Posts Tagged ‘Christus’

Reflektionen über Max Stirner von konservativer Warte (Teil 67)

28. Mai 2023

[Diese Reihe soll zur Auseinandersetzung mit Bernd A. Laskas LSR-Projekt animieren.]

Alle blicken auf den vollkommen perplexen Reich, behandeln ihn als Sonderling, manövrieren ihn in eine Außenseiterposition, indem sie ihm vorwerfen er würde sich in eine Außenseiterposition hineinmanövrieren – und als Fazit wird dann kurioserweise IHM vorgeworfen, ER habe sich in was „hineinmanövriert“. Dies und das folgende kann man mit Variationen auch über LaMettrie am Hofe von Friedrich dem Großen und über Stirner im Umfeld der Junghegelianer sagen!

Die Frage ist doch ganz einfach: war Reich (LaMettrie, Stirner) beknackt oder alle anderen? Normalerweise liegt die Antwort auf der Hand. Das Alltagsgeschäft der Psychiater. Aber ab und an kommen auch, wie es Baker in einem Fallbeispiel beschreibt (Der Mensch in der Falle), vollkommen Gesunde zum Psychiater, weil sie sich in der Gesellschaft wie Sonderlinge vorkommen und so behandelt werden – dann ist es Aufgabe des Psychiaters ihnen klarzumachen, daß tatsächlich sie im Recht sind und praktisch 100 % ihrer Mitmenschen durchgeknallt sind. (Es wäre doch eine Ungeheuerlichkeit gewesen, hätte Baker der betreffenden Frau gesagt: „Sie sollten sich mal überlegen, ob sie nicht auch selbst teilweise Schuld für Ihre Probleme im Leben tragen!“)

Reich war so ein Fall. Daß er auch Fehler strategischer und taktischer Natur gemacht hat (wie sollte es anders sein?), fällt dabei nicht ins Gewicht. Schließlich konnte er nichts dafür, daß die Welt ein einziges großes Irrenhaus ist.

Alle Ansichten von Bakers gesunder Patientin stimmten vollkommen mit dem überein, was etwa in Die sexuelle Revolution stand. Es ist einfach „gesunder Menschenverstand“ (d.h. wirklich gesunder). Dazu gehört auch, daß die meisten dieser gesunden Menschen, inkl. Reich, ein ziemlich naives Verhältnis zur Geschichte haben. Sie sehen nur den guten Kern und glauben, was man ihnen erzählt. Entsprechend finden sie, inkl. Reich, die folgenden Leute gut: Jesus, Marx, Lenin, Lincoln, Gandhi, Luther, Nietzsche, Madame Curie, Einstein, Freud, Beethoven, Darwin, Kolumbus, Edison, etc. – durchweg Denker und historische Persönlichkeiten, die nichts mit LSR zu tun haben, bzw. teilweise geradezu LSR-Antipoden sind.

Bei Reich wechseln einige wenige, aber alles entscheidende Stellen unglaublicher Einsichten, die sonst keiner hatte (außer L und S), ab mit langen Passagen, die nicht etwa schlecht oder daneben sind, sondern einfach nur naiv. So naiv, wie jeder gesunde Mensch von Natur aus Pazifist ist (auch wenn dadurch die organisierte Emotionelle Pest triumphiert), den Dalai Lama gut findet, weil er so schön lächelt (obwohl er tatsächlich eine diabolische Figur ist) oder gegen den Klimawandel ist (obwohl er damit Milliarden Menschen auf eine Hungerkatastrophe zusteuern läßt).

Verkomplizierend kommt hinzu, daß Reich in seinen späteren Jahren teilweise nicht mehr so naiv war, sondern „konservativ“ wurde – was auch nichts mit LSR zu tun hat.

Bernd Laska begründet Reichs Verhalten damit, daß Reich im „brennenden Haus“ nicht zu Atem kam. Ich glaube das nicht. Reich war „einfach nur“ naiv.

