Die Orgonomie wird zerstört, indem sie in ein „Gedankensystem“, eine Ideologie überführt wird: „One size fits all!“ und was nicht passend ist, wird passend gemacht. Diese zerstörerische Herangehensweise zeigt sich vor allem in drei Bereichen: 1. Erziehung, 2. Therapie und 3. Soziologie.
Ideologen fragen stets nach den Ursachen für etwas. Danach kann man dann Ideologien einteilen, etwa, frei nach Lenin, in idealistische und materialistische. Psychische Erkrankungen können beispielsweise tiefenpsychologisch auf frühkindliche Ereignisse zurückgeführt werden oder es wird verhaltenstherapeutisch eine „Lerngeschichte“ rekonstruiert. Reich hingegen hat gezeigt, daß man möglichst voraussetzungslos, d.h. ohne „Vor-Urteile“ (letztendlich ohne Augenpanzerung, „Verblendung“), an die Phänomene herangehen soll. Insbesondere trifft dies jedoch auf Menschen, hier Patienten, zu.
Deshalb sind aus orgonomischer Sicht die Ursachen für eine neurotische Erkrankung zunächst einmal denkbar gleichgültig. Der eine wurde von gewalttätigen Alkoholikern großgezogen und ist ein genitaler Charakter, der andere von Orgonomen und ist ein neurotisches Wrack. Jedes Neugeborene reagiert anders auf seine Umgebung. Es gilt diese nicht weiter reduzierbare Eigenheit zu erkennen und zu schützen. Das ist das Projekt „Kinder der Zukunft“ und nicht das Aufstellen irgendwelcher Erziehungsmaximen. Diese haben seit Neills mißverstandenem Buch Antiautoritäre Erziehung dazu beigetragen, diese Gesellschaft zu zerstören und aus Reichs Projekt „Kinder der Zukunft“ etwas zu machen, dem jeder anständige Mensch entgegentreten muß.
Entsprechend geht es in der Orgontherapie um den neurotischen Charakter, wie er sich gegenwärtig darstellt. Die vermeintlichen Ursachen der neurotischen Symptome, die irgendwo in der Vergangenheit liegen, sind ziemlich gleichgültig. Wichtig ist einzig, was man jetzt praktisch tun kann. Bei, beispielsweise, einer Hysterikerin verhindert man, daß sie wegrennt. Sie muß sich stellen. Sie muß miterleben, wie sie es mit der Angst bekommt und wie sie dann reagiert. Sie muß mit ihren neurotischen Mechanismen in Kontakt treten und sie kontrollieren lernen. Sie mit irgendwelchen vom Therapeuten zusammenphantasierten „ödipalen Geschehnissen“ aus der Vergangenheit zu konfrontieren, bzw. diese „gemeinsam aufzuarbeiten“, führt nur zu einem: die angstmachende, freiflotierende Energie wird im Gehirn gebunden – der Patient wird noch verpanzerter.
Eine genuin orgonomische Herangehensweise hat nichts mit „Körperpsychotherapie“ zu tun. Irgendwelche Deutungen oder gar Körperübungen führen zu nichts und tragen allenfalls zu einer weiteren Vertiefung der charakterlichen Abwehr bei. Zurück bleiben entweder restlos verunsicherte Menschen oder blasierte Arschlöcher, die wie Kultmitglieder wirken und sich benehmen, als hätten sie ein „höheres Bewußtsein“ erlangt. Sie sind niemals mit sich selbst in Kontakt getreten. Die Welt hat bereits genug „Kleine Männer“, sie braucht keine „Reichianischen“ Therapeuten, um zusätzliche zu produzieren.
