Alter, naive Medizin! (Teil 4)

Reich hat sich bemüht, den Schweregrad seelischer Erkrankungen und den Schweregrad der Genitalstörung wenigstens ansatzweise zu quantifizieren: in seinen bio-elektrischen Untersuchungen und seinen Untersuchungen zur orgonotischen Erstrahlung. Sein Hauptfeld war aber natürlich die Klinik.

Es stehen sich gegenüber erektive, ejakulative und orgastische Impotenz, Orgasmusangst und Sexualstauung als Indikatoren für die Schwere der genitalen Störung und Panzerstruktur, psychosomatische Beschwerden und „psychoneurotische“ Beschwerden als Indikatoren für die Schwere der seelischen Störung. Wenn sich da nicht einiges mehr oder weniger direkt statistisch untersuchen läßt, dann läßt sich ja wirklich gar nichts untersuchen. Es ist also nicht so, daß hier nur zwei Variablen vorliegen, die man nicht miteinander korrelieren darf.

Nach dem ICD-10 gibt es etwa 13 000 Krankheiten. Ich habe gehört, daß für den praktischen Mediziner etwa 100 Krankheiten wichtig sind, da sie den weit überwiegenden Teil der Fälle ausmachen. Den Rest kann man getrost den Spezialisten zur Abklärung überlassen. Wie viele von diesen 100 Krankheiten mögen davon Biopathien sein? Eine Handvoll biopathischer Krankheiten, einschließlich den biopathischen psychiatrischen Störungen, machen imgrunde das gesamte Gesundheitsproblem der Nation aus. Sie beruhen Durchweg auf einer Genitalstörung. Der Rest ist Noise!

Über die Ursachen dieser Krankheiten kann die Schulmedizin größtenteils nichts sagen. Es gibt nur mehr oder weniger plausible Theorien und Therapien, die zumeist durch Zufall entdeckt wurden. Wirkliche „Wirkungsketten“ können nicht angegeben werden. Um die „Wissenschaftlichkeit“ der Medizin im allgemeinen und der Psychiatrie im besonderen sieht es nun wirklich nicht gerade berauschend aus!

Der Ansatz der Orgonomie war nun (und dieser Ansatz kann mangels Personal auch nicht nur ansatzweise mit Leben ausgefüllt werden – aber bei einer Handvoll Krankheiten wird es wohl doch realistisch machbar sein) für jede Biopathie das herzustellen, was Reich als „den Nachweis der Kontinuums der Funktion“ bezeichnet hat (Die bio-elektrische Untersuchung von Sexualität und Angst, S. 52). Lückenlos, d.h. ohne jene Lücken, die (wie Reich kritisiert hat) Biologie und Medizin stets mit den beiden Worten „um zu“ übersprungen haben, muß theoretisch und in der klinischen Praxis aufgezeigt werden, was etwa den biopathischen Bluthochdruck mit der orgastischen Impotenz verbindet.

Das ist m.E. „wissenschaftlicher“ als bloße statistische Korrelationen ohne jedes „Kontinuum der Funktion“. Es wurde z.B. schon nachgewiesen, daß die Storchenpopulation mit der menschlichen Geburtsrate perfekt korreliert. Entsprechend wäre es zugegebenermaßen nicht unbedingt berauschend, wenn man die Abhängigkeit des Schweregrads seelischer Erkrankungen vom Schweregrad der Genitalstörung nun statisch doch noch nachweisen könnte. Zumal es zwei gravierende theoretische Schwierigkeiten gibt: da ist zunächst das Energieniveau als Zwischenglied, d.h. (übertrieben ausgedrückt) wo keine Energie ist, kann auch keine entladen werden, weder in Symptomen noch in der genitalen Umarmung; und zweitens kann ja grade der Mangel an Symptomen ein ganz übles Zeichen sein, da die Panzerung perfekt ist.

Natürlich ist die reine Klinik, die bis heute die medizinische Orgonomie bestimmt, mit all ihren Unwägbarkeiten kein tragfähiger Boden. Immerhin hat aber die medizinische Orgonomie mit Reichs primitiver statistischen Erhebung, die er 1927 in Die Funktion des Orgasmus veröffentlichte, angefangen – und sie endete 1948 in Der Krebs mit Reichs Vorschlag, die Wirkungen des Orgonenergie-Akkumulators statistisch in einem Großversuch zu überprüfen. Die heutigen Orgonomen wären sicherlich über alle Maßen begeistert, wenn so eine Untersuchung der Orgasmustheorie möglich wäre – und, wie gesagt, theoretisch muß sie möglich sein, trotz aller Probleme.

