Reich, Marx und die Charakterlosigkeit (Teil 1)

In seinem neuen Buch Neither Left Nor Right beschreibt Charles Konia nicht nur die charakterologischen Unterschiede zwischen Linken und Rechten, sondern auch, warum den ersteren charakterologische Unterschiede nicht zugänglich sind:

Für den Konservativen basiert das Konzept Charakter auf Zügen, die aus dem biologischen Kern („guter Charakter“) und der zerstörerischen mittleren Schicht („schlechter Charakter“) abgeleitet werden. Folglich ist er ein Begriff, der stark mit einem pejorativen oder moralischen Unterton behaftet ist. Man vergleiche diese Ansicht mit derjenigen des Liberalen, für den „Charakter“ ein im wesentlichen bedeutungsloses Konzept darstellt. Die Vorstellung, daß eine Person vorgegebene Merkmale besitzt, ist für ihn unverständlich. Er geht davon aus, daß alle Menschen intrinsisch guten Willens sind und unbegrenzt gebessert werden können. (S. 234)

Konia fährt fort:

Ärzte, die das Ausbildungsprogramm des American College of Orgonomy für medizinische Orgonomie durchlaufen und einen liberalen sozio-politischen Charakter besitzen, haben Probleme beim Erfassen und Anwenden der Grundlagen der Charakterdiagnose und Charakteranalyse. Da die meisten Psychiater sowohl zu Reichs Zeiten als auch heute einen liberalen sozio-politischen Charakter haben, stellt diese Einschränkung beim Erkennen und Verstehen der Bedeutung des Charakters einen Grund dafür dar, daß Reichs Beiträge nicht in die Psychiatrie integriert werden konnten und die Praxis dieser Fachrichtung mechanistisch entartete. (ebd.)

Tatsächlich läßt sich fast jede Abspaltung von der Orgonomie damit erklären, daß liberale Charaktere sich dagegen verwahrten, „Menschen zu kategorisieren“.

Von jeher hatten eher liberal gesinnte Orgonomen Probleme mit der Charakterologie. Da wären etwa Ola Raknes und, wenn ich das richtig einschätze, Walter Hoppe zu nennen, aber auch die Orgonomen, die sich seit 1982 im Institute for Orgonomic Science zusammengefunden haben. Die letzteren haben, etwa mit Einführung des „okularen Charakters“, aus der orgonomischen Charakterologie eine Travestie gemacht, die keinerlei praktischen Nutzen mehr hat. Als erstes wäre aber Otto Fenichel zu nennen, der Reichs „Hang zum Schema“ kritisierte und immer alles „differenzierter“ betrachtet wissen wollte. Nach Reichs Tod, distanzierten sich die meisten Orgonomen, repräsentiert von Chester M. Raphael, von Elsworth F. Baker, als dieser Reichs Charakteranalyse systematisierte und Reichs Charaktereinteilung den Erfordernissen der Orgontherapie anglich. Hinzu kam, daß Baker die Charakterdiagnostik auf den soziopolitischen Bereich ausdehnte.

Im Newsletter for Friends of the Wilhelm Reich Museum (No. 35, 1994) das weitgehend Raphaels Auffassung repräsentierte, findet sich folgende Aussage unter der Überschrift „Why is Reich’s Work so Misunderstood“:

Am vierten Tag der Konferenz befaßte sich der Erzieher Wilbur Rippy mit Reichs Soziologie und der Bedeutung von Marx und Engels für seine Bemühungen die Wurzeln des gesellschaftlichen Elends zu verstehen und Wege zu ihrer Verhütung zu finden. Im Verlauf seiner Ausführungen wies Mr. Rippy auch auf die Fehlauslegung Reichs durch die politische Linke und Rechte hin, besonders auf die „schreckliche Travestie“ der Ansichten, die vom Psychiater Elsworth Baker verbreitet werden.

Das läuft auf die Behauptung hinaus, daß die aktuelle Umwelt die Menschen mehr formt als Baker behauptet, also die spätestens seit der Pubertät weitgehend zementierte Panzerung nicht der alles entscheidende Faktor ist. Rippy sieht nicht, daß aber erst von daher, d.h. aus Sicht der Charakterologie, „Marx und Engels“ für die Orgonomie wirklich Sinn machen:

In Die Massenpsychologie des Faschismus legte Reich dar, daß die aktuellen ökonomischen Bedingungen des Individuums so gut wie keine Rolle für dessen Ideologie spielen, sondern fast ausschließlich die charakterlichen Verformungen, die er sich in der Kindheit zugezogen hat. Trotzdem sind „Marx und Engels“ nicht vollkommen nutzlos, denn bei ihnen läuft, wie Reich in Menschen im Staat gezeigt hat, alles auf die zentrale Bedeutung der menschlichen Arbeitskraft hinaus, die Arbeitsfunktion wird aber genauso wie die Sexualfunktion von der Panzerung, d.h. der Charakterstruktur des Menschen bestimmt.

