Orgonomie und Metaphysik (Teil 53)

„Bewußtsein“ ist nach Reich gleichzusetzen mit „psychischer Struktur“ (Massenpsychologie des Faschismus, Fischer TB, S. 37). Daraus wurde später dann die biophysikalische Struktur. Mit anderen Worten ist unser Bewußtsein abhängig von unserer Panzerungsstruktur. Das gilt für alle Arten von Bewußtsein: unsere politische Haltung („Klassenbewußtsein“), unser „Privatleben“ („Liebe“), unser Arbeitsleben (wo es zentral um die Konzentrationsfähigkeit geht) und nicht zuletzt in unserem Kontakt zum Kosmos („Religion“). Was letzteres betrifft, schließt die hier umrissene funktionelle Einheit des Seelischen und Körperlichen „Jenseitigkeit oder auch nur Autonomie des Seelischen völlig und endgültig aus“ (Äther, Gott und Teufel, S. 95).

Das bedeutet aber noch lange nicht, daß man „falsches Bewußtsein“ einfach so wegwischen kann! Es gilt stets die Gegenwahrheit zu sehen! Reich zufolge erfüllt die „Illusion einer freien Willensbestimmung und einer überirdischen Bestimmung des Menschen“ drei Funktionen:

  1. Sie hebt den Menschen über seine Hilflosigkeit gegenüber der Natur, seine eigenen Triebe eingeschlossen, hinweg und übertönt seine Ohnmachtsgefühle und seine Angst mit dem Empfinden der Gottähnlichkeit.
  2. Sie hat die Funktion, den Menschen dort, wo er sich hilflos, klein und ohnmächtig fühlt, wo ihm Wissen um Vorgänge und Prozesse fehlen, mit dem Mut zu erfüllen, seine Existenz durchzusetzen.
  3. Der Mensch muß existieren, auf jeden Fall, mit oder ohne Wissen; dazu braucht er die Emotion der Illusionen. Illusionen sind also nicht nur irrationale Gebilde, sondern auch kraftsteigernde Haltungen. Die Rede vom Glauben, der Berge versetzt, hat hier seine Wurzeln. (Menschen im Staat, Frankfurt: Stroemfeld/Nexus, 1995, S. 79f)

Sicherlich kann man einen Gutteil des Mystizismus auf diese Weise erklären, aber selbst dann bleibt ein Rest. Immerhin hängen viele sehr intelligente und emotional reife Menschen dieser Weltanschauung an.

Spannend finde ich Reichs Aussage, daß die Entdeckung des Orgons nur der erste Schritt hin zur „experimentellen Beherrschung des Bewußtseinsprozesses“ war, die wiederum den organisierten Mystizismus vernichten werde (Jenseits der Psychologie, S. 309).

Anders als der gewöhnliche „Skeptiker“ nahm Reich die mystische Erfahrung sehr ernst und wollte ihr sozusagen auf deren eigenem Boden entgegentreten. Von daher kann man sich keinen größeren Verrat an Reich vorstellen, als von neuem Mystizismus in die Orgonomie einzubringen! Reich ahnte es voraus: „Und vielleicht werden viele gekreuzigt werden, ehe – es einmal ‚Sexualökonomen‘ mit ‚Kirchen‘ und Vereinen geben wird, die das genaue Gegenteil von dem sein werden, was die Sexualökonomie will“ (Jenseits der Psychologie, S. 353).

An sich wurde die experimentelle Beherrschung des Bewußtseinsprozesses bereits über das „Körperbild“ geleistet: in den verschiedenen Formen des Yoga und insbesondere im chinesischen Qi Gong. Man muß es nur den Mystikern (konkret: der okularen Panzerung) entreißen. Einer der Schlüssel zu diesem Geheimnis ist die Schizophrenie.