An sich gibt es nur ein Problem: die Orgonomie im allgemeinen und die Orgasmustheorie im speziellen würde erst infolge einer solchen statistischen Untersuchung offiziell anerkannt werden, – doch um diese praktisch möglich zu machen, müßte sie bereits offiziell anerkannt sein…

Schlagwörter: , , , , , ,

30 Antworten to “Alter, naive Medizin! (Teil 4)”

  1. Klaus Says:

    „[…] daß die Storchenpopulation mit der menschlichen Geburtsrate perfekt korreliert.“
    Einzelne Korrelationen sind für Wirkungszusammenhänge von geringem Interesse. Aber bei ganzen ‚Netzen’, wie sie sich zum Beispiel in Bezug auf Details der ORAC-Wirkungen (Menschen, Tiere, Pflanzen, Körperkerntemperatur, Lufttemperatur, Elektroskop, …), Therapieverläufe, … abzeichnen, wird es interessanter.
    Der Funktionsbegriff wirft eine Menge Schwierigkeiten auf, vgl. nur als kleinen Hinweis

    Klicke, um auf pbk08_Nimtz_2009_Physikalismus.pdf zuzugreifen

    • Jonas Says:

      „Der Funktionsbegriff wirft eine Menge Schwierigkeiten auf, vgl. nur als kleinen Hinweis…“

      Ich vermute, die Unvereinbarkeit des orgonomischen Funktionsbegriff mit dem Funktionsbegriff der Philosophie des Geistes liegt darin, dass letztere zumeist von Funktionen als Eigenschaften von Systemen spricht.

      Der orgonomische Funktionalismus beschreibt aber keine Eigenschaften von wie auch immer gearteten Dingen, sondern grundständige Prozesse. Bestimmte Funktionen sind ja bei Reich auch klar der Entstehung von „dinghaften“ Systemen „vorgeschaltet“.

      Vielleicht wäre also eher eine Verbindung des orgonomischen Funktionalismus mit prozessphilosophischen Begriffen angezeigt.

  2. Jonas Says:

    „An sich gibt es nur ein Problem: die Orgonomie im allgemeinen und die Orgasmustheorie im speziellen würde erst infolge einer solchen statistischen Untersuchung offiziell anerkannt werden…“

    Ein weiteres Problem ist, dass eine solche Untersuchung, selbst wenn es sie gäbe, wahrscheinlich gar nicht rezipiert werden würde. Die Orac-Studie von Müschenich/Gebauer wurde ja auch von kaum jemandem außerhalb des reichianischen Umfelds gelesen.

    • O. Says:

      Genau diese Untersuchung ist Anstoss einer weiten Diskussion unter Professoren der Psychologie gewesen, den nicht zuletzt auch Gebauer und Müschenich provoziert haben. Sie haben hiermit jede weitere sachliche und wissenschaftliche Auseinandersetzung in der Psychologie verhindert. Hätten sie nicht so auf den „wissenschaftlichen Nachweis“ von Reich gepocht, wären weitere Studien enstanden, und vermutlich nicht nur am Marburger Institut.
      Statt dessen fiel es in den unfruchtbaren Boden der „Reichianischen Szene“. (Berlin)

      • Jonas Says:

        Das verstehe ich nicht ganz – auf wen bezieht sich „sie“? Haben Gebauer/Müschenich die weitere Auseinandersetzung verhindert, oder die Professoren?

        Und wie ist das Ganze abgelaufen?

      • O. Says:

        Müschenichs und Gebauers Arbeit waren eine Diplomarbeit, also nichts wissenschaftlich aufregendes. Und es ist bei dieser Untersuchung der Anschein entstanden, was kein statistischer oder wissenschaftlicher Beweis für Reich gewesen wäre, dass die Annahme von Müschenich et al., die Orgonhypothese Reichs plausibel machen könnte.
        Das wissenschaftliche Prozedere im wissenschaftlichen Denken (der Professoren) wäre jetzt gewesen, weitere experimentelle Wiederholungen zu führen, um den vermeintlichen „Irrtum“ aufzuklären. Somit hätte es neue Diplomarbeiten hierzu geben können, wenn sich jemand hätte finden wollen – woran, es nicht lag, die nächste Arbeit war schon am Start.
        Die Professoren der Psychologie hatten keinen Zweifel, dass es sich hier um einen einmaligen, aber möglichen Fall handele, in dem die Nullhypthese zu gunsten der Arbeitshypothese verworfen werde, obwohl an sich nichts an dem „Brathähncheneffek“ dran sein konnte.
        Von daher bestand kein Anlass einer weiteren Studie nicht zuzustimmen. Im übrigen staubte die Gerätschaft für eine echte (Reichsche) Hautpotentialsmessung im Keller des Institutes [keine Hautwiderstandsmessung also!!].

