Posts Tagged ‘Neurotiker’

Reflektionen über Max Stirner von konservativer Warte (Teil 52)

28. Februar 2023

[Diese Reihe soll zur Auseinandersetzung mit Bernd A. Laskas LSR-Projekt animieren.]

Wie du im Bett bist zeigt sich im täglichen Leben – nicht umgekehrt. Wer nicht arbeiten kann (was leicht überprüfbar ist!), kann auch nicht orgastisch potent sein. Wer keine klare Gedankenfolge hinkriegt, kriegt auch keine „orgastische Folge“ hin, den Spannungsbogen. Wer nicht mal auf ein einfaches Gegenargument angemessen reagieren kann, wie will der „in der Hitze des Gefechts“ hingabefähig sein? Wer seine Frau in eine peinliche Lage bringt, wie will der ausgerechnet im Bett zärtlich sein? Reich hatte ein einfaches Kriterium: den Gang. Der eine geht wie ein Schauermann, der andere wie John Wayne, ein anderer wie ein Bär und jener wie ein Militär, aber keiner geht einfach nur. Jene, die einfach nur gehen, sind orgastisch potent (bzw. nahe dran), d.h. sie sind einfach sie selbst. Sie sind nicht besessen, sondern Eigner ihrer selbst.

Der Mund formt die Worte „Ich bin orgastisch potent!“ – bzw. eine äquivalente „sexualrevolutionäre“ Aussage, doch wie der Mund das sagt, die Stimme, die Augen und die Körperhaltung sagt dem Außenstehenden das Gegenteil. Wenn Besessene Freiheit spielen, kann daraus nur ein grotesker Totentanz werden. Wie Reich gemäß Bernd Laskas Übersetzung in Christusmord schrieb:

Wäre es der frühen Sexualökonomie Ende der zwanziger Jahre gelungen, eine Massenbewegung auf „Sexual-POLITISCHER“ Grundlage voll zu entwickeln, so wäre damit eine der schwersten Katastrophen in der Geschichte der Menschheit eingeleitet worden. (S. 358)

Reich meinte so ungefähr das, was sich seit ca. 1960 entwickelt hat: Freiheit statt Verantwortung, Primärtugenden („die Wahrheit“) statt Sekundärtugenden („die Gegenwahrheit“) und schließlich: Frieden (Zwang und Unterdrückung alles Primären) statt Freiheit.

Reich fordert dazu auf, „mit allen Mitteln“ zu versuchen, „die pornographische Flut einer Epidemie permissiver Fickerei einzudämmen“ (ebd., S. 183). Denn es gäbe „kaum einen Zweifel, daß eine (…) Periode permissiver Fickerei (…) jede Spur einer menschlichen Existenz auslöschen würde, ohne auch nur etwas Glück und Befreiung zu bringen“ (ebd., S. 184). Natürliche Liebe, die sich in tote Genitalien ergießt, wird zu Haß und stumpfen Mord am sozialen Dasein“ (ebd., S. 186).

Apropos „Revolutionäre“: Wer orgastisch potent ist, ist per definitionem ein genitaler Charakter und ein genitaler Charakter ist keinen widrigen Umständen unterworfen, da er sich selbst seine Umstände schafft. Der Neurotiker ist an die kranke Firma gebunden, weil er keine neue, bessere Arbeit findet. Der genitale Charakter ist so frei von irrationalen Ängsten, daß er an einem Tag (statt ins Arbeitsamt zu gehen und sich einer toten und tötenden Bürokratie auszusetzen) alle infrage kommenden Firmen der Gegend abklappert – und wegen seiner offenen und aktiven Art wird er mit Garantie sofort eine neue Anstellung finden. Da er nicht ängstlich ist und seinen eigenen Einschätzungen vertrauen kann, geht er rationale Risiken ein – und kann deshalb gewinnen.

DER VERDRÄNGTE CHRISTUS / Band 2: Das orgonomische Testament / 19. Die Dogmatik der Christusmörder: Das befreite Fließen der kosmischen Lebensenergie

10. Februar 2023

DER VERDRÄNGTE CHRISTUS / Band 2: Das orgonomische Testament / 19. Das befreite Fließen der kosmischen Lebensenergie

Reflektionen über Max Stirner von konservativer Warte (Teil 28)

19. November 2022

[Diese Reihe soll zur Auseinandersetzung mit Bernd A. Laskas LSR-Projekt animieren.]

Der bioenergetische Kern des „enkulturierten“ Individuums ringt um Ausdruck oder Befreiung, auch wenn es sich bloß um den Ausdruck sekundärer Triebe handelt (etwa die Rebellion der „bösen Jungs“ bzw. „bösen Mädchen“). Dabei ist der Kontakt zum eigenen Kern nicht vom Kontakt zur sozialen Umwelt zu trennen. Ist das eine defizitär, kann es auch mit dem anderen nicht weithersein.

Leider war Stirner vorzugsweise bei Homosexuellen und anderen Neurotikern und Perversen beliebt, d.h. allen, die fundamental anders waren und darauf beharrten, daß sie halt so sind, wie sie sind, eben „eigen“. Man denke nur an die Homosexuellenhymne schlechthin:

Ich bin, was ich bin. Ich bin, was ich bin. Ich bin meine eigene besondere Schöpfung. Also komm und sieh es dir an. Schieb den Vorhang zu oder gib mir Ovationen. Es ist meine Welt. Ich möchte ein wenig Stolz haben. Meine Welt, kein Ort, an dem ich mich verstecken muß. Das Leben ist keinen Pfifferling wert, solange ich nicht sagen kann: Ich bin, was ich bin.

Ich bin, was ich bin. Ich will kein Lob. Ich will kein Mitleid. Ich schlage meine eigene Trommel. Manche halten es für Lärm, ich denke, es ist schön. Und was ist dagegen zu sagen, wenn ich jedes Glitzerzeug und jeden Armreif liebe? Warum nicht versuchen, die Dinge aus ’nem anderen Blickwinkel zu sehen? Dein Leben ist eine Schande, bis du schreien kannst: Ich bin, was ich bin

Ich bin, was ich bin und was ich bin, bedarf keiner Entschuldigung. Ich verteile meine eigenen Karten, manchmal Asse, manchmal Nieten. Es gibt nur ein Leben und es gibt keine Rückgabe und keine Kaution. Ein Leben, also ist es Zeit, dich zu dir zu bekennen. Das Leben ist keinen Pfifferling wert, wenn du nicht schreien kannst: Ich bin, was ich bin

Ich bin gut. Ich bin stark. Ich bin würdig. Ich gehöre dazu. Ich bin nützlich.

Das hat das Zeug auch die Hymne aller Transgender- und Transhuman-„Dingsbumse“ zu werden – im vermeintlichen Geiste Stirners.

Oder man denke an die Erziehung, wo Stirner ebenfalls einen untergründigen Einfluß hat. Ich glaube, daß ausgerechnet jene Eltern, die „ideologisch“ dem Reichschen „Kinder der Zukunft-Projekt“ vielleicht noch am nächsten stehen, in Einzelfällen mehr Schaden anrichten als „unsere Eltern“. Beispielsweise glaubt eine „aufgeklärte“ Mutter, daß sie ihrem Kind ungemein nahe ist, wenn sie mit ihrer Tochter „um die Häuser zieht“ und sich ultraliberal verhält. Wahrscheinlich wird die Tochter aber nur durcheinander gebracht, lernt die Mutter (und alle Autoritätspersonen) verachten, fühlt sich ungeliebt und mißbraucht, zeigt extremes Verhalten, um doch noch eine genuin elterliche Reaktion zu provozieren, usw. Oder anders ausgedrückt: LSR bedeutet, daß die Kinder wirklich Kinder sein dürfen, ohne daß ihnen der Erwachsene implantiert wird, d.h. das Über-Ich, – und nicht, daß die Eltern selbst zu Kindern werden und überhaupt das ganze Land immer kindischer wird und dabei wohl noch glaubt „über-ich-freier“ zu sein. Langfristig ist das Gegenteil der Fall: die Menschen werden immer unselbständiger.

