Fickende Gehirne

Reich beschreibt, wie ihn 1919, beim ersten Kontakt mit der Psychoanalyse, deren Umgang mit der Sexualität abstieß.

Die Art, wie das Thema (…) behandelt wurde, klang mir sonderbar, naturfremd. Ich spürte eine Ablehnung in mir. (…) Ich hatte das Geschlechtliche anders erlebt, als ich es damals vorgetragen bekam. Das Sexuelle hatte in diesen ersten Vorträgen etwas Bizarres, Fremdartiges an sich. Eine natürliche Sexualität schien es nicht zu geben. Das Unbewußte war erfüllt von perversen Trieben allein. Die psychoanalytische Lehre leugnete zum Beispiel die Existenz einer primären vaginalen Erotik des kleinen Mädchens und ließ die weibliche Sexualität aus komplizierten Zusammensetzungen anderer Triebe hervorgehen. (Die Funktion des Orgasmus, Fischer TB, S. 26f)

Fast ein Jahrhundert später sind die Fronten noch immer dieselben. Nichts hat sich verändert. Man lese nur den Band Der „Fall“ Wilhelm Reich, mit dem Suhrkamp Reich zu dessen hundertstem Geburtstag „ehrte“. Unter anderen Tat sich Ulrike Körbitz vom „Grazer Arbeitskreis für Psychoanalyse“ hervor. Hier die Einladung zu ihrem Vortrag „Ohne Mord kein Vergnügen – Psychoanalytische Gedanken zum Orgasmus bei der Frau“:

Wie können wir uns aus Perspektive moderner psychoanalytischer und sexualwissenschaftlicher Konzepte dem Geschehen rund um den Orgasmus bei der Frau annähern? Für dieses „Abenteuer im Kopf“ wird die phasenweise heftig geführte Debatte über die hierfür „richtigeren“ körpergeographischen Orte – Klitoris oder Vagina – eine höchstens historische Rolle spielen; ebenso die der Orgasmusfähigkeit häufig zugeordneten Paradigmen einer gesunden, reifen, heterosexuell ausgerichteten Genitalität. Mein Vortrag führt statt dessen zu der Frage: Wer mordet hier wen oder was? Klärungen auf Basis von Indizien einer „erotischen Kette“ (A. Green) werden versucht und hoffentlich in der Diskussion gemeinsam vorangetrieben.

Siehe dazu das Martyrium von Marilyn Monroe, die von ihrem Psychoanalytiker Ralph Greenson, einem Schüler von Otto Fenichel, systematisch zerstört wurde. 2003 hat der Autor Mathew Smith erstmals die Tonbänder veröffentlicht, die Marilyn Monroe kurz vor ihrem Tod für Greenson besprach: „Ich hatte nie einen Orgasmus. Ich erinnere mich, wie Sie zu mir sagten: Ein Orgasmus passiert im Kopf, nicht im Becken.“ Das „Sexsymbol“ schlechthin und der verkopfte Psychiater….

In der März 2009-Ausgabe von Info Neurologie & Psychiatrie erschien ein kurzes Interview über „Erotik im Kernspin“. Was sagt die funktionelle Magnetresonanztomographie über „das Hirn beim Sex“? Interessant an dem Interview mit Prof. Dr. med. Michael Forsting vom Universitätsklinikum Essen ist zweierlei. Erstens druckt die Redaktion in der Printausgabe am Rande als Blickfänger ein Zitat, das gar nicht im Interview auftaucht: „Lust und Erregung finden nicht im Becken, sondern zwischen den Ohren statt.“ Zweitens kann Prof. Forsting die entscheidende Frage, was sich nämlich während des Orgasmus im Hirn abspielt, nur mit Verweis auf eine niederländische Studie beantworten. Mit Hilfe der Positronen-Emissions-Tomographie wurde festgestellt, „daß das zentrale Merkmal des Orgasmus die Verminderung der kortikalen Aktivität – präfrontaler Kortex/linker Temporallappen – ist. Diese ist verantwortlich für die Enthemmung – den sogenannten Kontrollverlust und die Auflösung bzw. Aufweichung der Körpergrenzen.“

Mit anderen Worten: während des Orgasmus werden die „oberen“ Funktionen des Hirns abgeschaltet! Von wegen: „Lust findet im Kopf statt“!

Und auch in anderer Hinsicht findet Reichs Orgasmustheorie Bestätigung. Prof. Forsting verweist auf die Daten anderer Arbeitsgruppen, die gezeigt hätten, „daß die zerebrale Aktivierung bei Frauen während eines vaginal induzierten Orgasmus intensiver ist als bei klitoral induziertem Orgasmus“.

Wenden wir uns dem Übersichtsartikel „Kommandozentrale Gehirn: Wo die Liebe wohnt“ in der Frankfurter Rundschau über die (2009) letzten Forschungsergebnisse in Sachen Liebe und Sexualität zu:

Bisher hätten Hirnforscher zum Thema Liebe wenig sagen können, da es nicht einfach ist, Versuchspersonen in einen entsprechenden Zustand zu versetzen. Immerhin meinen sie zu wissen, daß Emotionen im Gehirn entstehen und danach Veränderungen im Körper erzeugen. Der Ulmer Hirnforscher Manfred Spitzer:

Wir spüren die Liebe im Herzen, trotzdem spielt sie sich im Gehirn ab. Das Gehirn ist das Organ der Liebe.

Die Londoner Forscher Andreas Bartels und Semir Zeki fanden bei MRT-Untersuchungen (Magnetresonanz-Tomographie) von Verliebten, daß nur vier engbegrenzte Hirnareale das Gefühl der Liebe „hervorrufen“. Der „vordere cinguläre Kortex“ und der „Insellappen“ dienen dem Erkennen eigener und fremder Emotionen und der Verarbeitung von Sinneseindrücken. Für die erotischen Elemente des Verliebtseins seien der „Nucleus caudatus“ und der „Putamen“ verantwortlich.

Entsprechend meint die New Yorker Anthropologin Helen Fisher, die etlichen Verliebten mit Hilfe der MRT „in den Kopf geschaut hat“:

Die romantische Liebe ist eine Sucht erzeugende Droge.

Man könne, so Spitzer, romantische Liebe medikamentös mit Dopamin-Antagonisten ähnlich bekämpfen wie eine Manie oder eine Sucht. Aber natürlich sei Liebe keine Krankheit. Spitzer:

Wir können opiumsüchtig werden, weil unser Gehirn selbst opiumähnliche Stoffe herstellt und nicht umgekehrt.

Seit etwa fünf Jahren wisse man, daß Lernen und Liebe mit den gleichen Hirnarealen und mit der Ausschüttung von Dopamin verbunden sind. Spitzer:

Verliebtheit, Lernen und Glück sind sozusagen verschiedene Seiten des gleichen Funktionszusammenhangs.

Hormonell steht bei Liebe und Sexualität das Testosteron im Mittelpunkt. Es regelt nicht nur bei Männern, sondern auch bei Frauen das sexuelle Verlangen.

Erst seit kurzem weiß man, daß umgekehrt Sex auch den Testosteronspiegel erhöht.

Die biologische Basis für die längerfristige Bindung insbesondere des Mannes an die Frau sei Oxytocin, daß auch für die Mutter-Kind-Bindung sorgt. Es werde infolge von Zärtlichkeit und beim Geschlechtsakt ausgeschüttet. Deshalb habe Sex, so Spitzer, nicht nur eine reproduktive Funktion, sondern auch eine soziale Funktion: es schafft die Voraussetzung für den Familienzusammenhalt.

Soweit das, was „die moderne Naturwissenschaft“ zum Thema zu sagen hat. Auffallend ist die Fixierung auf das Gehirn. Der Körper erscheint nur als eine Art Anhängsel des Gehirns. Die Empfindungen der sich bewegenden Orgonenergie im Körper wird zur bloßen Illusion. Kein Wunder, daß diesen Leuten die eigentliche Funktion des Orgasmus unzugänglich bleibt.

For the record: Wir spüren Liebe im Herzen, weil der Solar plexus das energetische Zentrum des Organismus ist. Das Gehirn ist nur ein Koordinationsorgan.

Die Einzelergebnisse der modernen Forschung, insbesondere die Verbindung von Lernen und Liebe (d.h. die Offenheit für neue Erfahrungen), sowie die Bedeutung regelmäßigen Geschlechtsverkehrs für die hormonelle Ausgeglichenheit, sind natürlich sehr wichtig und bestätigen Reichs Orgasmustheorie, aber ohne Reichs Forschungsansatz hängen diese Forschungsergebnisse zusammenhanglos in der Luft.

Warum wird beispielsweise nicht erwähnt, daß der schulische Erfolg untrennbar mit einem erfüllten Liebesleben zusammenhängt. Man mag auf pickelige Streber verweisen, die es akademisch weit gebracht haben, aber genau sie sind für die mechano-mystische sterile Wissenschaft verantwortlich! Liebe, Arbeit und Wissen sind die Quellen unseres Leben, sie sollten es auch regieren!

Es ist beängstigend, daß Reich mit seiner Arbeit über „die elektrische Funktion von Sexualität und Angst“ uns heutigen weit voraus ist. Es ist, als wäre die Arbeit nicht 1937 erschienen, sondern würde im Jahre 2037 auf uns warten.

bioelectric2

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15 Antworten to “Fickende Gehirne”

  1. David Says:

    Warum wird beispielsweise nicht erwähnt, daß der schulische Erfolg untrennbar mit einem erfüllten Liebesleben zusammenhängt.

    Weil immer noch viele Leute der Ansicht sind, dass das Gegenteil der Fall sei und dass sexuelle Abstinenz gut für den Schulerfolg sei.

    Wie ich glaube, haben wir zurzeit ganz generell eine Strömung „rückwärts“ hin zu den Ansichten wie: „Leiste erstmal was hinsichtlich Schule, Berufsausbildung, und einige Jahre Beruf, dann darfst Du auch heiraten.“ Ich selber kenne diese Ansicht von früher her, von meinem Vater, jedoch habe ich das Gefühl, dass die Verbreitung dieser Ansicht in unserer Gesellschaft wieder zunimmt.

  2. O. Says:

    Der weibliche Orgasmus findet im Kopf statt; was also im Kopf einer Frau stattfindet, niemand wird es erraten.
    Einige Ehemänner sind plötzlich völlig entsetzt, wenn nach über 20 Jahren Ehe und die Kinder gerade aus dem Haus sind, es heißt: „Schatz, ich möchte mal andere Männer ausprobieren. Ich ziehe mal zur Probe zu einem anderen …“
    Was geht dieser Frau durch den Kopf? – Vielleicht, dass sie einen Orgasmus erleben möchte …? Keine Nachricht ist zerstörerischer für den Ehemann als diese.
    – Doch keine Sorge, das Leben kann weiter gehen, meist auch besser für den Mann. Denn auch für ihn steht eine Frau schon bereit, die sich ihm um den Hals wirft. – Was allerdings dieser Frau durch den Kopf, wer mag es erraten?

    • Renate Says:

      Ich suche einen ungepanzerten Mann, und da es ihn nicht gibt, geht die Suche weiter, …

      • Zeitgenosse Says:

        Tja, du wirst in den nächsten hundert Jahren auch keinen treffen.

        Dürfte wohl nie wieder vorkommen, wenn die Sache mit den EAs stimmen sollte.

        Der Zug ist abgefahren – sage ich nicht gerne, aber so sieht es (für mich) leider aus. 😦

  3. Klaus Says:

    Leib, Körper vs. Verkopfung usw. hin; Leib, Körper vs. Verkopfung usw. her; seit Descartes ist es recht plausibel, dass vorhandene raumzeitliche Sachen im Unterschied zu Erleben, Erfahren, Bewusstsein, … nicht Orten des Raumes und der Zeit zuzuordnen sind. Etwas anderes ist, ob Erleben, Erfahren, Bewusstsein, … Ursachen in raumzeitlichen Vorgängen haben! Das berührt jenen Unterschied nicht. Und dass ich ein fühle, heißt nicht, dass das Kribbeln IM BEIN IST (bekanntestes Beispiel: Phantomschmerzen). Daher das Interesse an Hirnphysiologie auch im Rahmen der Leib-Seele-Diskussionen. Orgon mag im Knie sein, das Kribbeln, zu dem Orgon irgendwie kausal beitragen mag, eher nicht. Es wäre nun sehr spannend, wenn Erleben – welcher Art auch immer – als unabhängig von Hirnfunktionen erwiesen werden könnte. Auch „Mit Hilfe der Positronen-Emissions-Tomographie wurde festgestellt, ‚daß das zentrale Merkmal des Orgasmus die Verminderung der kortikalen Aktivität – präfrontaler Kortex/linker Temporallappen – ist. Diese ist verantwortlich für die Enthemmung – den sogenannten Kontrollverlust und die Auflösung bzw. Aufweichung der Körpergrenzen.‘“ genügt dem noch nicht.
    (vgl z.B. David Chalmers „The Conscious Mind“)

    • Klaus Says:

      Oben ist „Kribbeln-im-Bein“ einzusetzen: Und dass ich ein Kribbeln-im-Bein fühle, heißt nicht, dass das Kribbeln IM BEIN IST.

  4. Die Funktion des Orgasmus (Teil 1) | Nachrichtenbrief Says:

    […] Das folgende ist eine Vertiefung von Fickende Gehirne. […]

  5. Klaus Says:

    Hirnkontrolle ist angesagt:
    http://www.zeit.de/digital/mobil/2014-10/muse-headband-eeg-hirnstrommessung-meditation-test
    „Wer mit Muse zum besseren Menschen werden will, muss meditieren, angeleitet von der dazugehörigen App Muse Calm. Das EEG-Stirnband misst dabei die Gehirnaktivität. Am Ende jeder Einheit zeigt die App, wie ruhig oder aktiv das Gehirn war.“
    Ein Kommentator:
    „Ich möchte jetzt auch nicht zu sehr abschweifen, aber ich könnte mir schon vorstellen, dass das Gerät (wenn wahrscheinlich auch nur in sehr kleinem Umfang) dazu führen könnte, dass man sich anpasst, bzw. dass man seine Gedanken anpasst. Aber im Endeffekt ist das ja auch das Ziel bei der Meditation.“

  6. Diskussionsforum 2011: eine Nachlese (Teil 2) | Nachrichtenbrief Says:

    […] Peter: Frauen haben bei der Selbstbefriedigung meist intensivere „Orgasmen“, manchmal sogar „multiple Orgasmen“. Das hat mit einem „Orgasmus“ ziemlich wenig zu tun, der mehr ist als eine starke Nervenerregung und „Jucken“. Was den G-Punkt betrifft, markiert er nur das innere Ende des sehr umfangreichen Klitorisgewebes. Dieses trägt zur Erregungssteigerung bei, der Orgasmus (= Plasmazuckung) selbst ist jedoch unabhängig von derartigen Nervengeweben. Siehe auch https://nachrichtenbrief.wordpress.com/2014/05/28/die-funktion-des-orgasmus-und-%E2%80%9Edie-moderne… […]

  7. Claus Says:

    http://www.faz.net/aktuell/wissen/medizin-ernaehrung/ein-gelaehmter-kann-dank-eines-hirnimplantatss-wieder-etwas-in-den-haenden-spueren-14479318.html
    „Durch einen schweren Autounfall jegliche Empfindungen in den Händen verloren zu haben und diese zehn Jahre später wiederzugewinnen – diese unglaubliche Erfahrung durfte Nathan Copeland machen. Er profitiert von einer Technik, die an der Universität von Pittsburgh und dem dortigen medizinischen Zentrum, entwickelt worden ist. Die Technik basiert auf einer Stimulierung des Gehirns, wodurch Gelähmte wieder etwas empfinden können.“
    Ist Empfinden insofern anders als Gefühl i.e.S., als es doch eher ‚im Gehirn realisiert‘ wird? Liegt hier ein wesentlicher Unterschied zwischen Emotion und Sensation?
    Tatsächlich wird man jemanden nicht in Rage bringen können, wenn er sich nicht bewegen kann – wohingegen man Kribbeln, Wärmeempfinden u.ä. wohl empfinden mag ohne Körperbewegung. Das mag für eine spezifischere Bindung von Emotion an nicht nur im Hirn stattfindende Prozesse sprechen.

  8. claus Says:

    Passendes Bild:

    https://www.google.de/search?q=queer&source=lnms&tbm=isch&sa=X&ved=0ahUKEwja9ICfwNzVAhUBaRQKHTy0AycQ_AUICygC&biw=1440&bih=754#imgrc=u_JRj90NKvEcgM:&spf=1502912210797

  9. claus Says:

    Die empirisch durch die Entdeckung afferenter und efferenter Bahnen nahegelegte Auffassung der ‚fickenden Gehirne‘ wurde von Hilary Putnam 1981 auf den Punkt gebracht; hier ein Überblick von Olaf Müller: http://gehirnimtank.de/

  10. claus Says:

    Zu dem Thema gehört auch:
    Ist Hungergefühl wirklich nur das Ergebnis einer Art ‚Messung‘ des Blutzuckerspiegels?
    Ich jedenfalls spüre Hunger immer ganz stark ‚im Bauch‘. Wie kommt es zu diesem Gefühl der Lokalisation?

  11. Robert (Berlin) Says:

    Zu Marilyn Monroe:
    „Gleichwohl starb Marilyn nicht in Armut – die Mehrheit ihres Besitzes hinterließ sie ihrem inzwischen ebenfalls verstorbenen Schauspiellehrer Lee Strasberg, von dem sie „beinahe religiös abhängig war“ (Miller). 25 Prozent vermachte sie ihrer Psychoanalytikerin Marianne Kris. Die Seelendoktorin, die 1980 ihre Augen schloß, hinterließ ihre Marilyn-Erbschaft dem Londoner „Anna Freud Institute“, das Kinder, auch psychotherapeutisch, betreut.

    Die Beträge, die das Institut sowie die Strasberg Witwe Anna heute noch beziehen, sind „beträchtlich“, denn die Vermarktung des toten Idols bringt jährlich rund eine Million Dollar ein – weit mehr als ihre gesamten Filmhonorare.“

    http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13684905.html

  12. claus Says:

    William and Mary:

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