        Doch die Reich-Szene erwähnte mit Pop und Spuk an allen Orten „Reich sei wissenschaftlich bewiesen durch Müschenich und Gebauer, Universität Marburg“. Einen solchen Eklat kann sich kein Psychologisches Institut leisten und es gab Anfragen zu dieser Arbeit aus allen Ecken deutschsprachiger Universitäten. Zweifellos musste man sich hier für eine „Diplomarbeit“ rechtfertigen, die in keinem Forschungskontext stand.
        Innerhalb der Psychologie galt diese Arbeit als Prüfungsfrage im Fach Methoden: Was an dieser Studie ist methodisch falsch oder schlecht umgesetzt worden, wie ist sie zu interpretieren?

        Müschenich & Gebauer verteidigten ihre Arbeit im Diplomandenkolloqium, ein Gremium wie ein Seminar für Diplomarbeiten, als würde es um die wissenschaftliche Anerkennung der Orgonomie vor der Akademie der Wissenschaften gehen, so das Empfinden der Professoren. Hinzu kam, dass diese Arbeit die Runde machte (angeheizt von der Reichszene) und Städte übergreifend diskutiert wurde.
        Hinzu kam, dass die Hebenstreitfraktion aus Wien eine offizielles Schreiben an den Fachbereich schickte mit der Bitte um eine Kopie der Diplomarbeit und um fachliche Untersützung. Statt sich selbst auf den Weg nach Marburg zu begeben und das gute Stück durch den Kopierer zu jagen, um sich die Methodik der Doppelblindstudie abzuschauen, ging es über den klinischen Fachbereich. Mit dieser Anfrage war das Sekretariat völlig überfordert und wurde an das externe Institut für Reichianische Angelegenheiten 😉 zur Bearbeitung übergeben.
        Auch hier eine Unsensibilität als hätte man nicht über Herrn Lassek die Adresse von Herrn Müschenich erfahren und hätte aus erster Hand Informationen austauschen können.

        Das Ergebnis war klar, alle Professoren des Institutes hatten sich geschworen, nie wieder eine Diplomarbeit hierzu, basta.

        Natürlich ist es aus der Sicht der Reich-Fans einfach gewesen zu behaupten, alle seien gegen Reich gewesen und allen anderen den „schwarzen Peter“ zuzuschieben. Die Geschichte hinter der Geschichte ist viel differenzierter.
        Natürlich hielt die verhaltenstherapeutisch orientierte Psychologie „Reich für unwissenschafltich“ und keiner glaubte, dass Orgon existiere. Doch eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Reich hat die „Reichszene“ ganz aktiv selbst verhindert. Sie wollte nicht, dass es ihr aus der Hand gleiten würde und sich Universitäten unabhängig damit beschäftigen würden.

        Gebauer und später auch Müschenich haben sich komplett aus dem WR-Treiben herausgehalten. Niemand hat je gefragt: „Warum?“
        Müschenich konnte seine Dissertation noch am Institut für historische Medizin unterbringen und studierte zudem Medizin.

      • O. Says:

        (meine Tippfehler kann ich nur wiederholt entschuldigen)

        Müschenich und Gebauer (1986) waren in erster Linie auch methodisch interessiert gewesen, eine saubere Arbeit abzugeben, was ihnen gelungen ist. Und die methodische Arbeit ist erst in zweiter Linie mit ihrem Interesse an Reich gekppelt worden. Letztlich ging es um das Erreichen des Diploms und dies war hierzu eine Abschlussarbeit.

        Die Überhöhung der Arbeit zum „ultimativen und letzten Beweis“ ist eine Falle gewesen, insbesondere wenn man sich mit Leuten abgibt, die hieran ihr Interesse nur heucheln und selbst wissenschaftlich keine Ahnung haben. Jede kleine Entdeckung, jeder Artikel schien schon eine Beweiskraft zu haben.
        Es fehlte an wissenschaftlicher Methodik und an der Vermittlung dessen.
        Nicht jede Diplomarbeit kam über ein studentisches Bemühen heraus, sich an wissenschaftlicher Methode zu erproben. Doch löste die ORAC Arbeit einen neuen Hype auf den Glauben aus, Reich könne „bewiesen“ werden. Andere könnten „überzeugt“ werden durch „objektive“ Fakten. Auch Harrers Projekt war hiervon zunächst überzeugt, doch dies setzte ein nüchternes Ende mit der Aussage: Reich sei komplett nachvollzogen worden, alle Phänomene sind bestätigt, müssen aber anders interpretiert werden. Ergo: Reich sei ein Idiot.