Was bei einer chaotischen Erziehung herauskommt, hat Reich bereits in seinem allerersten Buch, Der triebhafte Charakter, analysiert. Wer Sklave seiner eigenen Launen ist, ist eben nicht in sich voll integriert = ungepanzert, sondern innerlich zerrissen = gepanzert, d.h. von einer inneren Trennmauer durchzogen. Er unterscheidet sich von der üblichen wohlorganisierten Zerrissenheit des gehemmten Charakters (ein vernünftiges Ich vs. ein verständiges Über-Ich) nur dadurch, daß er noch zerrissener ist (ein wirres Ich vs. ein komplett unberechenbares sadistisches Über-Ich). Was gemeint ist, kann man überall an den heutigen selbstzerstörerischen grün-blau-lila-haarigen Kids sehen.

Reflektionen über Max Stirner von konservativer Warte (Teil 26)

27. Oktober 2022

[Diese Reihe soll zur Auseinandersetzung mit Bernd A. Laskas LSR-Projekt animieren.]

Man kann auf die grundsätzliche „Kern“-Rationalität des Menschentiers vertrauen, das keiner Ethik bedarf, die die angebliche Bestie in Zaum hält – eine Bestie, die durch die „Kultur“ erst erzeugt wird. In dieser Hinsicht kann eine LSR-Welt nichts „Neues“ unter der Sonne bringen, sondern nur das allerälteste freilegen. Andererseits ist natürlich klar, daß es nicht darum gehen kann, unser genetisches Material freizulegen (ich möchte jedenfalls nicht in einer Schimpansenwelt leben, obwohl die sinnenfrohen Bonobos…), sondern darum, im Reichschen Sinne noch „tierischer“ (also konkret „sexueller“, d.h. glücksfähiger) zu werden und in dieser Hinsicht ist die Entwicklungsmöglichkeit grenzenlos – aber erst in einer wirklich rationalen Gesellschaft und im Rahmen einer wirklich rationalen Wissenschaft, wie Reich sie vorschwebte.

Aber der Weg ist hoffungslos lang: erst das beseitigen, was die „Aufklärung“ angerichtet hat, dann das Über-Ich beseitigen, dann mit dem unvermeidlichen Chaos fertigwerden. Das konkrete Beispiel ist die antiautoritäre Gesellschaft, die aus den normalen Neurotikern lauter „Frühgestörte“ gemacht hat, d.h. aus den einstigen vor allem psychologisch gestörten lauter biophysisch gestörte Menschen, die nicht mehr normal lieben können, nicht mal wissen, ob sie Männlein oder Weiblein sind, nicht arbeiten können, man frage einen beliebigen Handwerksmeister nach der neusten Lehrlingsgeneration, und was Wissen betrifft, komplexe Sätze weder verstehend lesen noch selbst formulieren können.

Natürlich glaube ich nicht, daß wir jemals im Paradies leben werden, genausowenig wie ich glaube, daß selbst die allermatristischten Völker oder die Bonobos jemals im Paradies lebten. Aber verglichen mit dem gegenwärtigen Zustand…

Reichs Freund und dann haßerfüllter Gegenspieler, Otto Fenichel, hat etwas zum Thema zu sagen:

Ich möchte (etwas zu dem) Terminus „sekundäre Triebe“ sagen: Ein Grundbegriff der [Psychoanalyse] ist die „Wiederkehr des Verdrängten aus der Verdrängung“. Wenn ein Trieb auf eine Versagung stößt, so kehrt er in veränderter Gestalt wieder. – Wir kennen auch das Phänomen der „Dreischichtung“: Als Reaktion auf eine Triebabwehr stellt sich eine Wiedermobilisierung des ursprünglichen Triebes ein, der aber beim Durchgang durch die Abwehrschicht sein Gesicht und seinen Charakter verändert. – Wir wissen endlich auch aus täglicher Erfahrung, daß die Perversionen Erwachsener einer Abwehr der normalen genitalen Sexualität (Kastrationsangst) entsprechen und daß viele Charaktere des Sexuallebens („Lüsternheit“) zweifellos Folgen der vorangegangenen Sexualverdrängung sind. – Die Bezeichnung solcher durch eine Abwehrschicht hindurchgegangener Triebe als „sekundäre Triebe“ scheint mir aber eine doppelte Gefahr in sich zu bergen: erstens die, daß ältestes Erkenntnisgut der Freudschen Analyse durch eine neue Namensgebung wieder als eine Neuentdeckung ausgegeben werden kann. Zweitens und wichtiger aber: daß der primäre biologische Charakter der Triebe durch diese Namensgebung verwischt wird, (…) „nichts Biologisches“, sondern gesellschaftliches Kunstprodukt (…), und endlich dieser Terminus somit dazu benutzt wird, um wieder einmal „Der Mensch ist gut“-Romantik zu betreiben: alles, was im Triebleben eines Menschen unsozial oder überhaupt unerfreulich ist, kann als „sekundär“ ausgegeben werden, um der romantischen Idee willen, man müßte nur die Triebe der Menschen befreien, damit in deren „ökonomischer Regelung“ das Glück aller anbräche. (Rundbriefe, 1936, S. 337f).

Ich habe das zitiert, weil das noch am ehesten dem nahe kommt, was Laska fordert: daß Reichs Gegner ihre Gründe nennen: sie wollen unter allen Umständen die Triebe weiterhin sozial kontrollieren. Und das Beispiel erklärt auch, warum jeweils LaMettrie und Stirner und Reich nie eine „Antwort“ von jeweils Diderot und Marx und Freud erhalten haben: die letzteren hätten sich, wie hier Fenichel, unsterblich lächerlich gemacht und als Reaktionäre entlarvt.

DER VERDRÄNGTE CHRISTUS / Band 2: Das orgonomische Testament / 12. Die Kinder der Finsternis / Die Emotionelle Pest

15. September 2022

DER VERDRÄNGTE CHRISTUS / Band 2: Das orgonomische Testament / 12. Die Kinder der Finsternis / Die Emotionelle Pest

Reflektionen über Max Stirner von konservativer Warte (Teil 8)

18. Juli 2022

[Diese Reihe soll zur Auseinandersetzung mit Bernd A. Laskas LSR-Projekt animieren.]

Genau wie Gott, ist der Einzige kein Wald- und Wiesen-Egoist, eben weil er eine Einheit ist. Er ist dadurch gekennzeichnet, daß er alles in sich vereint. Homo normalis, der fremdgesteuerte Neurotiker muß die Vergangenheit (d.h. seine Verpflichtungen) und die Zukunft (d.h. seine Versprechungen) negieren, um überhaupt überleben zu können. Er ist nicht, sondern die Moral bzw. der Verrat an eben dieser Moral regiert ihn. Im Grunde heißt das, daß die Zeit für ihn nicht existiert, d.h. er negiert die bioenergetische Spannung, er ist „gepanzert“ (Über-Ich-reguliert). Er lebt den Imperialismus des „Heute“, der das „Gestern“ und das „Morgen“ negiert. Mit anderen Worten, es ist Verrat: an sich selbst und an denen, mit denen er einen Verein (eine „Ver-Einigung“) eingegangen ist.

Homo normalis faselt gerne von „der Wahrheit“ (d.h. dem, was ihm das Über-Ich diktiert), aber in Wirklichkeit kann er die Mehrdeutigkeit, d.h. die bioenergetische Spannung, nicht ertragen. Er erstrebt den entropischen „Wärmetod seines Universums“, d.h. alles muß sich der gleichen Temperatur annähern. Während in Wirklichkeit die Wahrheit in den Widersprüchen und in der Veränderung liegt!

Der Gott, der von sich sagt, daß er der ist, der er ist, verwirklicht sich in der Zeit, d.h. er ist kein willkürlicher Götze wie Allah, sondern er hat eine Vergangenheit, die auf die Zukunft verweist. Man kann sich auf ihn verlassen, d.h. „glauben“ – der christliche Glaube. Genauso ist es mit Stirners Einzigem und seinem Verein bestellt! Er ist die EINZIGE Grundlage eines „konservativen“ und zukunftsfähigen menschlichen Zusammenlebens.

DIE SITUATIONISTISCHE INTERNATIONALE: Wilhelm Reich kontra die Situationisten (Teil 4)

28. September 2021

von Jim Martin

DIE SITUATIONISTEN (Fortsetzung)

Später erschienen in den Vereinigten Staaten Streitschriften, die versuchten, Reich von einem situationistischen Standpunkt her zu rehabilitieren. In einem anrührenden Pamphlet, das 1973 unter dem Titel Remarks on Contradiction and its Failure erschien, wertete Ken Knabb seine eigene Beteiligung in einer amerikanischen Pro-Situ-Gruppe („Contradiction“) mit Hilfe der Betrachtungsweise der Reichschen Charakteranalyse aus. Dies war Reichs neuartige Therapietechnik, die die erstarrte Rolle identifizierte, welche vom Neurotiker gespielt wurde, um ihn vom vollständigen Kontakt mit dem Leben zu schützen. Sie richtet ihr Augenmerk besonders auf den Widerstand gegen die Analyse, und bedient sich tiefer Atmung zusammen mit der körperlichen Freisetzung des muskulären Festhaltens (Charakterpanzerung), um die Gesundheit wiederherzustellen.

„Die Mitglieder von Contradiction hätten ihrer Zwangslage mutig entgegentreten können, durch das Heranziehen jener grundlegenden Taktik, die Sackgasse gerade dadurch zu verlassen, daß man sich auf den Widerstand gegen die Analyse konzentriert. Dies hätte die Aufmerksamkeit nicht nur auf die grundlegenden Fehler kollektiver Organisation gelenkt, die ich in Remarks umrissen habe, sondern auch auf unseren individuellen Widerstand, will sagen unsere Charakter… Es sei nur gesagt, daß, obwohl unbestreitbar die Praxis der Theorie individuell therapeutisch wirkt, es mir ebenso wahr zu sein scheint, daß ein Angriff auf den Charakter des Einzelnen eine gesellschaftliche Strategie ist, ein praktischer Beitrag zur internationalen revolutionären Bewegung. Der Charakter des Pro-Situ wird durch das Schauspiel objektiv verstärkt (ein Charakter tritt natürlich am meisten durch seine Unfähigkeit hervor, seine Existenz als etwas anderes als ‚Banalität‘ wahrzunehmen, bis überstarke Symptome, die vielleicht seine gesellschaftliche Praxis sichtbar behindern, ihn zwingen, seine Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken). Auf der anderen Seite, verhindert es all die Klarheit eines Artaud, der seinen Charakter isoliert angreift, nicht, daß das ‚äußere‘ Waren-Schauspiel, das er verächtlich beiseite schiebt, in seiner inneren Welt als Phantasie von fremden, bösartigen Wesen wiederkehrt, von denen er besessen ist. Wie eine Revolution in einem kleinen Land muß der Mensch, der eine Blockierung, eine eingefahrene Routine oder einen Fetisch aufbricht, aggressiv nach außen gehen, um dort radikale Alliierte zu finden oder aufzuwiegeln oder er wird das verlieren, was er gewonnen hat und seinem eigenen inneren Thermidor zum Opfer fallen. Die Auflösung des Charakters und die Auflösung des Schauspiels sind zwei Bewegungen, die einander bedingen und erfordern.“

Hier legt Knabb seinen Finger auf den Kern des Problems. Er bietet eine Neuformulierung von Reichs Kritik am charakterlichen Rebellen. Mit dieser selbstbezüglichen Analyse übertrifft er alles, was die Situationisten jemals über Pro-Situs geschrieben haben. Im Gegensatz zu den französischen Philosophen war er in der Lage, Reichs Arbeit zu verstehen.

Im selben Jahr veröffentlichte Knabb eine Breitseite, Jean-Pierre Voyers Reich: How to Use. Voyer erörtert die Auflösung des Charakters und seine Rolle bei der Auflösung des Schauspiels.