Als Beispiel für ideologisches Denken nehme man das Locked-in-Syndrom. Nach eigenen Aussagen haben die Betroffenen eine teilweise sehr hohe Lebensqualität, obwohl sie ihren gesamten Körper nicht bewegen können. Das widerspricht allen „Reichianischen“ „Erkenntnissen“. „Du bist dein Körper!“
In der sozialen Orgonomie schließlich wird ein Destillat der Erkenntnisse Reichs gebildet und auf die Gesellschaft angewendet, nicht anders wie bei jeder anderen Ideologie auch. Irgendein ungenießbares Gebräu, das man aus Reichs Büchern herausdestilliert hat: Freud, Marx, Trobriander, sexuelle Revolution, Arbeitsdemokratie, etc. Wie in den unterschiedlichen „Schulen“ der Psychotherapie (die imgrunde nur den Dachschaden der jeweiligen Schulgründer weitertragen) der Einzelne mit einer Theorie malträtiert („analysiert“) wird, wird hier gleich die ganze Gesellschaft auseinandergenommen und wieder zusammengefügt. Oder mit anderen Worten: die Orgonomie wird zu einer weiteren beliebigen Ideologie ähnlich der „Kritischen Theorie“ und dergleichen Gehirnkaugummi für Neurotiker.
Was wir tatsächlich auf dem gesellschaftlichen Schauplatz vor uns haben, sind Menschen mit immer wiederkehrenden Verhaltensmustern, die die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmen. Oder mit anderen Worten: wir haben die soziopolitischen Charaktertypen vor uns. Von hier aus betrachten wir dann die unterschiedlichen Ideologien, inklusive „Reichianische“ Gesellschaftstheorien, und führen sie auf bioenergetische Gegebenheiten zurück.
Die Menschheit braucht einiges, aber kein weiteres „Erziehungssystem“, keine weitere „Therapieform“ und mit Sicherheit keine weitere „Gesellschaftstheorie“. Das sind alles Dinge, mit denen die Falle dekoriert wird, um so weiter sicherzustellen, daß niemand die Falle, das Irrenhaus, verläßt.
Selbstkritisch muß ich hinzufügen, daß wir sicherlich auch keine „naturphilosophischen“ Ergüsse brauchen, sondern Daten aus einem gut ausgestatteten, von gut ausgebildeten Wissenschaftlern betriebenen Laboratorium. Wissenschaft steht und fällt mit der Reproduzierbarkeit ihrer Ergebnisse.
Hier ein Interview mit A.S. Neill, das sofort zeigt, warum Reich diesen Mann so sehr geliebt hat: er ist vollkommen unprätentiös, versucht niemanden zu beeindrucken und er vertritt keinerlei Ideologie.
Schlagwörter: A.S. Neill, antiautoritäre Erziehung, Arbeitsdemokratie, Erziehung, Freud, Gesellschaftstheorie, Ideologie, Körperpsychotherapie, Kinder der Zukunft, Kritische Theorie, Locked-in-Syndrom, Marx, Psychotherapie, sexuelle Revolution, Soziologie, Trobriander
5. Juli 2011 um 07:16 |
Dazu fällt mir ein, dass jede Theorie nur eine Annäherung an die Realität ist. Auch dazu gehört die Reichsche. Außerdem müssen ihr neue Erkenntnisse hinzugefügt werden (z. B. aus der Evolutionsbiologie).
5. Juli 2011 um 09:13 |
„Die vermeintlichen Ursachen der neurotischen Symptome, die irgendwo in der Vergangenheit liegen, sind ziemlich gleichgültig. Wichtig ist einzig, was man jetzt praktisch tun kann. Bei, beispielsweise, einer Hysterikerin verhindert man, daß sie wegrennt. Sie muß sich stellen. Sie muß miterleben, wie sie es mit der Angst bekommt und wie sie dann reagiert. Sie muß mit ihren neurotischen Mechanismen in Kontakt treten und sie kontrollieren lernen. […]Irgendwelche Deutungen oder gar Körperübungen führen zu nichts und tragen allenfalls zu einer weiteren Vertiefung der charakterlichen Abwehr bei. Zurück bleiben entweder restlos verunsicherte Menschen oder blasierte Arschlöcher, die wie Kultmitglieder wirken und sich benehmen, als hätten sie ein „höheres Bewußtsein“ erlangt.“
Treffend. Und so gesehen, schließt das ach so böse ‚konforme’ verhaltenstherapeutische Methoden gerade ein. Es ist ja völlig ‚normal’, gehört zum Leben, verspätet etwas zu lernen – in den Situationen, in denen man es braucht. Und sei es, erst mit 25 im Alltag Fahrad zu fahren u. dgl. – ganz im Gegensatz zu reichianischen Gesundheitskulten.
6. Juli 2011 um 00:35 |
Wird die Reise auch bezahlt? 🙂
Wir hatten bei uns mal einen „Reich-Studenten“, der hat sofort nach dem Studium bei der FDA ein Angebot bekommen, bevor er „schädliche“ Bionforschung hätte betreiben können. Die Amis sind schon auf Zack.
6. Juli 2011 um 02:09 |
Zur Hysterie, welche nun kaum noch und schon gar nicht als solche diagnostiziert wird, und fachlich als „theatralische“ Persönlichkeitsstörung gilt:
Ohne diese wäre die Psychotherapie wohl kaum gefunden und erfunden worden. Es ist sehr zweifelhaft, ob der „ödipale Konflikt“ überhaupt je entdeckt und theoretisiert worden wäre. Die Psychoanalyse würde ohne die „hysterischen Patientinnen“ nakt, d. h. ohne Theorie und ohne Technik (Assoziationstechnik, Suggestion, Hypnose) darstehen. Sie hat also einen hohen akademischen (historischen) Wert. Doch welchen Wert soll die Psychotherapie heute für die Hysterie haben? Die Krankheitseinsicht tendiert gegen Null, der „Leidensdruck“ wird inszeniert, und bis 40 (Jahren) kommt die Hysterikerin doch fabelhaft ohne Therapeuten (und Therapeutin sowieso) aus. Danach wird es kritisch, wenn die eigene (kind-)frauliche Fassade zu bröckeln beginnt. Dann steigt der Leidensdruck, doch was möchte man hier noch therapieren und mit welchem Erfolg?
Ist die nun noch nachwirkende Vaterproblematik noch aktuell und relevant? Oder die versteckte Mutterproblematik, die viel stärker schädlich/psychogen wirkte? Gegen die Persönlichkeitsstörung gibt es auch keine Pillen, also kann der Therapeut nur auf Symptome hoffen, die hilfreich für den therapeutischen Prozess sind.
Die Hysterie hat seither keine Antworten zur Psyche gegeben und auch ich werde hier nur die Fragen ansprechen.
Geht es der Körpertherapie hier anders? Ohne sie scheint in Gruppen auch nichts in Gang zu kommen, von daher ist eine Hysterikerin ein Geschenk an den Therapeuten. Sie stellt die Körpertherapie auch erneut auf den Prüfstand. Die Orgontherapie wolle sie zum „genitalen Charakter“ führen? Das bringt ein Lächeln über meine Lippen. Auf den Versuch bin ich gespannt.
Die Hysterie wird es sein, die die Orgontherapie verändern würde, nicht umgekehrt. Und um Luft ringen wird der Therapeut, die Patientin bekommt ihre Atmung schon hin ohne ihrer Angst zu begegnen. Und nun die letzte (natürlich provozierende) Frage: Gab es je eine erfolgreiche therapeutische Behandlung der Hysterie?
7. Juli 2011 um 09:36 |
Richtig, Neills „Summerhill“ ist weder „Anti“-irgendwas noch überhaupt „Erziehung“. Der Rowohlt Verlag hat versucht, das Buch auf der damaligen 68er-Welle zu vermarkten – was auch gelungen ist. Ohne diese Anbiederung wäre es wohl sehr schlecht verkauft worden. Gleichzeitig wurde Neill damit ein Bärendienst erwiesen, denn die eigentliche Untention des Buches wurde aufgrund des Titels garnicht mehr wahrgenommen. Immerhin steht es in vielen Bücherregalen und könnte mal wieder ohne Augenpanzerung (Vorurteile) gelesen werden.