        In erster Linie muss man ein Forscher sein und erst in zweiter Linie an Reich interessiert. Umgekehrt steht das Ergebnis schon vor dem Versuchsaufbau fest und alles ist Pfusch. (s. Hebenstreit) Narzistische Motive „ich bin ein Wissenschaftler“, oder „ich will Reich der Welt beweisen“ (Weltrettungsphantasie) sowie „ich will Anerkennung“ sind hier absolut fehl am Platz. Wenn die „Orgonomie“ hier einen Schritt weiterkommen möchte, darf es keinen Applaus geben für falsch motivierte Arbeiten.

        • Klaus Says:

          „Hinzu kam, dass die Hebenstreitfraktion aus Wien eine offizielles Schreiben an den Fachbereich schickte mit der Bitte um eine Kopie der Diplomarbeit und um fachliche Untersützung. […] Das Ergebnis war klar, alle Professoren des Institutes hatten sich geschworen, nie wieder eine Diplomarbeit hierzu, basta.“
          Echt? Ist ja wieder sehr peinlich. Diese Anbiederei bei Universitätsinstituten ist ja wirklich erstaunlich.
          Hier, in der Kontinuum-Diskussion, ging es meines Erachtens allerdings weniger um ‚Beweis’, sondern um eine Voraussetzung für wissenschaftliche Erkenntnis, nämlich die Begriffe, die man Ausdrücken, etwa ‚orgonomischen’ Ausdrücken, zuordnen kann, um zu wahrheitswertfähigen Sätzen zu gelangen. Da ließe sich, glaube ich, manches machen, wenn man Ratzfatzjargons verlässt, und ich kann das Wort „orgonomisch“ auch gerne mal auslassen. Am Ende geht es um eine naturwissenschaftliche These, die u. a. die Existenz von ‚Orgon’ beinhaltet; was das heißt, ist erst einmal zu klären. Bitte nicht wieder „primordial“ blabla

          • Jonas Says:

            „Da ließe sich, glaube ich, manches machen, wenn man Ratzfatzjargons verlässt, und ich kann das Wort „orgonomisch“ auch gerne mal auslassen.“

            Völlige Zustimmung hierzu!

            „Am Ende geht es um eine naturwissenschaftliche These, die u. a. die Existenz von ‚Orgon’ beinhaltet; was das heißt, ist erst einmal zu klären. Bitte nicht wieder „primordial“ blabla“

            Auch hierzu eingeschränkte Zustimmung.

            Mein Verweis auf „funktionale“ Prozesse, die man nicht unbedingt als Eigenschaften von Systemen auffassen muss, ist auch erstmal unabhängig von der Frage, in welchem Verhältnis Denkmodelle zur objektiven Realität stehen. Eine Diskussion über die zugrundeliegende Logik betrifft ja erstmal die interne Struktur eines Modells. Diesbezüglich halte ich weiterhin einen prozessorientierten Ansatz für vielversprechender als eine „Festkörperlogik“.

            Mein Verweis auf die Problematik der Erkenntnis eines „Ding an sich“ war eher auf weitreichendere Fragestellungen bezogen, wie die Klärung des Leib-Seele-Problems und die Etablierung eines sinnvollen Begriffs von „Materie“ bzw. dem „Physischen“.

            Ich glaube übrigens nicht, dass man sich an „metaphysischen“ Fragen, etwa nach den „Grundfunktionen“ der Realität, positivistisch vorbeischlängeln kann – zumindest nicht auf lange Sicht.

        • Jonas Says:

          Danke für die ausführlichen Informationen!

  3. Klaus Says:

    „beschreibt aber keine Eigenschaften von wie auch immer gearteten Dingen, sondern grundständige Prozesse“
    Ich glaube, dann könnte man das aber nicht als Methode bezeichnen, mit der ‚Orgon entdeckt‘ worden sei. Da, 1939, waren gerade ZUSAMMENHÄNGE wichtig – man denke an Strahlungsabschirmung bei SAPA’s, Leuchtphänomene, Bindehautentzündung, Kopfschmerzen, Sich-bärenstark-Fühlen, … (vgl. auch die Briefe in „Jenseits der Psychologie“)

    • Jonas Says:

      Ich vermute, die Funktionen sind grundständiger als die „Dinge“, setzen sich aber in ihnen fort. So erst entstehen vermeintliche „Eigenschaften“.

      Und was die Zusammenhänge angeht: man benötigt einen Prozessbegriff, der auch Relationen beinhaltet. Der orgonomische Funktionalismus bietet da schon einmal die recht brauchbare Annahme, dass Funktionen nur dadurch zu Funktionen werden, wenn sie eine „Partnerfunktion“ haben, bzw. in einem sich entwickelten „Funktionsbaum“ beschrieben werden können.

      Ich weiß nicht, ob die Prozessphilosophie hier ähnliche Ansätze zu bieten hat. Spontan würde ich bei William James und A.N. Whitehead bzw. ihren Nachfolgern suchen. Leider kenne ich diesen Bereich nur oberflächlich.

  4. Peter Nasselstein Says:

    Bin jetzt etwas unsicher, ob das in diesem Zusammenhang (also in dem, was Klaus und Jonas gesagt haben) überhaupt großartig Sinn macht, aber… Was soll’s: Wenn ich das richtig verstanden habe, geht die heutige Wissenschaft davon aus, daß es „im Grunde“ ausschließlich stochastische Prozesse gibt. Sie bemüht sich darum, diese Wirklichkeit so weit wie irgend möglich in Modelle („Scheinbilder“) zu überführen, die dann deterministisch behandelt werden können. Eine Welt des „Als ob“. Das das weitgehend funktioniert, gibt man sich damit zufrieden. Vorstellungen wie das Orgon sind in einem solchen Weltbild vollkommen überflüssig. Auch der orgonomische Funktionsbegriff findet in dieser Denkweise keinen Ort.

    Diese Weltsicht beruht wohl auf dem Umbruch den einerseits die Quantenmechanik gebracht hat (rein stochastische Sichtweise) und andererseits die Relativitätstheorie (das Denken in Modellen, „Gedankenexperimente“). Beide Sichtweisen sind natürlich unvereinbar bzw. nur vereinbar wie oben erläutert.

    Klaus, Jonas, macht das so Sinn?

    • Klaus Says:

      Ich wüsste jetzt nicht, warum beides unvereinbar wäre.
      Und: Denken ist immer Denken in Modellen, unterstelle ich mal (vgl. z. B. Stachowiak, guckstu Google).
      Noch zu „Funktion“: Die Beispiele, die u. a. Nimtz in http://www.uni-bielefeld.de/philosophie/personen/nimtz/Papers/pbk08_Nimtz_2009_Physikalismus.pdf bringt (z. B. Korkenzieher), entsprechen schon sehr dem, was PN in seinem (hier irgendwo verlinkten) Text über org. Funktional. bringt (z. B. Fahrradsattel)

      • Peter Nasselstein Says:

        Unvereinbar, weil die Quantenmechanik vom Wirkungsquantum ausgeht: a nach b, was zwischen a und b passiert ist nicht definiert: Zufall. Die Relativitätstheorie ist hingegen streng deterministisch: jedenfalls prinzipiell ist jeder infinitesimal kleine Abschnitt zwischen a und b definiert.

        In beiden Sichtweisen gibt es keinen Platz für das Orgon: im ersten Fall wird es übersprungen (echte Physiker raufen sich jetzt angewidert die Haare, denn laienhafter kann man sich gar nicht ausdrücken!), im zweiten Fall bleibt gar kein Platz.

        Das funktionelle Fahrrad taucht hier auf: https://nachrichtenbrief.wordpress.com/2012/08/24/was-bedeutet-der-begriff-funktion/

      • Jonas Says:

        Zur Frage, ob Denken ausschließlich in Modellen abläuft, siehe unten.

        Zur Frage des Korkenziehers:
        Wenn ich Nimtz richtig verstehe, bleibt er dabei stehen, dass es eine Eigenschaft des Korkenziehers ist ein Korkenzieher zu sein. Da diese Eigenschaft multi-realisierbar ist, kann sie nicht auf die physikalischen Eigenschaften des konkreten Korkenziehers reduziert werden. So weit, so gut.

        Aber sind „Dinge“ und ihre „Eigenschaften“ die letzten Stufen einer funktionellen Beschreibung? Folgt man dem orgomischen Funktionalismus, müsste man zunächst fragen, warum gibt es den Korkenzieher, warum will der Mensch eine Weinflasche öffnen, warum wird der Wein überhaupt in Flaschen aufbewahrt etc. Es eröffnet sich also ein System von Relationen.

        Welche dieser Funktionen man weiter verfolgt, man kommt in absehbarer Zeit wohl immer wieder auf „Grundfunktionen“ des Orgons zurück. Etwa dann, wenn der Mensch mit seinen psychophysiologischen Bedürfnissen ins Spiel kommt („Wein trinken wollen“ oder ähnlich, man verzeihe mir, dass ich keine lückenlose Beschreibung gebe).

        Und wenn ich die Orgonomie ernst nehme, komme ich damit in Bereiche, wo es keine „Dinge“ als Träger von Eigenschaften mehr gibt, sondern nurmehr orgonotische Phänomene. In diesem Sinne wären diese Phänomene also die Funktionsprinzipien, damit also das, was den „Eigenschaften“ späterer Systeme zugrunde liegt.