„In allen Gesellschaften, in denen die modernen Produktionsverhältnisse vorherrschen, nimmt die Unmöglichkeit zu leben die individuellen Formen des Todes, des Wahnsinns oder des Charakters an. Mit dem unerschrockenen Dr. Reich und gegen seine entsetzten kompromißlerischen und heuchlerischen Anhänger (recuperators)* und Verleumder postulieren wir die pathologische Natur aller Charakterzüge, d.h. alles Chronischen im menschlichen Verhalten. Für uns ist weder unsere individuelle Charakterstruktur, noch das Aufklären ihrer Entwicklung wichtig, sondern die Unmöglichkeit sie für die Schaffung von Situationen zu verwenden. Der Charakter ist deshalb nicht nur eine ungesunde Wucherung, die man isoliert behandeln könnte, sondern zur gleichen Zeit ein individuelles Heilmittel in einer umfassend kranken Gesellschaft, ein Heilmittel, das uns erlaubt, die Krankheit zu ertragen, während es sie gleichzeitig verschlimmert.

Wir glauben, daß die Menschen ihren Charakter nur dadurch auflösen können, daß sie sich gegen die ganze Gesellschaft stellen (dies steht insofern im Konflikt mit Reich, als er die Charakteranalyse von einem spezialisierten Gesichtspunkt aus betrachtete); während auf der anderen Seite die Funktion des Charakters in der Anpassung an die Umstände besteht, bereitet seine Auflösung eine umfassende Kritik an der Gesellschaft vor. Wir müssen diesen Teufelskreis durchbrechen.“

1975 gab in Detroit Black and Red ein Pamphlet der britischen Solidarity von Maurice Brinton neu heraus: Authoritarian Conditioning. Sexual Repression and the Irrational in Politics. Es enthält eine achtbare Darstellung von drei Büchern Reichs: Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral, Die sexuelle Revolution und Die Massenpsychologie des Faschismus. Das erste dieser drei war eine Untersuchung über die Bedeutung der Arbeit des Anthropologen Bronislaw Malinowski für das Freilegen der kulturspezifischen Natur von Ödipuskomplex, Pathologie und Sexualunterdrückung. Die sexuelle Revolution ist hauptsächlich ein Bericht über Reichs Besuch in der Sowjetunion, der zu seiner Enttäuschung über die bolschewistische Revolution führte, welche ihre anfängliche Beseitigung des moralistischen Ehe- und Sexualrechts rückgängig gemacht hatte. Aus Die Massenpsychologie des Faschismus entnimmt Brinton Reichs Analyse „der verschiedenen Methoden, mit denen die moderne Gesellschaft ihre Sklaven so manipuliert, daß sie ihrer eigenen Versklavung zustimmen.“ Obwohl sich Brinton ziemlich tief in die Anthropologie Malinowskis eingearbeitet zu haben scheint, hat er offensichtlich einen der Hauptpunkte seiner Arbeit übersehen: die Untersuchung primitiver Ökonomien im Lichte des industriellen Kapitalismus. Eine der faszinierendsten Aspekte von Malinowkis Werk ist seine Erörterung des Geschenkaustausches; eine Ökonomie, die ohne Arbeitslohn auf Gegenseitigkeit beruhte und alle Aspekte des kulturellen Lebens durchdrang (einheitlich). Die gesamte Produktion war auf den freien Austausch von Geschenken bei Reisen zu benachbarten Klans ausgerichtet. Der Wettbewerb beruhte nicht darauf, wer am meisten bekommen, sondern wer das meiste geben konnte. Diese Art von Ökonomie wurde nur wenig berücksichtigt, obwohl eine pro-situationistische Zeitschrift vielsagend Potlatch betitelt war, was sich auf Geschenkgaben bei Primitiven bezieht.

Brintons Grundproblem ist, daß er es fast lieber gehabt hätte, wäre Reich 1936 gestorben. Bei Brinton werden wir vergeblich nach irgendeiner Erwähnung der Konzepte Roter Faschismus, Emotionelle Pest oder Orgon suchen.

* ANMERKUNG DES ÜBERSETZERS: Zum Wort recuperator (recuperateur, „Rückholer“) schreibt Jim Martin: „ein französisches Wort, das von den Situationisten benutzt wurde, um die Fähigkeit des ‚Schauspiels‘ (bzw. Kapitalismus/Kommunismus/moderne technologische Gesellschaft) zu beschreiben, sich den Widerstand gegen das Schauspiel einzuverleiben und dienstbar zu machen.“

DIE SITUATIONISTISCHE INTERNATIONALE: Ein Angriff der radikalen Linken: Ein Bericht (Teil 3)

2. September 2021

John M. Bell: Ein Angriff der radikalen Linken: Ein Bericht (Teil 3)

Das Aufkommen des Psychopathen (Teil 9)

3. Mai 2021

von Dr. med. Dr. phil. Barbara G. Koopman

Die Über-Ich-Bildung steht in einer engen Beziehung zur Ambivalenz. Es sei daran erinnert, dass jede Frustration eines libidinösen Triebes eine Aufspaltung des Triebes in die gegensätzlichen Komponenten der Ambivalenz bewirkt. Je härter die Umstände der Frustration, desto größer die Ambivalenz, der Hass und die Schuldgefühle und desto strafender das Über-Ich. Zu der Zeit, als Reich die Monographie schrieb (1925), wurde die Über-Ich-Bildung als normaler und notwendiger Teil der psychischen Entwicklung angesehen – und als Bollwerk gegen die ungezügelte Entladung von Triebregungen (die Vorstellung vom Kind als wilder Bestie). Nur ein Über-Ich, das zu strafend ist, wurde als pathologisch angesehen. Obwohl die Über-Ich-Bildung ihre Wurzeln in den frühesten Stadien der Objektbesetzung und der Triebverleugnung hat, beginnt sie tatsächlich etwa im Alter von 4 Jahren und ist im Alter von 9 oder 10 Jahren verinnerlicht. Sie wird hauptsächlich als Abwehr gegen den Inzestwunsch des Ödipuskomplexes hervorgerufen und basiert immer auf sekundären (sadistischen) Trieben. Sie funktioniert weitgehend auf einer unbewussten Ebene (im Gegensatz zum „Gewissen“, welches im Bewusstsein existiert).

Reich fand später heraus, dass die Über-Ich-Bildung funktionell identisch mit der Panzerung war – die elterlichen Einstellungen werden also nicht nur psychisch, sondern auch somatisch inkorporiert. Gewissermaßen „kleiden“ wir uns mit unseren Eltern – insbesondere mit ihren negativen Aspekten. Obwohl man sich im Prozess der Über-Ich-Bildung mit beiden Elternteilen identifiziert, ist die Hauptidentifikation gewöhnlich mit dem Aggressor (d.h. dem strengeren, restriktiveren Elternteil). Die Identifikation mit den positiven Aspekten der Elternfiguren erfolgt natürlich ebenfalls, führt jedoch zu keiner Panzerung.

Beim Triebhaften ist die Über-Ich-Entwicklung deutlich defekt – im Gegensatz zu der des Neurotikers, die gut ausgearbeitet ist. Energetisch gesehen geht dies auf Reichs Beobachtung zurück, dass ein einmal voll entwickelter Trieb nicht mehr vollständig unterdrückt werden kann. Außerdem neigt das unwirksame Über-Ich dazu, die widersprüchlichen, inkonsistenten Aspekte der Erzieher anzunehmen. Reich postulierte, dass die Triebhaften unter dem Druck ihres unwiderstehlichen Drangs nach Triebbefriedigung „das ganze Über-Ich isolieren“ können, das dadurch seine abschreckende Wirkung verliert. Schuldgefühle sind bei diesem Charaktertypus immer vorhanden, wie bei allen ambivalenten Typen, aber sie werden auf unbedeutende Sachverhalte verlagert, anstatt an das entsprechende Objekt gebunden zu sein.

Ein weiteres Kennzeichen des Triebhaften ist die psychosexuelle Verwirrung. Auch der Neurotiker leidet – jedoch in geringerem Maße – darunter, da alle Charaktertypen außer dem Hysteriker und dem genitalen Charakter die stärkere Identifikation mit dem Elternteil des anderen Geschlechts haben. In der Monographie von 1925 vertrat Reich die Ansicht, dass der Triebhafte nicht nach einem libidinösen Fixierungspunkt klassifiziert werden könne, analog etwa zur Fixierung des Zwanghaften in der analen Phase. Vielmehr sah er ihn als eine chaotische Melange aller prägenitalen Impulse, „wie ein Elefant im Porzellanladen der libidinösen Entwicklung“. In einer neueren Studie über Charaktertypen von Dr. Elsworth Baker wird der Psychopath als ein sehr schlecht integrierter Phalliker gesehen. Wie dem auch sei, es besteht kein Zweifel, dass dieser Typus viele prägenitale Züge, eine schlechte Ichfestigkeit und ein hohes Maß an Narzissmus aufweist. Die psychosexuelle Verwirrung ist also eine logische Folge der sehr unreifen Ich-Struktur. Offene Homosexualität ist bei diesem Typus keine Seltenheit.

[Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Charles Konia.
Journal of Orgonomy, Jahrgang 7 (1973), Nr. 1, S. 40-58.
Übersetzt von Robert Hase]

Das Aufkommen des Psychopathen (Teil 6)

26. April 2021

von Dr. med. Dr. phil. Barbara G. Koopman

Reichs Triebhafter Charakter

Der Begriff „Psychopath“ bedeutet für viele Menschen mehrere Dinge. Die vielleicht populärste Vorstellung ist die des skrupellosen Hedonisten, der seinen Impulsen nachgeht, ohne das geringste Schuldgefühl oder Skrupel zu haben. In Wirklichkeit ist das Bild viel komplizierter und wird oft mit anderen Diagnosetypen vermischt. Hier kann Reichs Monographie ein beträchtliches Licht auf die Ätiologie und die hervorstechenden Merkmale dieses Typs werfen.

Nach Reich ist das Kennzeichen des Triebhaften ein schwerer Defekt in seiner Fähigkeit, Verdrängungsmechanismen zu nutzen. Er steht dabei im Kontrast zum triebgehemmten Neurotiker, der sich stark auf Verdrängungsmechanismen stützt, um sich gegen den Durchbruch unbewusster Wünsche zu wehren. Der letztere Typus kann Ängste binden, der erstere nicht.

Aber die Fähigkeit, Angst zu binden, wenn auch oft im Dienste der Neurose, zeugt immer noch von einem gewissen Maß an Ich-Reife. Hierin liegt ein zweites Unterscheidungsmerkmal: Der triebhafte Charakter leidet unter schweren Entwicklungsdefekten des Ichs. So ist der größte Teil seiner libidinösen Energie auf einem sehr primitiven Entwicklungsstadium festgelegt und er behält ein übermäßiges Maß an Narzissmus bei. Während sich alle prägenitalen Stadien bis hin zum Phallischen in seiner Struktur widerspiegeln, zeigt er eine extreme Instabilität und Brüchigkeit, ganz anders als jeder andere Typ. Die Fähigkeit zu sinnvollen Objektbeziehungen ist nicht entwickelt. Was an Objekten vorliegt, dient lediglich als Versorgungslieferant. Der Neurotiker zeigt ebenfalls viele prägenitale Komponenten, aber aufgrund seiner Fähigkeit, Energie zu binden, leidet er nicht unter der extremen Instabilität des Triebhaften. Der Triebhafte wird von sekundären (d.h. sadistischen, destruktiven) Trieben bombardiert, die seine unreife Ich-Struktur nicht eindämmen kann, während der Neurotiker in der Lage ist, eine Reaktionsbildung herbeizuführen, die den Durchbruch der antisozialen Triebe verhindert.

Aufgrund der Unreife des Ichs funktioniert der Triebhafte hauptsächlich nach dem Lustprinzip, d.h. sofortiger Befriedigung. Seine Frustrationstoleranz ist sehr gering. Gleichzeitig fehlt ihm aufgrund der gestörten libidinösen Ökonomie die Fähigkeit, Spannungen effektiv abzubauen. In Folge leidet er unter einer übermäßigen Ladungsspannung, die er weder, wie der Neurotiker, binden noch verdrängen kann. Das Ausagieren wird dann zu seiner einzigen Möglichkeit der Entladung.

[Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Charles Konia.
Journal of Orgonomy, Jahrgang 7 (1973), Nr. 1, S. 40-58.
Übersetzt von Robert Hase]