von Dr. med. Dr. phil. Barbara G. Koopman
Entsteht ein neuer Trend?
Kehren wir zu unserer ursprünglichen Frage zurück, was in der sexuellen Revolution schiefgelaufen ist. Zufällig kamen mir einige Gedanken zu dieser Frage in den Sinn, als ich gerade dabei war, Reichs The Impulsive Characterb (2) zu übersetzen, eine klassische Monographie, die 1925 geschrieben wurde, aber immer noch bedeutend und aktuell ist. Im Jahr 1925 ließ kein angesagter Analytiker jemals einen triebhaften Charakter in sein Büro kommen. Die Analytiker der damaligen Zeit beschäftigten sich hauptsächlich mit Neurotikern und deren Verdrängungen. Aber in der kostenlosen Klinik, die er leitete, hatte Reich seinen ersten Kontakt mit den mittellosen Schichten. Dies führte zu einer eingehenden Untersuchung einer Art von Charakterstörung, die er als „triebhaft“ bezeichnete und die eine starke Verwandtschaft mit dem Psychopathen aufweist. Obschon einige von Reichs Fällen kaum vom Schizophrenen zu unterscheiden sind, wird die Charakterstörung allgemein als ein Zwischentyp zwischen einem neurotischen Charakter (z.B. hysterisch, zwanghaft, etc.) und einem psychotischen angesehen. Wie dem auch sei, Reichs Studie über die Genese und Struktur des Triebhaften von 1925 hat unser Verständnis des gegenwärtigen Psychopathen erheblich bereichert.
Im heutigen Umfeld der scheinbaren sexuellen Freiheit weichen die alten Zwänge – doch die daraus hervorgehende Charakterstruktur ist weit entfernt von Genitalität. Ich glaube, dass sich in unserer Gesellschaft ein neuer Trend emotionaler Krankheiten abzeichnet: Der praktizierende Psychiater von heute sieht möglicherweise eine andere Art von Patienten im Entstehen – eine Übergangsform zwischen dem triebgehemmten Neurotiker und dem triebgesteuerten Psychopathen. Es ist der letztere Typus, der einige Gemeinsamkeiten mit dem von Reich beschriebenen triebhaften Charakter aufweist. Man muss sich nur im Fernsehen die Filme der 50er Jahre ansehen, um den eklatanten Wandel in der Kultur zu erkennen, der sich innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte vollzogen hat. Die jungen, anständigen Leute in diesen Filmen sehen für die abgestumpften Augen der „coolen Typen“ von heute wie „Spießer“ aus. Erstere sind die triebgehemmten neurotischen Typen, die in einer Atmosphäre der sexuellen Unterdrückung aufgewachsen sind, während unsere coolen „Hipster“ von heute eine lockerere psychische Struktur verkörpern, die von gemischten Übergangstypen bis, im Extrem, hin zum ausgewachsenen Psychopathen reicht.
Ich will damit nicht implizieren, dass die Mehrheit der heutigen jungen Menschen diese Entwicklung beispielhaft zeigen. Es gibt jedoch zwei Gruppen in unserer Gesellschaft, bei denen ich das Gefühl habe, dass sie erkennbar ist: die Gruppe der städtischen Hochschüler und die der Benachteiligten. Hier kann man ein breites Spektrum von Übergangstypen sehen, alle Formen von Neurotikern mit einem Hauch von Psychopathie (deren Kinder oder Enkelkinder zunehmend triebhafte Züge zeigen können) bis hin zu den ausgewachsenen, triebgesteuerten Psychopathen, die sich am äußersten Pol sammeln.
Anmerkungen des Übersetzers
b Wilhelm Reich: The impulsive character and other writings; translated by Barbara G. Koopman. New American Library, New York 1974
Literatur
2. Reich, W.: The Impulsive Character. In Fortsetzungen veröffentlicht in Journal of Orgonomy, 4:4-18,149-166,1970; 5:5-20,124-143,1971; 6:4-15,1972
[Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Charles Konia.
Journal of Orgonomy, Jahrgang 7 (1973), Nr. 1, S. 40-58.
Übersetzt von Robert Hase]
Schlagwörter: Analytiker, Charakterstruktur, coole Typen, Hipster, Lumpenproletariat, Mittellose, Neurotiker, neurotischer Charakter, Psychopathen, Psychopathie, Schizophrene, sexuelle Revolution, Spießer, triebhafter Charakter, untere Schichten, Zwänge
23. April 2021 um 07:28 |
„Reichs The Impulsive Character zu übersetzen“
Damit ist in Deutsch das Buch „der triebhafte Charakter“ gemeint, was es z.B. neu als photomechanischen Nachdruck von Inktank Publishing gibt (https://www.amazon.de/triebhafte-Charakter-Wilhelm-Reich/dp/3747761895). Oder in: Frühe Schriften 1929-1925, Verlag Kiepenheuer & Witsch.
Nebenbei: Inktank bringt auch „Der sexuelle Kampf der Jugend“ als photomech. Nachdruck heraus.
„wird die Charakterstörung allgemein als ein Zwischentyp zwischen einem neurotischen Charakter (z.B. hysterisch, zwanghaft, etc.) und einem psychotischen angesehen.“ Was man heute sicherlich als Borderliner bezeichnen würde.
„eine andere Art von Patienten im Entstehen“ Darum heißt der Titel auch „Das Aufkommen des Psychopathen“.
„Die jungen, anständigen Leute in diesen Filmen sehen für die abgestumpften Augen der „coolen Typen“ von heute wie „Spießer“ aus.“ Umgekehrt würde unsere Gesellschaft für sie wie ein dystopischer SciFi-Film aussehen.
„die Gruppe der städtischen Hochschüler und die der Benachteiligten.“ Es ist schwer zu sagen, inwieweit es heutzutage weiter ging. Weil diese Hochschüler sind heutzutage teilweise die Aktivisten von grün-linken Gruppen, aber auch Cannabis-Abhängige. Und die Benachteiligten sind, zumindest in Deutschland, nur noch marginale Randgruppen, die durch die migrantische Lawine bedeutungslos geworden sind.
26. April 2021 um 17:30 |
„Man muss sich nur im Fernsehen die Filme der 50er Jahre ansehen, um den eklatanten Wandel in der Kultur zu erkennen, der sich innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte vollzogen hat.“