        Dies ist vielleicht eine Form von Physikalismus, die mit Nimtz‘ Defintion vereinbar ist. Aber er steckt natürlich eine „Physik“ dahinter, die sich von der akademischen Physik grundlegend unterscheidet, auch wenn sie den Anspruch auf empirische Überprüfbarkeit erhebt.

      • Peter Nasselstein Says:

        Unvereinbar, weil die Quantenmechanik vom Wirkungsquantum ausgeht: a nach b, was zwischen a und b passiert ist nicht definiert. Die Relativitätsteorie ist hingegen streng deterministisch: jedenfalls prinzipiell ist jeder infinitisimal

    • Jonas Says:

      Hm, ich versuche mal, einige eher spontane Gedanken zu ordnen:

      Ob die (Natur-)Wissenschaft nur stochastische Prozesse zulässt, kann ich nicht beurteilen. Die Modell-Problematik ist aber virulent, zumindest in der Wissenschaftstheorie.

      Ich denke, sauber arbeitenden Naturwissenschaftlern sollte klar sein, dass sie nur im Rahmen von Modellen sprechen. Gerade die Physiker räumen ja normalerweise ein, dass sie nicht zuständig für größere Zusammenhänge sind – ich kenne zumindest keinen Physiker, der den Anspruch erhebt, ökonomische, psychologische oder soziologische Zusammenhänge innerhalb seiner Methodik beschreiben zu können.

      Vermutlich gibt es deswegen gerade unter Physikern den Hang zum Mystizismus (vgl. Bohm, Dürr, Heim etc.), um das Zerstückelte wieder zusammen zu setzen.

      Die Frage, ob Denken ausschließlich in Modellen abläuft, ist knifflig. Wenn es so wäre, dann wäre der orgonomische Funktionalismus, der ja „alles“ versucht zu beschreiben, eine Art Supermodell. Wenn es „funktioniert“, dann ist es ein gutes Modell, wenn nicht, dann ist es gescheitert. Es kann aber aus prinzipiellen Gründen nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen, da ein Modell eben per Definition nicht mit der Wirklichkeit zusammenfällt.

      Ich glaube aber, dass er über ein Modell hinausgeht, wenn man ihn in seinem eigenen Anspruch ernst nimmt. Die Orgonomie behauptet ja, dass es echten Kontakt zwischen Funktionen geben kann. Wenn das Denken nicht nur als Funktion beschreibbar ist, sondern wenn es tatsächlich eine Funktion ist, dann gibt es einen Berührungspunkt zwischen Wirklichkeit und Denken im orgonotischen Kontakt. Deshalb kann die Orgonomie ja auch die Grundlagen von Denkmodellen beschreiben, namentlich die Frage, ob die Denken im Kontakt zur Wirklichkeit steht oder nicht, und aus welchen Gründen.

      Im Grunde kommt man immer wieder auf das Leib-Seele-Problem zurück, oder präziser: auf die Frage, wie sich Mentales zum Materiellen verhält. Hier stecken ja auch die größten Probleme des Modell-Konstruktivismus, denn woher kommen die Modelle? Sind sie Epiphänomene der Materie, sind sie im Grunde mit der Materie identisch (Materialismus), oder geht umgekehrt das Mentale sogar dem Materiellen voraus (Idealismus)?

      Im Grunde ist der Modell-Konstruktivismus eher idealistisch, denn wenn Denken immer in Modellen stattfindet, dann ist die Materie, als das Kantsche „Ding an sich“, streng genommen bedeutungslos, da wir ontologisch nicht das geringste über sie wissen können. Wir entwickeln nur Modelle über Wahrnehmungen und über mögliche weitere Wahrnehmungen. Ob Wahrnehmung oder Modell etwas über eine „äußere“ Wirklichkeit aussagen (etwa als wahrheitswertfähige Repräsentation), bleibt unentscheidbar, auch wenn man darüber wieder kohärente Modelle bilden kann. Was wir „Materie“ nennen, wäre immer nur eine Konstruktion.

      Da dies vielen Philosophen nicht befriedigend erscheint, gibt es den Versuch, einen neuen Materiebegriff zu entwickeln, etwa im Panpsychismus: die Materie muss soll von Anfang an eine Art „Keim“ mentaler Gehalte mitbringen. Dies hängt etwa mit dem Qualia-Problem zusammen: es ist sehr schwer erklärbar, wie das phänomenale Bewusstsein aus der naturwissenschaftlich erforschbaren Materie hervorgehen soll.

      Die Orgonomie geht – glaube ich – in eine ähnliche Richtung wie der Panpsychismus, wenn sie behauptet, dass die orgonotischen „Urfunktionen“ bereits die Möglichkeit zur Erregung und zu Kontakt aufweisen. Damit lässt sich möglicherweise relativ „lückenlos“ erklären, warum wir Empfindungen, Bewusstsein und Gedanken haben, und in welchem Fall unsere Gedankenmodelle, die es ja zweifellos „gibt“, in Kontakt zur übrigen Wirklichkeit stehen, und wann nicht.

      Das Problem verschiebt sich dann auf die Erforschung dieser „Urfunktionen“. Hier ist der orgonomische Funktionalismus konsistent, wenn er auch subjektive Phänomene gelten lässt. Er kann sie ja objektiv gegenprüfen und ihre Genese beschreiben, sie darin zudem nach Wahrheitskriterien bewerten.

      Kurz: es bräuchte einen neuen Begriff des „Materiellen“. Die Orgonomie scheint gerade ein Entwurf eines solchen zu sein, der sich der empirischen Überprüfbarkeit stellt. Hier liegt vielleicht ihr Vorsprung gegenüber mystischen Vorstellungen (man denke etwa an die esoterische, bestenfalls spekulative „Quantenmystik“).

      • Peter Nasselstein Says:

        Physiker und Mystizismus: Physiker sind bizarre Figuren, denn einerseits abstrahieren sie alles brutalst (eine Kuh ist eine hohle Kugel, in die grüner Stoff eingeführt wird und weißer Stoff herausgesaugt wird) – dröger geht es nicht, doch andererseits leben sie gerade deshalb in einer rein geistigen Welt: Geometrie, Symmetrien, Plato. Der unbedingte Glaube an die Mathematik. So wurde beispielsweise das Positron entdeckt: auf einem Zettel Papier.

      • Klaus Says:

        „immer wieder auf ‚Grundfunktionen’ des Orgons“ Sorry, die Intuition mag ja etwas Wahres treffen, aber mit dieser Rede von den ‚Grundfunktionen’ fasst man einen Berg von ungeklärten Voraussetzungen zusammen.
        Dass zum Beispiel in best. Kontexten Angst aus derselben ‚Energie’ wie Lust, ‚gegen’ die sie sich richtet, ‚gespeist’ ist (daher dann die Pfeilmodelle in der FO), ist schon eine Modellierung, die eine Art Flussbettmetapher voraussetzt und nicht begründet. Sie wird durch die charakteranalytischen Therapiebeobachtungen ungemein nahe gelegt. Ich glaube zwar, dass da etwas dran ist, würde aber eine derart metaphorische Annahme nicht als Riesenerkenntnis feiern, zumal Ähnliches (‚Monistisches’) schon oft behauptet wurde. Eine Begründung einer Orgonthese bahnt sich am ehesten um 1939 mit den Beobachtungen sowohl aus der Therapie als auch mit den SAPA’s und dem Kaninchenfellkasten an.

        Meines Erachtens ist es sehr abwegig nicht anzunehmen, Denken sei Denken in einer Art Modellen (und mag einem Wunsch nach der ?Erkenntnis eines ‚Dings an sich’? durchaus ähnlich sein). Mit der Rede vom ‚echten Kontakt’ fasst man wohl eine Idee vom ´von ‚sekundären Impulsen’ freien’ Fühlen zusammen, was ja schon eine Menge Theorie voraussetzt. Daher erscheinen mir viele verschiedene Erfahrungsberichte verschiedener Leute z. B. mit ORAC’s Erkenntnis versprechender als Orgonomenjargon.

        Die Rede vom ‚echten Kontakt‘ zielt zudem v. a. auf Gefühle ab; was die wiederum mit Orgon zu tun haben, erklärt man sich ggf. nach Denk-MODELLEN!

        • Peter Nasselstein Says:

          In WHERE IS THE TRUTH? erinnert sich Reich, wie seine psychoanalytischen Kollegen Anfang der 1930er Jahre sofort mit der Diagnose „Schizophrenie“ zur Hand waren, als Reich von dem berichtete, von dem typischerweise auch Schizophrene berichten: von Strömungen im Körper. An diese haben sich unmittelbar die bioelektrischen und die Bion-Experimente angeschlossen und damit die Entdeckung des Orgons: der Versuch das subjektiv empfundene zu objektivieren.

          Währenddessen haben die gleichen psychoanalytischen Kollegen ein spinnertes Modell des innerpsychischen Funktionierens nach dem anderen geschaffen.

          • Klaus Says:

            Ja, auf welche Modelle man aufgrund welcher Erfahrungen schließen darf, hat mit der Logik zu tun, die man zugrundelegt.

  5. O. Says:

    Reichs funktionelles Denken, das er als orgonomische (Denk-) Methode versteht, scheint auf logischen Schlüssen gebaut zu werden, die auch das subjektive Erleben mit einbeziehen möchte. Freuds Assoziationsketten (des Un- und Halbbewußten) sind hier nicht berücksichtigt. Die Intuition wird bei Reich postum bewertet und geordnet in ein funktionelles Flussdiagramm.

    Es entsteht in der Abstraktion der experimentellen Ergebnisse ein Modell, eine Orgonometrik, ein orgonomischer Funktionalismus – jedoch zunehemend jenseits des Orgon.

    Der Aufbau und das Ergebnis des Orgonexperimentes wird im funktionellen Denken umgewandelt in eine verstehende Sprache und „Gleichung“. Erkennnisse werden aus Interpretationen geschlossen und funktional analysiert. Sie werden ins orgonomische Weltbild passend erklärt.

    Bei dieser Form der Abstraktion bleibt das ursprüngliche Experiment außen vor, unberührt. Es mag gelungen oder gescheitert sein. Dies wird in der Abstraktion völlig unerheblich.

    Der orgonotische Sinn ist zum Abstraktum geworden, er erfühlt nicht mehr die Qualität des Experimentes.

    Das Orgonomische Denken schwebt über der Funktion des Orgons, diese noch abstrakt verstehend und diskutierend, aber längst nicht mehr wahrnehmend.

    Wenn das funktionelle Denken nicht aus der Funktion des Orgon enstammt und auch den Kontakt zu ihr nur mäßig aufnehmen kann und ähnlich einem physikalischen Modell jenseits experimentellen Nachweises ist, sondern im Errechnen von Fehlerquellen und deren Auftretenswahrscheinlichkeiten im Nachgang des Experimentes gemessen wird, dann bleibt die Frage: Woher kommt das funktionelle „orgnomische“ Denken, das zur Methode wird, um Orgon annähernd zu verstehen?

  6. Klaus Says:

    @Jonas
    An diesen Fragen krankt die ganze Orgondiskussion in erster Linie – umso mehr, als die meisten, die sich damit befassen, ein Wissenschaftstheorieverständnis haben, dass sich an der Lieblingslektüre der ‚Neuen Linken’ oder an Reichs Lektüre orientiert. Ich würde es gerne später vertiefen, ggf. ‚unter wenigen Augen’.
    (Mich schreckt Whitehead noch sehr ab, ‚Festkörperlogik’ trifft meines Erachtens positivistische Intentionen nicht.)

    • Jonas Says:

      Vielleicht wäre folgender Ansatz mal zu prüfen, der auf den allerersten Blick recht anschlussfähig an einige Ideen Reichs scheint:

      Klicke, um auf jb.pdf zuzugreifen

      „The fundamental postulate of my approach is that the dialectical characteristics of energy discussed above — actual and potential, continuous and discontinuous; entropic and negentropic, identifying or homogenizing and diversifying or heterogenizing — can be formalized as a structural logical principle of dynamic opposition, an antagonistic duality inherent in the nature of energy and accordingly applicable to all phenomena, physical and mental, including information, propositions and judgments.“

      • Klaus Says:

        OK, ich schaue mal rein.

      • Klaus Says:

        Ich wollte mir eigentlich länger Zeit lassen; aber nach dem teilweisen Lesen und Durchblättern kam ich recht schnell zu folgendem Standpunkt:
        Ich bin nicht bereit, mich mit einer parakonsistenten Logik zu befassen, wenn ich eigentlich nur genauer – und nicht unbedingt mit Reichs oder ähnlichen Worten – formulieren will, inwiefern Reich richtig geschlossen hat. Und in erster Linie darum ging es mir.
        Das eine ist, Folgerichtigkeit bei Reich darzustellen. Dafür, scheint mir, dürften klassische Mittel (Aussagenlogik, Prädikatenlogik erster Stufe) genügen.
        Das andere ist, mit Hilfe einer Reformulierung einen ‚wahren Kerns’ seines ‚orgonomischen Funktionalismus’ zu beschreiben, wofür man sich mancher Hegeleien bedienen mag, anstatt die oft so gen. ‚Widersprüche’ der Art, dass zur Zeit t2 etwas gilt, was nicht zur Zeit t1 gilt, überhaupt nicht als widersprüchlich zu begreifen (sondern als Veränderung in der Zeit).
        Ich habe den Eindruck, dass Reich z. B. in der FO die berühmten Pfeildiagramme einführte ERST AUFGRUND seiner Annahme des Orgons (genauer: der Annahme, dass dieselbe ‚Energie’ z. B. Angst und Lust speist); also nicht so sehr das Orgon annahm aufgrund einer neuartigen orgonomisch-funktionalistischen Methode.

Hinterlasse eine Antwort zu Klaus Antwort abbrechen

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..