Zunächst ein Blick zurück auf Bartoks alles überragende Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta. An ihr kann man perfekt zeigen, was große Kunst ausmacht, nämlich zweierlei:
Die Vereinigung von relativer Bewegung und koexistierender Wirkung: Nehmen wir ein kartesisches Koordinatensystem: horizontal verläuft die Zeit und vertikal wird der „Raum“ (in diesem Fall etwa die Tonhöhe) abgetragen, so daß eine Welle bzw. ein „Gebirgszug“ sich abzeichnet. Wie haben eine Symphonie oder so etwas vor uns. Große Musik wird das aber erst, wenn es, wie etwa auf überragende Weise Bartoks Stück, nicht nur irgendein beliebiger willkürlicher Ablauf ist, sondern wenn die erste Note und die letzte Note und alle Noten dazwischen eine zwingende Einheit bilden. Dazu kippen wir den besagten „Gebirgszug“ (relative Bewegung) um 90 Grad nach links, so als würde sich alles gleichzeitig zutragen (koexistierende Wirkung), d.h. als wäre das Musikstück eine Statue von Michelangelo oder so. Etwas entwickelt sich in der Zeit, bleibt dabei aber eine in sich stimmige Einheit („Gleichzeitigkeit“).
Das Erzeugen und Auflösen von Spannung: Alle großen Komponisten haben mit Dissonanzen gespielt, ohne die ihre Stücke unerträglich gefällig dahinplätschern würden. Es ist wie bei einem Gespräch etwa in einer lauten Kantine: man muß selbständig aus den Tonfetzen, die vom Gegenüber bei einem ankommen, eine sinnvolle Einheit rekonstruieren, d.h. wieder von der relativen Bewegung (die gestört wird) zur koexistierenden Wirkung („Gestaltfindung“) switschen. Auf diese Weise wird der Kontakt nicht nur aufrechterhalten, sondern sogar intensiviert. Wobei natürlich nicht eine gewisse Grenze überschritten werden kann, denn aus bloßem Krach kann nichts rekonstruiert werden. Beides ist auf jeweils eigene Weise absolut nervtötend: tonale Gefälligkeit ohne Ecken und Kanten und atonale Kakophonie, die allenfalls für den Musiktheoretiker Sinn macht, wenn er das Notenblatt penibel analysiert.
Wegen genau dieser beiden Punkte reden Musiker ständig davon, Musik sei „nicht von dieser Welt“ und etwas „Metaphysisches“: eine Abfolge in der Zeit ruft Zeitlosigkeit hervor. Genau umgekehrt ist das bei der Malerei: große Kunst „bewegt uns“ und man vermeint eine ganze Symphonie zu hören. Man nehme etwa die Bilder meines Lieblingsmalers Paul Klee. Beides zusammen, etwa Wagners Musikdrama oder Hollywoods „Melodramen“, hat etwas zutiefst Totalitäres! Das trifft natürlich nicht auf die Poesie, selbst wenn sie vorgetragen wird. Sie hat ebenfalls etwas von beidem, denn einerseits ist sie offensichtlich wie ein Musikstück aufgebaut (und ruft geradezu nach Vertonung), andererseits stellen sich vor dem geistigen Auge instantan Bilder ein (Illustration). Nehmen wir meinen Klabund:
Die Funktion des Orgasmus endete ursprünglich dem Originalmanuskript zufolge ebenfalls mit einem Gedicht Klabunds bzw. einer Nachdichtung eines Gedichts von Hafis (siehe hier und auch hier). Am Anfang seiner Orgonforschung sah Reich einen innigen Zusammenhang zwischen dem Orgon und der Sonne. Man nehme etwa seine Drei Versuche mit Gummi am statischen Elektroskop von 1939: SAPA-Bione, die Sonne und der menschliche Körper (insbesondere die Stelle über dem Solar plexus!) laden auf gleiche Weise Gummistücke auf.
Das war bevor Reich 1940 die atmosphärische Orgonenergie (das Flimmern in der Atmosphäre) entdeckt hatte und auch danach noch immer nicht an den „Äther“ dachte, etwa als er Anfang 1941 Einstein traf. Hier steht „Sonne“ deshalb stellvertretend für einen „kosmischen“ Bezug des Orgons. Es zeigt auch, daß man in der Orgonomie nicht wirklich Dichtung (tiefgehendes orgonotisches Empfinden) und naturwissenschaftlicher Forschung unterscheiden kann. Als etwa Oppenheimer angesichts der Atombombe sehr frei nach der Bhagavat Gita die Verse vortrug: „Wenn das Licht von tausend Sonnen am Himmel plötzlich bräch‘ hervor, das wäre gleich dem Glanze dieses Herrlichen, und ich bin der Tod geworden, Zertrümmerer der Welten“, ist das nur eine hirnzentrierte bildungsbürgerliche Reminiszenz, ohne tiefere bioenergetische Bedeutung. Bei Reich geht es darum, daß orgonotische Funktionen auf den unterschiedlichen Größen- und Funktionsebenen weitgehend identisch ablaufen. Siehe die von mir hervorgehobene Stelle:
… Ihr Zentrum bleibt, was es immer war: das Rätsel des Liebens, dem wir Sein und Werden verdanken. Die Entdeckung der Orgon-Strahlung und ihrer Herkunft aus der Sonnenstrahlung scheint ein persisches Gedicht aus dem 14. Jahrhundert naturwissenschaftlich wahrmachen zu wollen:
In welcher Sprache ich auch schreibe,
Persisch, und türkisch gilt mir gleich.