Die „bedingungslose“ Herangehensweise in der Orgontherapie kann selbst auch wieder Ausdruck einer verfestigten Angst vor Selbst-erkenntnissen sein, deren Schlüssel in der Kindheitsgeschichte liegt (s. Alice Miller).
Ansonsten hat diese Unmittelbarkeit natürlich unschätzbare
Vorteile – vor allem, daß man nicht soviel Zeit verplempert
🙂
7. Juli 2011 um 10:49 |
Der Buchtitel wurde Neill vom deutschen Verleger (einem Linken) aufgezwungen. Zweitens zwang ihn sein englischer Verleger, alle Erwähnungen Reichs zu löschen.
Soviel zur Freiheit des Autors.
7. Juli 2011 um 12:08 |
Was den zweiten Punkt betrifft (zwang ihn sein englischer Verleger, alle Erwähnungen Reichs zu löschen) habe ich das anders gehört: Das Buch ist eine Auswahl aus seinen vorherigen Schriften, nun haßte es aber Neill seine alten Bücher zu lesen, so hat Harold H. Hart das neue Buch zusammengestellt – und unter der Hand einen Großteil der „Reichiana“ gestrichen, ohne daß Neill das überhaupt mitbekommen hat. Und die deutsche Ausgabe wird dann auch noch von Erich Fromm, diesem scheiß Armleuchter, der Reich ausgeschlachtet hat und dann das kastrierte Produkt als sein eigenes Geistesprodukt verkauft hat, eingeleitet! Betrug, Lüge, Manipulation. Emotionelle Pest in jeder Hinsicht!
7. Juli 2011 um 12:35 |
Danke für die Präzisierung.
Es ist mir selbst immer etwas peinlich, Dinge zu behaupten, die ich nicht gleich mit Quelle belegen kann. Aber auch dafür ist dieser Block da, dass man sich korrigiert.
Ich bin mir nicht sicher, ob Fromm nur ein billiger Plagiator ist; er hat sicherlich auch eigene Ideen gehabt, so z.B. zur Einsamkeit des modernen Menschen (was auch Reich betraff).
7. Juli 2011 um 12:53 |
Zum Thema siehe Bernd Laskas alten Artikel über Reich und Fromm:
Klicke, um auf Laska_B_A_1979.pdf zuzugreifen
Immerhin von der Internationalen Erich Fromm Gesellschaft ins Netz gestellt! Immerhin!
14. Juni 2018 um 20:07 |
14. Juni 2018 um 20:12 |
Aus:
Röhl, Bettina – Die “RAF hat Euch lieb“ (2018), Seite 126/27:
„Der erste alternative Kinderladen Deutschlands war indes schon im
Herbst 1967 in Frankfurt von Monika Seifert gegründet worden, einer
früheren Freundin meiner Mutter [Ulrike Meinhof] aus Münster, der Frau von Jürgen Seifert, der ebenfalls ein Studienkollege von Ulrike Meinhof gewesen war.
Beide waren mit ihr zusammen in der Anti-Atom-Bewegung von 1958 engagiert gewesen. Monika Seifert war eine Tochter von Alexander Mitscherlich, der 1968 sein berühmtes Buch »Die Unfähigkeit zu trauern« herausbrachte, das die APO-Bewegten damals berührte. In Frankfurt hatte sie Seminare von Adorno und Horkheimer besucht und war von deren Idee, einen neuen, freieren Menschen zu erziehen, fasziniert.
Monika Seifert ließ sich auch von Erich Fromm, Wilhelm Reich und
dem Gründer der Schule Summerhill, A. S. Neill (der das berühmte Szenekinderbuch »Die grüne Wolke« geschrieben hatte), inspirieren. Ihr Ziel war es, Kinder freier, weniger »repressiv« zu erziehen, als dies ihrer Ansicht nach in den konventionellen Kindergärten geschah, die sie als Zwangsanstalten für Kinder empfand.“