Wie soll man heutzutage mit Aussagen wie der folgenden aus Der sexuelle Kampf der Jugend (1932) umgehen, was damit anfangen?
Vor der Revolution steht vor der klassenbewußten kommunistischen Jugend die Aufgabe, die Masse aller Jugendlichen für die Revolution zu mobilisieren. In dieser Phase gehört die sexuelle Frage der Jugend hinein in die Gesamtfront der proletarischen Bewegung. Vor der Revolution können wir der Masse der Jugendlichen in sexueller Hinsicht nicht viel helfen, aber wir müssen diese Frage politisieren, die geheime oder offene sexuelle Rebellion der Jugend in revolutionären Kampf gegen die kapitalistische Gesellschaftsordnung verwandeln.
Spätestens nach 1945, als er im Vorwort von Die Massenpsychologie des Faschismus politische Einstellungen bioenergetisch erklärte, d.h. mit dem Dreischichen-Modell der menschlichen Panzerung, kann es für Reich keine politische Lösung der menschlichen Misere geben. Aus dem „Klassenbewußtsein“ wurde im Rahmen der Ausformulierung des Konzepts der Arbeitsdemokratie das „Fachbewußtsein“, d.h. ein Bewußtsein, daß sich explizit gegen die stets fachfremde Politik richtet.
Heute muß es noch immer um Bewußtmachung der Massen gehen, das Schaffen von einem „richtigen Bewußtsein“, aber nicht im Sinne politischer Agitation, sondern: die Politik muß als Äußerungsform blockierter Bioenergie entlarvt werden und es muß ein Bewußtsein für die Emotionelle Pest (etwa in Gestalt der Grünen) geschaffen werden und wie diese die Grundlagen unseres Lebens, die Arbeitsdemokratie untergräbt.
Wie das ganze mit der heutigen anti-autoritären Gesellschaft zusammenhängt wird anhand des Absatzes klar, der dem oben zitierten aus Der sexuelle Kampf der Jugend folgt:
In den Zeiten der Revolution, wo alles durcheinandergeworfen wird, alles Morsche versinkt, wo wir auf den Trümmern einer korrupten, ausbeuterischen, grausamen und verfaulten Gesellschaftsordnung stehen, gilt es, nicht zu moralisieren, wenn sich die sexuellen Widersprüche in der Jugend zunächst steigern; da gilt es, die sexuelle Revolution im Zusammenhang mit der geschichtlichen Umwälzung verstehen und sich auf die Seite der Jugend stellen, ihr helfen, soweit es möglich ist, aber im übrigen wissen, daß es Übergangszeit ist.
Reich hat hier vorausgesehen, was sich 30 Jahre später, also zu Anfang der 1960er Jahre zugetragen hat: der komplette Zerfall der autoritären Gesellschaft und der Beginn einer Periode des Chaos. Wer auch nur ansatzweise etwas tiefgehender mit der „heutigen Jugend“ zu tun hat, wird es wie mir gehen: Ich frage mich immer wieder, ob es denn nur noch Borderliner gibt. Oder etwa: es gibt meiner Erfahrung nach schlichtweg kein Treppenhaus mehr, in dem es nicht nach Cannabis riecht.
Aber wie Reich fortfährt:
Vor den Wirren dieser Übergangszeit zurückschrecken, vor der „tollgewordenen Jugend“ Angst bekommen und in bürgerliche Ideologien zurückfallen, in Asketentum und Moralistentum, die zu beseitigen mit eine Aufgabe der proletarischen Revolution ist, bedeutet hinter den geschichtlichen Ereignissen zurückbleiben und sich gegen die Entwicklung stemmen.
Charles Konia hat all die hier angeschnittenen Punkte in seinem Buch The Emotional Plague (2008) eingehend behandelt, insbesondere aber auch, daß es kein Zurück zu den vermeintlich „guten alten Zeiten“ gibt. Die einst in der autoritären Gesellschaft komplett verpanzerte Lebensenergie ist in Bewegung geraten, ist außer Rand und Band, und keine Macht der Welt wird sie wieder bändigen können. Alle konservativen Träume von der guten alten Zeit sind Schall und Rauch. Was tatsächlich fehlt, ist das Bewußtsein, daß es eine Übergangszeit ist, und eine Vorstellung davon, was eigentlich das Ziel dieses Übergangs ist. Wir können immer so weitermachen, bis es zum kompletten Kollaps kommt, oder wir können uns einer genitalen Welt zumindest annähern.
Es ist so ähnlich wie in einer Orgontherapie: ein „Reichianischer“ Therapeut wird die Energie in Bewegung bringen und für jede Menge Scheinexpansion und nihilistisches Chaos sorgen, während ein Orgontherapeut, selbst wenn er den Patienten nicht orgastisch potent macht, zumindest eine klare Vorstellung von diesem Ziel hat und dieses vermittelt, den Patienten dergestalt in die richtige Richtung in Bewegung setzt und damit im kosmischen Orgonenergie-Ozean verankert. Die entsprechende Aufgabe hat heute die soziale Orgonomie auf Massenbasis.