„Marx und Engels“ haben deshalb in der Orgonomie einen Platz, weil alle anderen ökonomischen Theorien zwar einen begrenzten Erklärungswert haben, etwa für die Euro-Krise, letztendlich aber alles auf die Qualität und Quantität der menschlichen Arbeitsfunktion hinausläuft, Marx’s „lebendige Produktivkraft“, die wiederum von der Struktur der Panzerung, also vom Charakter abhängt.

kaparse

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5 Antworten to “Reich, Marx und die Charakterlosigkeit (Teil 1)”

  1. Avatar von davidmoerike David Says:

    Tatsächlich läßt sich fast jede Abspaltung von der Orgonomie damit erklären, daß liberale Charaktere sich dagegen verwahrten, „Menschen zu kategorisieren“.

    Kategorisieren? Das tut meines Erachtens Baker noch mehr als Reich. Sein Buch erscheint mir – im Vergleich zu den Werken Reichs als vereinfacht, wenn auch nicht in unzulässigem Ausmaß.

    Das läuft auf die Behauptung hinaus, daß die aktuelle Umwelt die Menschen mehr formt als Baker behauptet, also die spätestens seit der Pubertät weitgehend zementierte Panzerung nicht der alles entscheidende Faktor ist.

    Selbstverständlich hat die jetzige Umwelt einen Einfluss auf die Menschen; andernfalls könnte ja eine Therapie gar nicht mit Erfolg statt finden!

    … letztendlich aber alles auf die Qualität und Quantität der menschlichen Arbeitsfunktion hinausläuft, Marx’s „lebendige Produktivkraft“, die wiederum von der Struktur der Panzerung, also vom Charakter abhängt.

    Weitaus konkreter wird dies, wie mir scheint, von dem – von mir hier:

    https://nachrichtenbrief.wordpress.com/2010/03/24/saharasia-und-die-sozialistische-mentalitat/#comment-10869

    schon erwähnten Muhammad Yunus behauptet.

    Am verheerendsten wirken sich – wie ich glaube – auf die Arbeitsfunktion die so genannten „frühen“ Arten der Panzerung aus, nämlich die, welche mit Störungen des Antriebs und / oder der Wahrnehmung einher gehen.

  2. Avatar von O. O. Says:

    Sicherlich sprengt es diesen Rahmen über die Entwicklung der Orgonomie hier zu diskutieren.

    Zunächst sei dem ACO für ihr JO gedankt. Die Energie, die hier reingesteckt wurde und die mit einer anständigen Präsentation über Jahrzehnte erfolgte, ließ weiterhin hoffen. Keine anderen „Experimente“ sind an diese Darstellung herangekommen. Ob es einer Fortführung Reichs gleichkommt, das sollte nicht erwartet werden, Reich ist nicht in diesem Sinne fortzuführen, doch viele haben ihren Teil dazu getan, auch außerhalb des ACO.

    Streitereien und Neid haben die „Nachfolge von Reich“ von je her begleitet und zeigen wie leicht auch innerhalb dieser Szene die emotionelle Pest einkehren kann, statt inhaltliche Arbeit zu tun und sich hierfür gegenseitig anzuerkennen und ohne auf eine Anerkennung von außen zu bitten.

    Nimmt man Bakers „Man in the Trap“ (Mensch in der Falle) als einen Meilentstein nach Reichs Tod, dann wird man sich zunächst über dieses Werk erfreuen. Es ist der Versuch Reich einem größeren Publikum näher zu bringen mit allgemeineren Begrifflichkeiten, die die „Reizworte“ Orgon und orgonomisch durch Energie und energetisch ersetzen. Dieser Trend wurde auch von Lowen, Kelley usw. fortgesetzt, wobei Letzterere eigene Schulen gründeten und so erst später zu Reichs „Überleben“ in der Körpertherapie beitrugen.