Im Anschluß an Freud ging es Reich in der Charakteranalyse darum das Ich zu erforschen, das merkwürdigerweise viel unbekannter sei als das Es. Im abschließenden Kapitel über die „schizophrene Spaltung“ ging es Reich dann darum, „die Funktion des Bewußtseins“ zu ergründen, „die weit weniger verstanden ist als die des Unbewußten“ (Charakteranalyse, KiWi, S. 654).

Die „pure“ Charakteranalyse hat gezeigt, daß das Orgonenergie-Feld des Organismus durch Worte, bzw. Imagination beeinflußt wird. Reich schreibt dazu: „Es würde lohnen, diese eigenartigen Zusammenhänge zwischen der Wahrnehmung der vegetativen Eigenart des anderen und der sprachlichen Formulierung im Detail genau zu studieren“ (Charakteranalyse, S. 440). Und weiter:

Wie ist es nun möglich, daß eine physiologische Funktion im psychischen Apparat derart unmittelbar als Verhalten gegeben und dargestellt sein kann? Ich muß gestehen, daß mir dieser Zusammenhang ebenso rätselhaft wie wichtig erscheint. Seine Klärung wird höchstwahrscheinlich unsere Kenntnis von den Zusammenhängen zwischen den physiologischen und den psychischen Funktionen um ein erhebliches Stück weiterbringen. (Charakteranalyse, S. 442)

Reich schreibt: „In der Wahrnehmung, auch in der Selbstwahrnehmung, fließen Sinneseindruck und Emotion in eine funktionelle Einheit zusammen“ (Charakteranalyse, S. 63). Bewußtsein ist demnach letztlich Wahrnehmung („ich nehme wahr, daß ich wahrnehme“ [vgl. Charakteranalyse, S. 571]). Nach Reich geht Wahrnehmung aus dem Zusammengehen von Empfindung an der Peripherie (z.B. Licht fällt auf eine lichtempfindliche Zelle) und einer Emotion aus dem Zentrum des Körpers hervor. So gibt es ohne Emotion kein Bewußtsein, wie z.B. im Buddhismus (das bewußtseinslose Nirwana), wo alles einseitig auf die Empfindung ausgerichtet ist („das Gewahrsein üben“). Und es gibt ohne Empfindung kein Bewußtsein, wie z.B. in der von der Welt losgelösten religiösen Ekstase (extragenitaler Orgasmus).

Letztendlich lassen sich alle Bewußtseinstechniken auf die künstliche Hervorhebung einer der beiden Ursprünge des Bewußtseins zurückführen. Das läßt sich unmittelbar erfahren, wenn man sich jetzt in einen „buddhistischen Zustand“ versetzt (Konzentration!) und dann in einen Hare-Krishna-Zustand (Hingabe!). Funktionelles Denken bedeutet eine harmonische Ausgeglichenheit der beiden Anteile Empfindung und Emotion. Der nüchterne Buddhismus und religiöse Ekstase sind biopathische Abweichungen, entsprechend festgefahrener Sympathikotonie (Buddhismus) und festgefahrener Parasympathikotonie (Hare-Krishna). Es gibt natürlich auch ein manisch-depressives Hin und Her.

Die Linie über die Empfindung führt zur „Reizempfindlichkeit des rein physikalischen Orgons“ (Charakteranalyse, S. 91), das als objektiver Geist oder „Mind“ mystifiziert wird. Und die zweite Linie zur rein physikalischen Pulsation, die den Emotionen zugrunde liegt, d.h. zum „kosmischen Organismus“, also Gott. Deshalb ist einerseits in Buddhismus, Scientology und Crowleyanity keine Rede von Gott und deshalb legt andererseits das (gängige) Christentum keinen Wert auf Gnosis.

