[Diese Reihe soll zur Auseinandersetzung mit Bernd A. Laskas LSR-Projekt animieren.]
Von Alain de Benoist stammt der Satz: „Der Sinn des Kommenden ist immer in dem Verhältnis zur Herkunft enthalten“ (Aufstand der Kulturen. Europäisches Manifest für das 21. Jahrhundert, Berlin: Edition Junge Freiheit, 1999, S. 39). Wie der Titel seines Buches schon sagt, geht es darum, daß man nur „sinnvoll“ leben kann, wenn man in seiner Kultur, in der Vergangenheit verwurzelt ist. In diesem Zusammenhang gemahnt bei ihm manches an Reichs „europäische“ Abhandlungen über die Arbeitsdemokratie und auch an Reichs einfachen Ausspruch: „Die Zukunft erwächst aus dem ständigen Strom der Gegenwart, wie auch die Gegenwart aus der Vergangenheit hervorgeht“ (Christusmord, 1978, S. 72).
Ich glaube, wenn man gegen seine Herkunft lebt, man einen Preis dafür zu bezahlen hat. Das war wohl ein Teil von Reichs persönlicher Tragik: um er selbst zu sein, mußte er gegen seinen Vater, die Vater-Imago, das Judentum, letztendlich das Über-Ich anleben; das bekämpfen, was er als „Familitis“ bezeichnete. Aber wie, losgelöst von der Herkunft, selbst sein? Diese innere Zerrissenheit haben Ilse Ollendorff und Peter Reich sehr gut beschrieben.
Sie zeigt sich auch in Fragen der Kindererziehung. Anfangs wollte Reich das Kind als quasi autonomes Subjekt behandeln, das möglichst früh von der Familie, gar der Mutter getrennt, „kollektiv“ aufwächst. Erst Mitte der 1940er Jahre sah er angesichts seines eigenen Sohnes die ganze Bedeutung des engen orgonotischen Kontakts zwischen Mutter und Kind in den ersten Jahren.
Reich wollte seine eigene Problematik umgehen, indem er seine Herkunft, seine Erdung, seine „Verwurzelung“ (!) bei Amöben, Quallen und in der Milchstraße suchte (siehe Die kosmische Überlagerung).
Doch man lebt aus den unmittelbaren Wurzeln heraus und kann nicht, quasi religiös, die „Kontinuität der Funktionen“ überspringen (siehe dazu Orgonometrie, Teil 3, Kapitel 12).
Und was ist mit Freiheit, Autonomie, Eigenheit? „Nur ein freier Mensch kann frei sein“ (American Odyssey, S. 296). Ein isolierter Eintrag in Reichs Tagebuch. Sozusagen der Gedanke des Tages. Ein denkbar schwerer Schlag ins Gesicht der sogenannten „freien Gesellschaft“, die solange eine Illusion bleiben wird, solange der Einzelne nicht frei ist von Panzerung bzw. dem „Über-Ich“. Du bist nur frei, wenn nicht nur die äußeren Hierarchien, die dich bedrücken, weg sind, sondern vor allem erst, wenn auch die verinnerlichten Hierarchien („die Stimme des Gewissens“) verschwunden sind.
In seinem Du contrat social ou Principes du droit politique schrieb Rousseau, der Ahnherr der modernen Wurzellosigkeit, daß derjenige, der dem allgemeinen Willen nicht gehorcht, dazu gezwungen werden muß, „frei zu sein“. Wie das? „Wir sollten diesen Ausdruck der Freiheit als eines der grundlegenden Merkmale freier Menschen anerkennen.“ Rousseau glaubte, der Mensch sei gut und je mehr Menschen einen gemeinsamen Willen, eine Art Gemeinschafts-Ich, finden, desto „guter“ werden sie: deshalb müsse sich der Einzelne dem Volkswillen unterwerfen, um er selbst und frei = gut sein zu können. Mit anderen Worten: er soll sich den inneren Hierarchien unterwerfen, etwa im Sinne der modernen „Wokeness“.
Montesquieu, der Ahnherr der modernen (demokratischen) Rechten, glaubte, der Mensch sei von Natur aus schlecht und ohnehin gäbe es den Menschen gar nicht. Deshalb müsse er je nach den unterschiedlichen Gegebenheiten durch Checks and Balances vor der Tyrannei des vermeintlichen Volkswillens geschützt werden. Entsprechend schrieb Reich 1956: „Ein freier Mensch ist der, der sich im Angesicht des Todesurteils weigert, etwas preiszugeben, das er aus freien Stücken preiszugeben bereit wäre“ (Greenfield: USA gegen Wilhelm Reich, S. 388).
Es ist dokumentiert, daß sich Reich um 1956 herum intensiv mit Rousseau auseinandergesetzt hat (das geht aus Christusmord, wo er den Contrat Social erwähnt, und dem Bericht von Wolfe’s Witwe Gladys Meyer-Wolfe hervor, Reich lese Rousseaus Bekenntnisse). Durch Marx und dessen Robespierre (Lenin) war Reichs europäische Periode zwischen 1927 und 1937 durch und durch Rousseauistisch: der wahre Volkswille soll die bürgerliche Welt hinwegfegen (Was ist Klassenbewußtsein?).
Tragischerweise sah sich Reich seit etwa 1932 genau durch diesen „wahren Volkswillen“ (der in Stalin verkörpert war) verfolgt. Man betrachte nur die „Rousseauistischen“ Ausführungen von Wertham und Brady gegen den unsolidarischen „Volksschädling“ Reich (siehe dazu Der Rote Faden, Kapitel 5).
Vor diesem Hintergrund muß man Reichs vollkommene Hingabe an das „Montesquieusche“ Amerika betrachten, seine Bevorzugung des konservativen Geistes (Christusmord, Zeugnisse einer Freundschaft), den Frieden, den er mit dem Patriotismus, der Religion und den anderen bürgerlichen Institutionen schloß. Dieses innere Ringen Reichs schlug sich schließlich in Elsworth F. Bakers Unterscheidung zwischen dem vom bioenergetischen Kern getrennten kollektivistischen „liberalen Charakter“ und dem im Kern verwurzelten individualistischen „konservativen Charakter“ nieder (Der Mensch in der Falle).
Schlagwörter: Ahnherr, Alain de Benoist, Amöben, Autonomie, Über-Ich, Bekenntnisse, Checks and Balances, Contrat Social, der Einzelne, Du contrat social ou Principes du droit politique, Eigenheit, Erdung, Freiheit, Gegenwart, Gemeinschafts-Ich, Gewissen, Judentum, Kindererziehung, Konservative, Lenin, Marx, Milchstraße, Quallen, Robespierre, Rousseau, Tyrannei, Vater, Vater-Imago, Vergangenheit, Verwurzelung, Volkswillen, Zukunft
24. Februar 2023 um 10:33 |
THE OMEGA MAN: der wichtigste Film aller Zeiten, der ORGONomischte Film schlechthin, der Film, der ALLES erklärt, was heute geschieht:
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24. Februar 2023 um 13:07 |
Das mit der Verwurzelung bei Amöben und in der Milchstraße ist gut gesagt.
Aber hat er sich nicht auch ein bißchen in Amerika eingewurzelt?
Frage: Ist das Gewissen für Sie immer nur eine verinnerlichte Hierarchie? Könnte es nicht eine Art angeborenen Sinn für Anständigkeit oder für das Richtige geben? Zumindest: Kann die Mutter an irgend so etwas appellieren, wenn sie ihr Kind sozialisiert?
24. Februar 2023 um 14:22 |
Laska sprach ja von der Negation des irrationalen Über-Ichs bei L und S und R, was impliziert, daß es ein rationales Über-Ich gibt. Ich habe das nie richtig verstanden und ihm auch gesagt, daß er damit seine eigene Botschaft verwischt. Ich glaube, es ist besser vom Ichideal zu sprechen, das immer mit der Wahrnehmung des eigenen bioenergetischen Kerns verbunden ist. Es ist immer gut an das Ichideal zu appellieren. Das macht man bei kleinen Jungs, wenn man an ihren Beschützerinstinkt, ihre Männlichkeit und Großzügigkeit appelliert, bei Mädchen an entsprechende Qualitäten (die Löwin, die ihre Jungen beschützt). Das hat nichts mit dem Über-Ich und Schuldgefühlen zu tun, auch nichts mit „Toleranz“, sondern mit der AKTIVEN Unterstützung des lebendigen Impulses nach vorne. Entsprechend wollte ja auch Reich, daß man die jugendliche Sexualität nicht nur „toleriert“, sondern AKTIV unterstützt (etwa durch das Bereitstellen von Rückzugsräumen).
24. Februar 2023 um 17:49 |
Vielen Dank für Ihre Antwort, Ihre Sicht und den Verweis auf das Ichideal!