Nietzsche und die Entwicklung des Menschen (Teil 2)

1870 notierte sich Nietzsche, daß der Mensch sich den Tieren nicht als zugehörig empfinde (Studienausgabe, Bd. 7, S. 102). Er fügt hinzu, der Mensch müsse sich durch die Illusion des Nichttierseins dem „Gesamtzweck des Weltwillens“ entziehen, denn nur im Wahn seiner Überweltlichkeit könne er Frieden finden. Anders als bei Reich konnte bei ihm also von einer „Rückkehr zur Natur“ nicht die Rede sein.

Zwar gab Nietzsche 18 Jahre später an, auch er rede von „Rückkehr zur Natur“, doch diese sei „eigentlich nicht ein Zurückgehen, sondern ein Hinaufkommen“ (Götzendämmerung, Streifzüge eines Unzeitgemäßen, A 48). Wie nahe Nietzsche der Vorstellung der Orgonomie kommt und wie gleichzeitig unendlich fern er ihr steht (da er primäre und sekundäre Triebe nicht ausreichend trennt), zeigt folgende Stelle aus Der Antichrist (A 3):

Nicht was die Menschen ablösen soll in der Reihenfolge der Wesen ist das Problem … (– der Mensch ist ein Ende –): sondern welchen Typus Mensch man züchten soll, wollen soll, als den höherwertigeren, lebenswürdigeren, zukunftsgewisseren. Dieser höherwertigere Typus ist oft genug schon dagewesen, aber als ein Glücksfall, als eine Ausnahme, niemals als gewollt. Vielmehr ist er gerade am besten gefürchtet worden, er war bisher beinahe das Furchtbare – und aus der Furcht heraus wurde der umgekehrte Typus gewollt, gezüchtet, erreicht: das Haustier, das Herdentier, das kranke Tier Mensch, – der Christ

Von Stirner und Nietzsche beeinflußt schrieb Reich 1920, der Mensch müsse sich aus seinen infantilen inzestuösen Bindungen lösen, genauso habe die ganze Menschheit in ihrer „geistigen Phylogenese“ die Reife des Mannes zu erlangen, der „er selbst“ ist, „wie es einzelnen Individuen in der Ontogenese tausendfach gelang“. Die Menschheit befinde sich also noch auf der „infantilen Stufe“ und der Fortschritt liege in der „phylogenetischen Reifung“ der Menschheit hin zur „geistigen Individualität“ (Frühe Schriften, S. 71).

Die Psychoanalyse hat Freuds „Libido“ mit dem platonischen „Eros“ gleichgesetzt (siehe dazu auch Götzendämmerung, A 23). Der Nietzsche-Interpret Walter Kaufmann hat das gleiche mit Nietzsches Willen zur Macht getan. Nietzsche lasse keinen Zweifel daran, „daß dieser Trieb der Eros ist, der sich erst in der Selbstvervollkommnung erfüllen kann“ (Nietzsche, Darmstadt 1988, S. 298). Bei Reich ist diese Erfüllung identisch mit Genitalität, d.h. der liebevollen Selbsthingabe, bei Nietzsche mit dem antiken „hedonistischen“ verfeinerten, andauernden Glück der Selbstüberwindung. Der erste Psychologe Nietzsche spricht hier von der Sublimation, wie sie später auch Freud verstand – die Reich dann durch sein Konzept der Genitalität ersetzte.

Nietzsches Meisterung des Chaos durch eine bezwingende Idee („Wille zur Macht“) wird durch Reichs Genitalität („Hingabe“) aufgehoben, die wiederum dem Platonischen „Eros“ entspricht, d.h. dem Hingezogensein aus der Welt der bloßen Schatten zu den perfekten schönen Gestalten der Ideenwelt. Doch hinter der „übersinnlichen Realien“ des Platon verbirgt sich etwas sehr Sinnliches, das als genitale Umarmung identisch ist mit dem allgemeinen Funktionsprinzip der kosmischen Überlagerung und schließlich mit jener Ewigkeit, die sich am Höhepunkt des Tages, dem Platonischen „Großen Mittag“ Nietzsches, wenn die Sonne im Zenit steht und die Schatten verschwinden, aktualisiert. Erst Reich hat das mit Leben erfüllt, was die beiden, jedenfalls nach Kaufmans Einschätzung, größten Denker der Menschheit (Platon und Nietzsche) halbfertig – erdachten. Immerhin kam Nietzsche dem schon sehr nahe (und stand ihm gleichzeitig sehr fern) als er schrieb:

Die eigentlichen Epochen im Leben sind jene kurzen Zeiten des Stillstandes, mitten innen zwischen dem Aufsteigen und Absteigen eines regierenden Gedankens oder Gefühls. Hier ist wieder einmal Sattheit da: alles andere ist Durst und Hunger – oder Überdruß. (Der Wanderer und sein Schatten, A 193)

Was sekundäre Triebe betrifft entspricht die Nietzschesche Sublimation des Willens zur Macht, die zur aristokratischen Noblesse, menschlicher Größe und Gerechtigkeit führt, dem „Erkenne dich selbst“ aus Reichs Rede an den Kleinen Mann. Doch ansonsten steht Nietzsche sicherlich Freud näher als Reich, wie die Kapitelüberschriften des Hauptteils von Kaufmanns Buch zeigen:

Nietzsches Philosophie  der Macht: „Moral und Sublimierung“, „Sublimierung, Geist und Eros“ und „Macht gegen Lust“

Nietzsche ging es wie Freud um Bändigung, Sublimierung und (im Sinne Hegels) Auf-Hebung der Natur, was zwar nicht schlichtweg mit der Unterdrückung der Natur gleichzusetzen ist, aber bei einer mangelnden Unterscheidung zwischen primären und sekundären Trieben doch darauf hinausläuft.

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6 Antworten to “Nietzsche und die Entwicklung des Menschen (Teil 2)”

  1. Avatar von Jonas Jonas Says:

    „Bei Reich ist diese Erfüllung identisch mit Genitalität, bei Nietzsche mit dem antiken „hedonistischen“ verfeinerten, andauernden Glück der Selbstüberwindung.“

    Was zeigt, dass Michel Foucaults ominöse „Philosophie der Sexualität“, die in den 1980ern als „Überwindung Wilhelm Reichs“ gefeiert wurde, in den Grundzügen von Nietzsche plagiiert wurde (wie eigentlich so ziemlich alles, was Foucault geschrieben hat). Auch Foucault bezieht sich auf die antiken Ideale und möchte die Sexualität durch eine „Sorge um sich“, durch eine Kultivierung der Lüste ersetzen.

  2. Avatar von Klaus Klaus Says:

    „jedenfalls nach Kaufmans Einschätzung, die beiden größten Denker der Menschheit (Platon und Nietzsche) halbfertig“
    hier fehlt mir jetzt ein Lach-Smiley :-))))))))))

  3. Avatar von O. O. Says:

    Die mangelnde Unterscheidung der primären und sekundären Triebe führt ins philisophische Chaos, diese Triebe werden vielmehr mit einander vermischt, so dass das sexuelle gleich das zerstörerische sei, das Tier im Mensch, dass es zu bändigen oder überwinden gelte.

  4. Avatar von Robert (Berlin) Robert (Berlin) Says:

    Freud war doch der Meinung, die Gesellschaft fordere Triebverzicht, weil die menschliche Natur barbarisch sei.

  5. Avatar von Stefan Wehmeier Stefan Wehmeier Says:

    „Nur, wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern – so lehre ich’s dich – Wille zur Macht!“

    Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra.

    Mit dem Willen zur Macht ist keinesfalls das Beherrschenwollen anderer Menschen gemeint, sondern das Beherrschenwollen der Dinge. Hier liegt der zentrale Denkfehler derer, die die Philosophie Nietzsches nicht verstehen, weil sie entweder das eigene Beherrschtwerden für eine „Tugend“ halten, oder selbst nichts anderes im Sinn haben, als andere zu beherrschen. Gerade dieses Beherrschen und Beherrschtwerden, die Fremdbestimmung, mit der sich alle gegenseitig auf die Füße treten und behindern, gilt es zu überwinden, damit der darum bis heute noch machtlose Mensch zum „von Göttern und Anbetungen erlösten Übermenschen“ wird, der über die wahre Macht, die Beherrschung der Dinge, verfügt. Nietzsche lässt seinen Zarathustra drei geistige Verwandlungen beschreiben, in denen die Fremdbestimmung des Kulturmenschen zuerst maximal war, dann reduziert wurde und zuletzt ganz verschwindet:

    Von den drei Verwandlungen

    Der Übermensch ist der selbstbestimmte Mensch in der Natürlichen Wirtschaftsordnung und der fiktive Prophet Zarathustra ist der echte Jesus von Nazareth (nicht in der Bibel zu finden):

    Glaube Aberglaube Unglaube

    Allein die Programmierung des kollektiv Unbewussten mit dem künstlichen Archetyp Jahwe, die einerseits die Menschheit aus der unbewussten Sklaverei des Ursozialismus bzw. Staatskapitalismus (z. B. vorantikes Ägypten) befreite, aber andererseits dem noch immer unbewussten Kulturmenschen die systemische Ungerechtigkeit der Erbsünde nicht erkennen ließ, verhinderte bis heute den eigentlichen Beginn der menschlichen Zivilisation:

    Macht oder Konkurrenz

    Der heutige Stand des Wissens und der Technologie, aber ohne Massenarmut und Umweltzerstörung, hätte schon im 3. oder 4. Jahrhundert nach Jesus von Nazareth erreicht werden können, wenn die Menschheit begriffen hätte, dass wahre Nächstenliebe (Eigennutz = Gemeinnutz) nichts anderes ist als vollkommene marktwirtschaftliche Konkurrenz:

    Marktgerechtigkeit

    Die primitivste Kulturstufe ist eine sozialistische Planwirtschaft (Staatskapitalismus), in der die marktwirtschaftliche Konkurrenz ausgeschaltet ist. Ein jüngeres Beispiel war der „Schrotthaufen DDR“, der in nur 20 Jahren Marktwirtschaft – auch wenn es noch immer eine kapitalistische Marktwirtschaft mit eingeschränkter Konkurrenz ist – in einen halbwegs zivilisierten Zustand gebracht wurde. Was ist in nur 20 Jahren Freiwirtschaft zu erreichen?

    Die Natürliche Wirtschaftsordnung ist gegenüber der kapitalistischen Marktwirtschaft noch bedeutend leistungsfähiger als diese gegenüber dem Staatskapitalismus. Schon ab der gesetzlich verbindlichen Ankündigung der freiwirtschaftlichen Geld- und Bodenreform wird kein Mensch mehr verhungern müssen, und beim heutigen Stand der Technologie ist es nicht übertrieben zu sagen, dass in nur 5 Jahren Freiwirtschaft die globale Vollbeschäftigung erreicht ist, während die Umweltbelastung nicht etwa erhöht, sondern bereits drastisch gesenkt wird. In 20 Jahren Freiwirtschaft sollten alle Recycling-Prozesse so weit entwickelt sein, dass eine weitere Umweltbelastung kaum noch messbar ist, und der allgemeine Wohlstand sollte ein Niveau erreicht haben, bei dem 20% der heutigen Arbeitszeit für einen Lebensstandard ausreichen, der heute als „überaus luxuriös“ angesehen wird. Das ist der Vorteil der Beherrschung der Dinge gegenüber dem Beherrschenwollen anderer Menschen, wenn nur die Basistechnologien berücksichtigt werden, die heute schon vorhanden sind.

    Wohlstand für alle

    „Die Schaffung von Reichtum ist durchaus nichts Verachtenswertes, aber auf lange Sicht gibt es für den Menschen nur zwei lohnende Beschäftigungen: die Suche nach Wissen und die Schaffung von Schönheit. Das steht außer Diskussion – streiten kann man sich höchstens darüber, was von beidem wichtiger ist.“

    Arthur C. Clarke (Profile der Zukunft)

    Der Wille zur Macht ist mehr als der Wille zum Leben. Allgemeiner Wohlstand, eine saubere Umwelt und der Weltfrieden sind in der Natürlichen Wirtschaftsordnung selbstverständlich. Das Entscheidende ist die Entfaltung der individuellen Kreativität. Zum Übermenschen wird der Mensch, indem die ganze Volkswirtschaft auf seine Ideen so reagiert, wie ein audiophiler Leistungsverstärker auf die feinsten Änderungen seines Eingangssignals. In der Summe ergibt das eine Welt, in der so etwas wie „Alltag“ nicht mehr existiert.

  6. Avatar von Peter Nasselstein Peter Nasselstein Says:

    Ist ein Auschwitz in „unserer Demokratie“ wieder möglich, wenn es nach Merz geht?

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