Hinzu kommt als weiteres Element die eigentliche strukturelle Grundlage des Mystizismus: die Mauer zwischen Reiz und Wahrnehmung. Es wäre zunächst die Mauer (okulare Panzerung, die der Mystiker mit dem Schizophrenen gemeinsam hat) zwischen Erregung und Empfindung zu nennen, die zu einem mystischen „jenseitigen“ Erleben führt (man bildet sich etwa ein, in einer „astralen“ Ebene zu existieren). Als zweites Element kommt die Mauer (die generelle Panzerung, die den Mystiker vom Schizophrenen unterscheidet) zwischen Kern und Peripherie, die sadistisch durchbrochen werden muß (man bildet sich etwa ein, in einen „astralen“ Kampf gegen Teufel, Dämonen und „Critters“ verstrickt zu sein). Das einzige, was den Mystiker vom Faschisten unterscheidet, ist die spezifische „schizophrene“ okulare Panzerung. „Im Mystizismus wird ein körpereigener Prozeß als fremd wahrgenommen, so als habe er seinen Ursprung ‚jenseits‘ der eigenen Person oder auch jenseits der Welt“ (Charakteranalyse, S. 617).

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6 Antworten to “Orgonomie und Metaphysik (Teil 53)”

  1. Robert (Berlin) Says:

    es einmal „Sexualökonomen“ mit „Kirchen“ und Vereinen geben wird, die das genaue Gegenteil von dem sein werden, was die Sexualökonomie will.

    Ist es nicht schon so weit? Bhagwan und Wilhelm Reich Vereine präsentieren doch häufig das genaue Gegenteil von Reich, in dem sie Dinge lehren, die mystische Panzerung als Erlösung präsentieren.

  2. Robert (Berlin) Says:

    Aber ist der faschistische Antisemitismus nicht auch eine okulare Panzerung?

    • Peter Nasselstein Says:

      Antisemitismus ist eine Fehlwahrnehmung, Projektion, etc. und deshalb „okular“. Unter derartigen Wahnvorstellungen leiden Schizophrene ohne viel Schaden anzurichten. Die Erregung setzt sich in Fehlwahrnehmungen um und verpufft sozusagen. Der Mystiker hat mehr Körperpanzer, durch den er mit „faschistischer“ Gewalt durchdringen will. Klar, daß da am Anfang ebenfalls eine „okulare Fehlwahrnehmung“ steht, aber zentraler steht das sadistische Durchbrechen der Körperpanzerung. Das sieht man übrigens heute bei den Grünen, die früher losgelöst in einem pazifistischen Larifariland schwebten und zu Zeiten des Kalten Krieges den Russenpanzern mit Blumengirlanden entgegentreten wollen. Total weggetreten! Heute sind es veritable Faschisten, die den Russen offen mit rassistischen Sentiments entgegentreten und von „gewaltigen Panzerschlachten“ träumen. Diesen bemerkenswerten Wandel macht die Ideologie möglich: früher stand einem „der Sozialismus“ gegenüber, den man doch heimlich liebte, heute Putin, „der fast so schlimm ist wie Trump“. Früher flüchtete man nach oben in den Kopf (Energie fließt „schizophren“ nach oben), heute kann man die Sau rauslassen (die Energie fließt faschistisch nach unten).

      Macht das Sinn?

      • Robert (Berlin) Says:

        Ich denke, der Antisemit ist nicht psychotisch, sondern ein Soziopath, der die Umwelt nach seiner Charakterstruktur formen will. Der Schizo ist einfach nur Geisteskrank. Der Faschist ist ein Vertreter der emotionellen Pest. Der Schaden, den er als Vertreter verursacht, ist das Symptom der Pest (Massenmord, Diktatur etc.).

        • Peter Nasselstein Says:

          Reich schrieb 1935/36 in seinem „Ein Briefwechsel über dialektischen Materialismus“:

          Die Idee des Antisemitismus ist die mystifizierte Idee des Antikapitalismus und antisexuelle Ideologie gleichzeitig, der konservative Teil der Struktur biegt den revolutionierenden Teil der Struktur in die konservative Richtung ab; und die allgemeine Bewegung des Faschismus unterscheidet sich von anderen konservativen Formen der Gesellschaft dadurch, dass er sich gerade auf die revolutionierenden Strukturelemente stützt. Die Massenbasis des Faschismus ist
          subjektiv revolutionärer und objektiv reaktionärer Natur.

          An anderer Stelle führte ich im NACHRICHTENBRIEF aus:

          …Man denke nur an die berühmte Stelle aus Mein Kampf:

          Der schwarzhaarige Judenjunge lauert stundenlang, satanische Freude in seinem Gesicht, auf das ahnungslose Mädchen, das er mit seinem Blut schändet und damit seinem, des Mädchens, Volke raubt.

          Reich erinnert in diesem Zusammenhang auch an die Ritualmordlegenden und an das Bild des Juden, der kleine Jungen beschneidet (Menschen im Staat, Frankfurt 1995, S. 178).
          Hier, in sexuellen Komplexen, haben die Haßtiraden Hitlers gegen die „Zinsknechtschaft“ des „internationalen Finanzjudentums“ ihre Quelle.
          Auf die Frage, ob der Jude ein Mensch sei, antwortete Goebbels:

          Wenn jemand deine Mutter mit der Peitsche mitten durchs Gesicht schlägt, sagst du dann auch: Danke schön! Er ist auch ein Mensch!? Das ist kein Mensch, das ist ein Unmensch! Wieviel Schlimmeres hat der Jude unserer Mutter Deutschland angetan und tut er ihr heute noch an! Er (der Jude) hat unsere Rasse verdorben, unsere Kraft angefault, unsere Sitte unterhöhlt und unsere Kraft gebrochen… Der Jude ist der plastische Dämon des Verfalls… beginnt sein verbrecherisches Schächtwerk an den Völkern.

          Zu dieser Stelle kommentiert Reich:

          Man muß die Bedeutung der Vorstellung von der Kastration als der Strafe für sexuelles Begehren kennen, man muß den sexualpsychologischen Hintergrund der Ritualmordphantasien wie des Antisemitismus überhaupt erfassen und zudem das sexuelle Schuldgefühl und die sexuelle Angst des reaktionären Menschen richtig einschätzen, um beurteilen zu können, wie solche vom Schreiber unbewußt abgefaßten Sätze auf das unbewußte Gemütsleben der Leser aus den Massen einwirken. Hier liegt die psychologische Wurzel des Antisemitismus der Nationalsozialisten. (Die Massenpsychologie des Faschismus, Fischer TB, S. 73)

          In Hitlers ältester überlieferter politischer Äußerung, einem Gutachten für seine Vorgesetzten bei der Propaganda-Abteilung der Reichswehr vom 16. September 1919, lesen wir:

          Bewegt sich schon das Gefühle des Juden im rein materiellen, so noch mehr sein Denken und Streben. Der Tanz ums goldene Kalb wird zum erbarmungslosen Kampf um alle jene Güter, die nach unserem inneren Gefühl nicht die höchsten und einzig erstrebenswerten auf dieser Erde sein sollen. Der Wert des Einzelnen wird nicht mehr bestimmt durch seinen Charakter, die Bedeutung seiner Leistungen für die Gesamtheit, sondern ausschließlich durch die Größe seines Vermögens, durch sein Geld. (…) Alles was Menschen zu Höherem streben läßt, sei es Religion, Sozialismus, Demokratie, es ist ihm alles nur Mittel zum Zweck, Geld und Herrschgier zu befriedigen. (z.n. Werner Maser: Adolf Hitlers MEIN KAMPF, Esslingen 1983, S. 233)

          Diese „Psychologie“ muß man im Sinne des späteren Reich biophysisch erfassen: „okulare“ Verzerrung der Wirklichkeit und der Drang die Mauer der Panzerung zu durchbrechen.

    • Peter Nasselstein Says:

      Wohl nichts über Antisemitismus, aber etwas über okulare Panzerung („Brett vor dem Kopf“) und Kriegsgeilheit und die Emotionelle Pest:

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