Stress Disorders from Infancy.

    Es ist so erstaunlich, weil der Autor vermutlich weder von der Orgonomie noch von der Psychoanalyse her kommt.

    Im Vorwort heißt es, dass – bei Schizophrenie, „Major“ Depressionen etc. häufig ein Trauma vorhanden ist aus der Zeit als das Kind 24 Monate oder jünger war. Die Korrelation zwischen Schizophrenie und der Geburt eines jüngeren Geschwisters im Alter von weniger als 24 Monaten etwa habe sich an der finnischen Datenbank als hoch signifikant erwiesen.

    Zum Beispiel Trennung von der Mutter.

    Das erstaunlichste ist jedoch eine der im Vorwort erwähnten Folgerungen. Es wird nämlich der Patient ermutigt, jeglichen Kontakt zur „nuclear familiy“ einzustellen, was der in USA / Deutschland üblichen Politik diametral entgegengesetzt ist (das Buch ist britisch). Hier sagt man den Pat. immer wieder, Du hast nichts außer der Kernfamilie und tut alles um den Kontakt aufrecht zu erhalten.

    Man vergleiche das mit Reichs Kampf gegen die „Familitis“ auf der einen und dem Unsinn, der von Bert Helliger („Familienaufstellung“) verbreitet wird, auf der anderen Seite.

  4. Avatar von claus claus Says:

    Was ist nun davon zu halten?
    https://www.welt.de/gesundheit/psychologie/article13508673/Aggression-ist-kein-Urtrieb-des-Menschen.html

    „So besitzt das Gehirn ein Motivationssystem. Dort werden Botenstoffe ausgeschüttet, die uns ein gutes Gefühl geben, wenn wir bestimmte Erfahrungen machen oder uns auf bestimmte Art und Weise verhalten. Das wird dann als ‚Trieb‘ bezeichnet.“
    „Der Mensch reagiert also nur aggressiv, wenn es einen Auslöser gab“ Na und? Ein ‚Urtrieb‘ sei also nur dann gegeben, wenn es für ein best. Verhalten keines Auslösers bedarf? Ich frage mich, ob dann überhaupt noch von einem Sexualtrieb die Rede sein kann; man denke an sich als ‚asexuell‘ Einstufende.
    Auch hier wieder eine Triebvorstellung, nach der das betr. Verhalten ‚von selbst‘ kommt: „Allerdings ist belegt, dass keinerlei Glücksbotenstoffe ausgeschüttet werden oder das Motivationssystem angeregt wird, wenn man jemandem Leid zufügt, ohne dass man provoziert wurde. Jedenfalls gilt das für Menschen mit gesunder Psyche. Das spricht gegen Freuds These.“
    Und merkwürdig, wie dann wieder die verpönte Dampfdruckmetapher zum Zuge kommt: „Durch solche Situationen kommt es auch zur ‚verschobenen Gewalt‘. Dabei staut sich die Wut kontinuierlich in einem auf. Und irgendwann platzt die Bombe: Die betroffene Person lässt ihre Wut raus, meist zu völlig unverständlichen Zeitpunkten und an unbeteiligten Personen. Diese verschobene Gewalt wirkt wie ein Urtrieb – auch wenn es definitiv keiner ist.“
    Würde das auch dagegen sprechen, Aggression sei „das unerläßliche Mittel jeder Triebregung“? Ich werde nicht schlau daraus.

  5. Avatar von claus claus Says:

    „Reich hat in ‚Die Funktion des Orgasmus‘ dargelegt, daß es widersinnig ist, von einem „Aggressionstrieb“ zu sprechen, da er kein Trieb im eigentlichen Sinne sei, ’sondern das unerläßliche Mittel jeder Triebregung. Diese ist an sich aggressiv, weil die Spannung zur Befriedigung drängt‘.“
    Eine wertvolle Klärung durch Reich: Unter „Trieb“ versteht man etwas je nachdem, worauf es gerichtet ist. Aggression ist nur ein Mittel und als solche noch nicht auf etwas gerichtet.

    „Wenn das Leben seine Instinktsicherheit verliert, hat es, nach Nietzsche, die Vernunft als Tyrannen nötig, weil es sonst in der Anarchie seiner widerstreitenden Triebe, die nicht mehr von einem herrschenden Instinkt regiert werden, verloren ist(Götzendämmerung, Das Problem des Sokrates).“ Etwas so wünscht man sich heute Schule. Dem entspricht, dass Lehrer in ihrer ‚Ausbildung‘ ständig ‚gewaltfrei kommunizieren‘ lernen sollen.

  6. Avatar von Peter Nasselstein Peter Nasselstein Says:

    Der ROTE FASCHISMUS ist einfach nur der Krebs der Gesellschaft und, wenn ein Fisch anfängt zu verfaulen, stinkt er vom Kopf her:

  7. Avatar von Peter Nasselstein Peter Nasselstein Says:

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