    Erst die Kritik an Bakers Buch, die nur wenigen bekannt ist, hinterfragt Baker als zu oberflächlich. Hier wird man an Reichs Worte erinnert: „es sind alles freundliche und nette Menschen, (…) doch sie verflachen meine Theorien …“ (Paraphrasiert nach WR-Tape).
    Baker klärt nicht über Reichs Ansichten und Therapie auf, auch das ACO hält sich hierüber über Jahrzehnte sehr bedeckt wie praktisch gearbeitet wird, wenn man nicht eine Ausbildung direkt macht. So entsteht in Man in the Trap kein Lehrbuch, keine Weiterführung Reichs und keine Erklärung, was Reich wie gemacht hat und nun Orgontherapie nennt. Befremdlich sind bis heute die soziopolitischen „Charakter-„Typologien in Anlehnung an die „emotionelle Pest“ von Reich.
    Baker verpasst die historisch einmalige Chance die Entwicklung der Körpertherapie nach Reich in einer adequaten Buchveröffentlichung nachzuskizzieren wie er es in den elf Jahren mit Reich hätte mitbekommen müssen, stattdessen ein mittelmäßiges Buch wie es später auch Herskowitz veröffentlicht.

    Nun fällt eine solche Unterlassung, das therapeutische Werk fortzuführen, schließlich auch auf Reich zurück. Hat er dies nicht vermittelt oder vermitteln können?

    Nun wird hier im Artikel (s.o. PN im Blog) erwähnt, dass Baker die Verursachung durch die Umwelt (Eltern, Familie, Schule, gesellschaftliches und politisches Klima etc.) auf die Entwicklung des Charakters über die sexualfeindliche Erziehung (verkürzt gesagt) letzlich vernachlässigt. Dies ist die frühe Phase Reichs, die zunehmend in den USA weniger Bedeutung bekam, da Reich sich schnell (in die Orgonomie) fortentwickelte oder sich selbst davon distanzierte oder wegentwickelte. Diese Fragen sind nicht geklärt, wie Reich sich zu sich selbst verhält. Er distanziert sich in der 3. Aufl. von der Charakteranalyse als „psychologische“ Sicht und gibt einer orgonomischen Sicht den Vorzug.
    Baker klart auch hierzu nichts auf. Widerspricht er Reich?

    In dem Baker das körperliche Panzerungsmodell mit der psychoanalytischen Nomenklatur (bis zur Sprachverwirrung) gleichsetzt und beschreibt, könnte man dies als ein Festhalten an der Charakteranlyse deuten und hiermit würde er Reich widersprechen. Jedoch wird der Widerspruch nicht benannt und nicht begründet (wenn ich mich noch genau erinnere) und Raphaels Kritik der Verflachung und letztlich Irreführung erscheint stichhaltig. Baker hätte ein Fachbuch verfassen müssen und nicht ein teilweise nur plausibel klingender „Ratgeber“ oder Werbebuch für allgemeine Körpertherapie nach Reich.
    Seinen Zusatz zur „politischen Orgonomie“ hätte man als Kuriosum weiterhin ignorieren können. Dass Konia hier noch weitergeht – ohne das die wesentlichen Fragen zur Therapie geklärt sind – wird keine Öffnung des ACO bedeuten, was man durch den moderneren Webauftritt vermuten könnte, sondern eine politische Verschließung.

    • Avatar von Robert (Berlin) Robert (Berlin) Says:

      Aus meiner Sicht ergibt sich folgende Formel:
      Orgonomie + Panzerung des Interpreten = Ergebnis der Interpretation
      Das heißt, das reine Gold der Orgonomie wird immer durch die jeweilige Pathologie der Person, die sich mit einem orgonomischen Thema befasst, verunreinigt. Egal, ob sie Reich, Baker oder Konia heißt.

  3. Avatar von Klaus Klaus Says:

    ‚Charakterlosigkeit’ scheint tatsächlich auf zwei Seiten – einer Medaille? – vorzuliegen:
    Zum einen wird der Charakter als biologisches Resultat ignoriert. Das betrifft auch Geschlecht im Rahmen von Gender Mainstreaming.
    Zum anderen spricht man von ‚Charakterköpfen’, ähnlich auch von ‚Originalen’, etwa mit Bezug auf Leute, die in realistischen Darstellungen v. a. des 19. Jh., z. B. Menzels und Leibls, zu sehen sind. Und man bedauert manchmal, die gebe es nicht mehr.
    Charakterloser Standard in Forschung wie im Erforschten?

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