Ein Himmel wölbt sich über jedes Reich, Und Liebe reimt sich überall auf Liebe.
Als Reich das schrieb, komponierte der Schönberg-Schüler Viktor Ullman diese Lieder (wenn auch in einer anderen Übersetzung) – kurz bevor er 1942 ins KZ kam, etwas, was Reich mit einiger Gewißheit widerfahren wäre, hätte er nicht das allerletzte Schiff nach Amerika erwischt:
Übrigens war es eine gute Intuition Klabunds seinen Band von „übersetzten“ (nachgedichteten) Hafis-Gedichten mit Der Feueranbeter zu betiteln, denn alles was an der islamischen, insbesondere aber an der persischen Kultur so großartig ist, ist eine direkte Übernahme der zoroastrischen „Feueranbeter“; einer Religion, die, im denkbar krassen Gegensatz zum ursprünglichen Islam, alles tut, um die sekundären Triebe (Ahriman) einzuschränken und den bioenergetischen Kern (Ahura Mazda) zu stärken.
Von der fernsten Warte aus,
Zwischen all den Eichen,
Weht Windeseile
Mein Auge wirft von oben
Herab auf die Wipfel.
Wir sitzen im Moos.
Über den Duft der Wiesen
Atme ich die Sonne.
Meer in deiner Brust.
Ähren wogen, weiße Gischt
Aufgefangen vom Grün,
Bleibt es im Kraushaar.
Eisenbraun wie totes Laub
Das Blau fällt in den Quell‘
Von Blättersproßen.
Alte und junge Bäume
Die gestandenen Bäume.
Geschrei der Balgen hassen?
Sie stützen das Firmament.
Bin ich gar ein Verräter?
Um mich her das Kirchenschiff,
Daß sie da sind, wirklich da.
Alles, was sie verkünden, ist.
Meine Gedanken laufen,
grüne Wolken zu werden?
Wie die jungen Triebe noch,
weg wie nervöse Jungen.
Nicht da, streben sie wonach?
Am Bach
Es grünt dicht.
In diesen Wipfeln hinoben,
Aus modrigem Grunde.
Singt der Wind.
Ohn‘ Wiederhall die Libelle,
Hin und her, vor, zurück.
Webt ihr Flies.
Für das eindringende Dunkel,
Der kristallene Bach.
Verheißt Dich.
Meandert im satten Grüne,
Fort in Deinen Augen.
Beim See
Beim See.
Zwischen den Buchen
Altvertrautes Lied.
Zweige
Singen vom Abgrund.
Ich verhalte mich.
Rühre
Nicht dran Goldsonne.
Luftmeer fließt durch mich.
Bitte,
Versinken ist schwer.
Vögel wie Fische.
Fallen.
Ferner Straßenlärm;
Er ist wie Brandung.
Im Hain
Grün vor dem Gold,
Da der Bräutigam mit ihr
am Horizont sich vereint.
Es ist hier.
Schwarze Krume
Spielt um mich herum verzückt.
Wird feucht und kühl und Schwere.
Es ist leicht.
Das Laub rauscht leis‘
und der beschwingte Tanz beginnt,
Es ist belebend ziehend.
Ein Drittes.
Schönster Moment
Wenn Himmel und Erde eins
zwischen heute und morgen.
Tief und jetzt.
Das Schreiben von Gedichten (oder das Malen von Bildern) ist immer ein ausbalancieren der beiden Funktionen „relative Bewegung“ und „koexistierende Wirkung“. Ich beschreibe die Bewegung des Windes in den Bäumen etc. Ein wirkliches Gedicht wird aber erst draus, wenn durch bestimmte Kunstgriffe diese realistischen Bilder sich überlappen und der aufmerksame Leser dergestalt aus Alltagsbewußtsein herausgerissen wird und „tiefer blickt“, um unerwartete Zusammenhänge zu sehen und vor allem mitzufühlen. Genauso auch in der Malerei. Es ist sinnlos einen Wald realistisch abzumalen, denn das kann jeder Photoapparat weitaus besser. Wirkliche Kunst wird erst draus, wenn eine „tiefere Wirklichkeit“ aufscheint.
Eine einfache Beschreibung ist kein Gedicht und eine akademische Zeichnung kein Kunstwerk. Dasselbe gilt umgekehrt auch für zu viel „dadaistische“ Abstraktion, wenn man überhaupt nicht mehr ergründen kann, worum es im Gedicht oder in der Zeichnung überhaupt geht. Es wird bedeutungsloses Geschmiere a la Kandinsky und der ganzen übrigen modernen entarteten „Kunst“. Kontakt ist sozusagen die Schnittfläche zwischen realistischer „relativer Bewegung“ und subjektivistischer „koexistierender Wirkung“. So auch etwa in der modernen Klassik: Richard Strauß (Programmusik, relative Bewegung) ist langweilig, der späte Arnold Schönberg oder gar Edgar Varese (absolute Musik, koexistierende Aktion) sind langweilig, aber bei Bela Bartok springt der Funke über, vor allem auch weil seine Werke nicht zusammengewürfelt sind, sondern eine organische Einheit ergeben (die koexistierende Wirkung „hält die Bewegung zusammen“). Voila, mein Lieblingsstück: