Charakter ist alles und Genitalität ist alles

Die gesamte moderne Medizin kann man als eine geradezu systematische Umgehung der Frage nach der Charakterstruktur, d.h. der bioenergetischen Struktur des Organismus, betrachten. Entsprechend stellt die moderne Psychologie, Psychiatrie, Psychotherapie eine einzige Vermeidungsstrategie gegenüber der Genitalität dar.

1.

Patienten können die abartigsten, untherapierbarsten somatischen Erkrankungen haben – trotzdem sind diese oberflächlicher als die Charakterstruktur. „Man kann sie als Komplikationen der Charakterneurosen ansehen. … [Sie] können bei jedem Charaktertypus vorkommen und sind nicht auf den spezifischen Charakter, sondern vielmehr auf die spezifische Panzerung zurückzuführen“ (Elsworth F. Baker: Der Mensch in der Falle, S. 286). Ähnlich verhält es sich mit extremen psychiatrischen Störungen, etwa Baerbocks Sprachstörung. Man kann sie vielleicht „heilen“, aber die Charakterpathologie, die ihren Nährboden darstellt, besteht fort.

Das ist nicht so offensichtlich, weil die charakterliche Störung „peripher“ ist, d.h. letztendlich soziale Ursachen hat (auch die Kindererziehung ist eine „soziale Ursache“!). Man nehme etwa Reichs Beschreibung des Zusammenhangs zwischen charakterlicher Resignation und der Krebsschrumpfungsbiopathie, die das bioenergetische Zentrum des Organismus befällt:

Resignation ohne offenen oder geheimen Protest gegen die Versagung der Lebensfreude muß als eine der wesentlichen Grundlagen der Schrumpfungsbiopathie angesehen werden. Die biopathische Schrumpfung wäre demnach eine Fortsetzung chronischer charakterlicher Resignation im Bereich der Zellplasmafunktion. (Reich: Der Krebs, Fischer TB, S. 223f)

Es gibt Schichten des Lebensapparates verschiedener Tiefe um den biologischen Kern herum. Es gibt höhere und tiefer gelegene Schichten im Biosystem. Es gibt demzufolge oberflächliche und tiefergreifende Störungen der Körperfunktion. Eine akute Atemstörung wird dem Kern des Biosystems nichts anhaben. Eine chronische Atemstörung durch Inspirationshaltung wird chronische Angst erzeugen, aber die biologische Zellplasmafunktion nicht berühren, solange die bioenergetischen Funktionen in den Zellen selbst weitergehen, solange der Organismus weiter kräftige Impulse produziert. Ist aber die Impulsproduktion in den Zellen selbst getroffen, hat die periphere charakterliche Resignation das Zellplasmasystem erfaßt, dann haben wir es mit dem Prozeß der biopathischen Schrumpfung zu tun. (ebd., S. 224)

2.

Generell stehen in der Neurose die prä-genitalen Störungen im Vordergrund (phallisch, anal, oral). Am extremsten in der „okularen“ Schizophrenie (ja, keine Neurose, sondern Psychose). Trotzdem arbeitet sich der Therapeut zum Kern dieser Störungen vor und das ist die genital-orgastische Störung. Die prägenitalen „Frühstörungen“ sind in jedem Fall oberflächlicher als der ödipale Konflikt.

Ärzten, Psychiatern, Psychologen ist das so fremd und unverständlich, weil sie nicht so tief vordringen wie Reich. Ihre Arbeit ist erledigt, wenn die oberflächlichen „prägenitalen“ Symptome verschwinden, d.h. ein neurotisches Gleichgewicht hergestellt ist. Ähnlich wie die eingangs beschriebenen „genesenen“ somatisch Kranken, haben die Patienten zwar ihre psychische Auffälligkeit überwunden und sich wieder in die Gesellschaft integriert, aber das wirkliche Problem bleibt unberührt (siehe dazu den gestrigen Blogeintrag).

Beispielsweise kann eine Schizophrenie geheilt werden, wenn der okulare Block beseitigt ist, doch dann fängt die eigentliche Arbeit erst wirklich an, weil nunmehr der tieferliegende ödipale Konflikt angegangen werden muß. Generell kann man sagen, daß in der Therapie „von oben nach unten“ („von okular zu genital“), vom Oberflächlichen zum Tiefen, von der Oberfläche zum Kern, von der Gegenwart in die Vergangenheit fortgeschritten wird, vom Prägenitalen zum Genitalen, (richtig verstanden!!) vom Unwesentlichen zum Wesentlichen.

Schlagwörter: , , , , , , , , , , , , , , , , ,

11 Antworten to “Charakter ist alles und Genitalität ist alles”

  1. Avatar von Peter Nasselstein Peter Nasselstein Says:

    Sexualität, Reich, Mainzer, Laska:

    https://odysee.com/@GLR:4/Was-Sexualit%C3%A4t-wirklich-ist:9

  2. Avatar von Peter Töpfer Peter Töpfer Says:

    Ich bin etwas durcheinander mit den Begriffen… Wenn ich es recht verstehe, sind für Freud und auch für Reich oral, anal und genital drei Formen der Sexualität (kann man dafür auch „Geschlechtlichkeit“ sagen?)
    Jetzt gibt es ja – ich glaube, so nennt man das – die Sexualdrüsen oder -hormone, die in der Pubertät aktiviert werden, gelle?
    Meine Frage ist jetzt, inwiefern es von Freud und auch Reich korrekt war, bei Oralität, Analität von Formen der Sexualität zu sprechen.

    • Avatar von Peter Nasselstein Peter Nasselstein Says:

      Sexualerregung ist Lust und Lust ist die Expansion der Lebensenergie „hin zur Welt“. Es gibt, jedenfalls für Reich, nur zwei natürliche Sexualphasen: oral bei Säuglingen inklusive einem vollwertigen Orgasmus (oraler Orgasmus, mit Mund und Gesichtszuckungen beim Baby) und die genitale Phase. Durch Kontaktlosigkeit, Sauberkeitserziehung und Sexualunterdrückung treten drei weitere Phasen hinzu: die okulare (der angeblich natürliche Autismus des Babys), die anale und die phallische Phase – bzw. diese Phasen werden libidinös besetzt, wenn man so will „künstlich sexualisiert“.

      • Avatar von Peter Töpfer Peter Töpfer Says:

        Also kann man – jedenfalls bei Reich – von einer primären oralen Geschlechtlichkeit (Sexualität) sprechen, ok – danke!

      • Avatar von Peter Nasselstein Peter Nasselstein Says:

        Das Prägenitale ist sozusagen „geschlechtsneutral“. Desgalb bleiben wir lieber bei der Definition Freuds. Der allweise und allwissende Dr. Google faßt diese wie folgt zusammen: „Sexualität geht weit über die biologische Tatsache des Geschlechtsakts hinaus. Sie ist die Summe der Äußerungen einer psychischen Energie, der Libido.“ Im übrigen:

        „Genitalität wird im Endstadium der Entwicklung erlangt, die auf die Errichtung des genitalen Primats folgt. Dies geschieht gewöhnlich, wenn das Kind vier oder fünf Jahre alt ist, aber man darf nicht vergessen, daß das Genitale schon lange vorher eine erogene Zone ist, die dem Kind Lust verschaffen kann. Selbst der kleine Säugling spielt mit seinem Geschlechtsteil und empfindet sicherlich Lust bei der Berührung und Erregung. Das ist vermutlich nur eine lokale Erscheinung, da der Säugling noch in einem prägenitalen Stadium ist und da ihm durch die orale Zone eine vollständigere Befriedigung zur Verfügung steht. Nachdem jedoch die Entwicklung das genitale Stadium erreicht hat, geht es bei der Reaktion dieses Organs unmittelbar um Lust, und die Lösung von Spannungen wird durch bewußte Erregung und Manipulation des Genitales erreicht.

        Wir haben noch zu wenig Erfahrung mit gesunden Kindern, um dogmatische Aussagen über die Natur der kindlichen Sexualität oder darüber machen zu können, wie sie vor der Pubertät sein sollte. Jedoch haben jene Menschen, die als Kinder über lange Zeit hinweg Selbstbefriedigung geübt haben, in der Therapie die besten Aussichten und die geringsten Schwierigkeiten, zu befriedigenden Genitalfunktionen zu gelangen. Es scheint vernünftig, anzunehmen, daß zumindest in unserer Kultur Masturbation eine notwendige Voraussetzung für den späteren Primat der Genitalität und ein befriedigendes Geschlechtsleben ist, und damit auch für psychische Gesundheit im allgemeinen. Ich glaube aber, daß heterosexuelle Spiele und tatsächlicher Geschlechtsverkehr zwischen Kindern ein natürlicherer Ausdruck der Genitalität ist und in einer die Sexualität bejahenden Gesellschaft wie auf den Trobriand-Inseln allgemein üblich wäre.“ (Elsworth F. Baker: DER MENSCH IN DER FALLE, S. 128)

        • Avatar von Peter Töpfer Peter Töpfer Says:

          Danke, Peter, für die weiteren Ausführungen. Du wirst bemerkt haben, daß ich da in der Begrifflichkeit weiter etwas ratlos bin, und „das „geschlechtsneutral“ Prägenitale“ schafft nicht wirklich Abhilfe. Vielleicht ist es besser, bei vorpubertären Lustphänomenen doch nicht von Sexualität zu sprechen, ich tendiere jedenfalls dahin. Denn „geschlechtsneutral“ heißt ja eigentlich ungeschlechtlich.
          Das mit der Lust war mir klar, den Mundorgasmus kenne ich von Reich.

        • Avatar von Peter Nasselstein Peter Nasselstein Says:

          Sind Perversionen, wie Fetischismus, Homosexualität etc. Sexualität?

          • Avatar von Peter Töpfer Peter Töpfer Says:

            Insofern Sexualhormone beteiligt sind, kann man zumindest von einer sexuellen Perversion sprechen.

            Mir geht es nicht nur ums Definitorische, sondern auch um Politisches, das man – wenn man definitorisch im Wahren bleibt und sich nicht korrumpieren läßt – dann als Kollateralnutzen geraderücken könnte, wenn von Sexualunterricht bei Vorpubertären die Rede ist.

          • Avatar von Peter Nasselstein Peter Nasselstein Says:

            Kinder sind ohne jeden Zweifel sexuelle Wesen. Schon kleine Jungs, die gerade laufen können, spielen den Macho, wenn Mädchen in der Nähe sind und Mädchen sind – Mädchen von Geburt an. In der einstigen autoritären Gesellschaft wurde dieser Impuls unterdrückt, moralisiert und die gesamte Atmosphäre war lustfeindlich. Das führte zur berühmten Doppelmoral, d.h. die Sexualität wurde ins Bordell und in die Schmuddelecke gedrängt, was dann der Sexualfeindlichkeit sogar einen rationalen Anstrich verlieh. In der heutigen antiautoritären Gesellschaft vermeint man nun, daß Kinder vor allem „Information“ über Sexualität brauchen, vor allem aber Informationen über die besagte Schmuddelecken-Sexualität. Das ist übergriffig, verstörend und „verkopfend“ und deshalb in sich lustfeindlich. Was Kinder benötigen, ist eine sexualbejahende Atmosphäre, was einfach bedeutet, daß es vollkommen OK ist Lust zu empfinden und „expandiert“ zu sein. Das ist eine gesellschaftliche Atmosphäre, nicht etwas, was man aufoktroyieren kann. Und zweitens brauchen sie schlichtweg so etwas wie eine Privatsphäre frei von Erwachsenen. Etwas, was gerade heute durch die durchorganisierte Freizeit der Kinder immer mehr hintertrieben wird. Was sie vor allem nicht brauchen ist „Sexualerziehung“. Ungefähr im Sinne von Stirner: genauso wie unsere Atheisten sehr fromme Leute sind, sind unsere Sexualerzieher sehr sexualfeindliche Leute.

            Verkompliziert wird das ganze dadurch, daß die Kinder ab einem bestimmten Alter unweigerlich Zugang zum Internet haben und damit zur Pornographie (denn man kann zwar „rechtes Gedankengut“ blockieren, aber… Ironie off), die von Perversion lebt.

            In einer rationalen Gesellschaft würde weder Sexualfeindlichkeit (Lebensfeindlichkeit) noch Pornographie geduldet werden. (Wie der Name schon sagt, ist Pornographie die bildliche Darstellung der Bordell-Schmuddelsexualität.)

  3. Avatar von Peter Nasselstein Peter Nasselstein Says:
  4. Avatar von Peter Nasselstein Peter Nasselstein Says:

    Wilhelm Reich – Über die Quellen der neurotischen Angst

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..