Andererseits möchte ich mich auch dagegen verwahren, die Welt als „Narrenhaus“ zu sehen. Natürlich leben wir nicht im Narrenhaus! Wenn jemand seine Arbeit macht und die Stadt wie auf wundersame Weise perfekt funktioniert (Arbeitsdemokratie), wenn Kinder spielen, die Jugend Lebensfreude ausströmt und die Alten immer mehr ihre innere Schönheit nach außen tragen, wenn die Vögel zwitschern und die Bäume rauschen – dann sind wir nicht im Irrenhaus. Im Irrenhaus sind wir, wenn das einfache scheinbar unendlich kompliziert wird. Wenn wir vor dem „Reformstau“ stehen und „die Lage noch nie so ernst war wie heute“. Das höre ich, seit ich höre, also etwa seit 1971!

In diesem Sinne war Reichs Naivität Ausdruck seiner Gesundheit: Es gibt keine Probleme, alles ist lösbar!

Zum Themenkomplex von Reichs Naivität gehört auch, daß es schlichtweg falsch ist, daß der frühe Reich sich klar ausgedrückt hat und alles tat, um verstanden zu werden und daß der späte Reich kryptisch wurde. Abgesehen von ein paar wenigen technischen Artikeln, die eh nicht für die Verbreitung bestimmt waren, sondern „for the record“, wurden Reichs Schriften immer zugänglicher. Die frühen psychoanalytischen Aufsätze sind in einem gewundenen und mit der psychoanalytischen Geheimsprache durchsetzen Stil geschrieben, dem man nur mit großer Konzentration folgen kann. Danach hat Reich auf eine geradezu einschläfernde Weise allgemeinverständlich geschrieben. Und das mit der „orgonomischen Geheimsprache“ ist ein Mythos. Später hat er sogar weitgehend auf „Orgon“ verzichtet und lieber von „kosmischer Lebensenergie“ gesprochen. „Melanor“, etc. findet sich nur in den erwähnten paar Artikeln – und selbst die sind sofort verständlich, wenn man denn guten Willens ist. „Geheimsprachlich“ drücken sich vielmehr Reichs Gegner aus: Wissenschaftler (etwa Psychologen), die ständig mit neuen Wortschöpfungen aufwarten und „Denker“, die sich a la Adorno daran berauschen, daß kein Mensch ihnen folgen kann.

Es waren vor allem Ollendorff und Neill, die Reich vorgeworfen haben, er würde es seinen Lesern viel zu schwer machen. Das hat Reich ernst genommen und tatsächlich noch einfacher geschrieben (etwa in Äther, Gott und Teufel). In seiner Naivität erkannte Reich nicht, daß es nicht etwa an der (nicht vorhandenen) Kompliziertheit seiner Ausdrucksweise lag, – sondern an der inneren Abwehr von Ollendorff und Neill.

Hierher gehört auch, daß Reich nur „immanente Kritik“ zuließ, – denn selbst ihm wurde die innere Abwehr seiner Mitmenschen manchmal zu viel. Wer nicht zuhören, wer nicht lesen kann (und die meisten Menschen, können nicht lesen – sie lesen, was sie lesen wollen, nicht was auf dem Papier steht), – hat kein Recht „kritische Fragen“ zu stellen! Das meinte Reich mit seiner Forderung nach „immanenter Kritik“.

Die Welt ist ein Irrenhaus, also ist es nur logisch, daß der Nicht-Beknackte Reich da zugrunde gehen mußte? Kein gesunder Mensch braucht in dieser Welt zugrundezugehen. Die meisten, praktisch alle, kommen sogar hervorragend zurecht. Wie etwa Neill verblüfft konstatierte, als ausgerechnet seine Schüler hervorragend im wohl neurotischten Teil der Gesellschaft zurechtkamen, der Armee. An ihr (und allgemein an der Gesellschaft) scheitern allenfalls die Allerkränkesten… Ich bin nicht stolz auf mein Scheitern als Soldat!

Auch Reich ist hervorragend in der Welt zurecht gekommen: im Krieg, als Emigrant.

Er ist nicht an seiner Gesundheit gescheitert, sondern wegen dieses „Plus“, von dem ich oben sprach: das „LSRische“. Kurz: er hatte eine Mission. Das hat die Emotionelle Pest aktiviert. Deshalb auch seine Faszination für die Christus-Figur.

Reflektionen über Max Stirner von konservativer Warte (Teil 62)

1. Mai 2023

[Diese Reihe soll zur Auseinandersetzung mit Bernd A. Laskas LSR-Projekt animieren.]

Der amerikanische Philosoph Eric Hoffer, den ich hier nach Charles Konias Clueless (S. 246) zitiere, schreibt etwas über die junge Generation, das man so auch auf das innige Verhältnis von Konservatismus und Stirners Anthropologie anwenden kann:

Menschen, die [wie es „woke“ Linke tun] ihr Leben als unheilbar verdorben betrachten, können in der Selbstverwirklichung kein lohnendes Ziel finden. Die Aussicht auf eine individuelle Karriere kann sie nicht zu einer gewaltigen Anstrengung bewegen, noch kann sie in ihnen Glauben und hingebungsvolle Zielstrebigkeit hervorrufen. Sie betrachten das Eigeninteresse als etwas, das mit dem Bösen behaftet ist, als etwas Unreines und Unglückliches. Alles, was unter der Schirmherrschaft des Egoismus unternommen wird, scheint ihnen zum Scheitern verurteilt. Nichts, was seine Wurzeln und Gründe in der eigenen Person hat, kann edel und gut sein. Ihr innerstes Verlangen ist das nach einem neuen Leben – einer Wiedergeburt – oder, falls dies nicht möglich ist, nach einer Chance, durch die Identifikation mit einer heiligen Sache neue Elemente des Stolzes, der Zuversicht, der Hoffnung, der Sinnhaftigkeit und des eigenen Wertes zu erlangen. Eine aktive Massenbewegung bietet ihnen Möglichkeiten für beides. Wenn sie sich der Bewegung als vollständige Konvertiten anschließen, werden sie in einem neuen Leben in ihrem eng verbundenen kollektiven Körper wiedergeboren, oder wenn sie sich zu Sympathisanten hingezogen fühlen, finden sie Elemente des Stolzes, der Zuversicht und des Ziels, indem sie sich mit den Bemühungen, Errungenschaften und Aussichten der Bewegung identifizieren.

Den Enttäuschten bietet eine Massenbewegung entweder Ersatz für ihr ganzes Selbst oder für die Elemente, die das Leben erträglich machen und die sie aus ihren individuellen Ressourcen nicht hervorbringen können.

Der Erfolg des Westens im allgemeinen und des Kapitalismus im besonderen beruht darauf, daß Menschen ihre Sache auf nichts gestellt haben. Durch bloße Initiative erschaffen sie sich, nach dem Vorbilde Gottes, aus dem Nichts ( = voraussetzungslos, im Sinne von spontan, nicht-mechanisch!). Man hat eine Geschäftsidee und verwirklicht sie, ohne seine Gedanken über den Zustand dieser Welt zu verschwenden. Das beste Beispiel ist Reich selbst, der eine „Gesellschaft“ nach der anderen aus dem Boden gestampft hat. Oder wie der Rocksänger Sammy Hagar nach seinem Rauswurf bei Van Hallen einmal in einem Interview sagte: „Setz mich nackt irgendwo in der Wüste Arizonas aus. Nach zwei Jahren werde ich in einem Ferrari zurückkehren.“

Elsworth F. Baker hat gezeigt, daß der Konservative der Vater-Imago („Gott“) nacheifert, während der Linke dagegen rebelliert, gegen die „Ungerechtigkeit“ protestiert und in der Jauche der Jammerei versinkt. Kein Wunder, daß Stirner als „Urvater des Faschismus“ „entlarvt“ wurde… (Ich verweise wieder auf The Omega Man aus Teil 53!)

Nochmal: „seine Sache auf nichts bauen“. Die Erschaffung der Welt aus dem Nichts, ist keine naturphilosophische oder gar „physikalische“ Aussagen, sondern hat eine theologische Bedeutung: Gott handelt spontan, „selbstherrlich“. Gott (und damit sein in seiner Natur mit ihm identische Sohn Christus) wird von Anfang an so definiert, daß nichts über ihm steht, das ihn zu irgendetwas veranlassen könnte. Gewisserweise ist Gott bzw. Christus als „über-ich-frei“ (ungepanzert) definiert, d.h. als spontan agierend.

Wenn man aus dieser Sichtweise Stirners Der Einzige und sein Eigentum, insbesondere aber seine Parerga, Kritiken, Repliken liest, wird offensichtlich, warum Reich Stirners Hauptwerk in die Bibliographie am Ende seines Werkes aufgenommen hat. Der „Einzige“ (sic!) ist der ideale genitale Charakter, der, frei nach Elsworth F. Baker, im realen Leben dem konservativen Charakter noch am nächsten kommt.

Reflektionen über Max Stirner von konservativer Warte (Teil 58)

26. März 2023

[Diese Reihe soll zur Auseinandersetzung mit Bernd A. Laskas LSR-Projekt animieren.]

Der Vordenker eines „zukunftsfähigen Konservatismus“, Günter Rohrmoser, behandelt Stirner wie folgt:

Diese Individualisierung und das mit ihr verbundene Freiheitsprinzip sind Ausdruck einer geschichtlichen Entwicklung, die Max Stirner, ein Philosoph des 19. Jahrhunderts, in seinem Buch Der Einzige und sein Eigentum charakterisiert hat. Es ist die Tendenz, daß jeder einzelne sich mit seinen Bedürfnissen, seinen Interessen und Ansprüchen selbst zum Absoluten erklärt und jede Beschränkung seines Willens zur Erfüllung der eigenen Ansprüche als eine unerträgliche Einschränkung und Unterdrückung seiner Freiheit versteht. Nietzsche hat diese Tendenz die „atomistische Revolution“ genannt, das heißt die Auflösung aller innerlich zusammenhaltenden, Gemeinschaft schaffenden Kräfte. (Rohrmoser: Der Ernstfall. Die Krise unserer liberalen Republik, Berlin: Ullstein, 1994, S. 423)

Und nochmal – mit den gleichen Worten:

Was sich nach dem Wiederaufbau der Gesellschaft nach dem Kriege in Deutschland entwickelt hat, ist eine Gesellschaft, die dabei ist, alles zu revidieren, was als Grundlage für ihren Aufbau von Bedeutung war. Die zunehmend postmodern sich verfassende Gesellschaft ist die Konsequenz eines seit langem andauernden, nun sich beschleunigenden Prozesses der Individualisierung. Die einzig beachtenswerte Substanz in dieser Gesellschaft scheint der einzelne zu sein, der sich in seinem Recht absolut setzt. Das sich absolut setzende Individuum negiert jede es übersteigende objektive Allgemeinheit. Das ist das Zeitalter Max Stirners: Jedes Individuum ist im Verhältnis zu sich selbst das Absolute. Wenn dieser Prozeß der Individualisierung und des Hedonismus sich weiter durchsetzt, muß das zwangsläufig zur inneren Auflösung der Gesellschaft führen. Es wird die „atomistische Revolution“ (Nietzsche) eintreten. Nietzsche sah, daß aus dem Niedergang der bürgerlichen Gesellschaft, aus der Selbstzersetzung und der Dekadenz der bürgerlichen Kultur die atomistische Revolution hervorgehen und die Gesellschaft sich in Anarchie auflösen werde. Die Individuen sind nicht mehr bereit, irgendeine durch die Geschichte gewordene oder vermittelte Autorität anzuerkennen. (ebd., S. 425)

Bezeichnend ist, daß sich der christliche Philosoph Rohrmoser auf den Antichristen Nietzsche beruft, um vor der geistigen Atombombe Stirner zu warnen. Auch interessant, daß Rohrmoser die gleichen Befürchtungen hegt, wie vor 150 Jahren Marx angesichts Stirners: Zersetzung und Anarchie! Rohrmosers Befürchtungen ähneln auch denen des Super-Marxisten Hans G. Helms (Die Ideologie der anonymen Gesellschaft, 1966) der Stirner schnurstraks mit den Nationalsozialisten und allem Bösen in der Welt kurzschloß.

Vielleicht bezieht sich Rohrmoser auf folgende Stelle aus Nietzsches Schopenhauer als Erzieher (nach Laskas Theorie hat Schopenhauer Nietzsche vor Stirner „gerettet“):

Es sind [im modernen Leben] gewiß Kräfte da, ungeheure Kräfte, aber wilde, ursprüngliche und ganz und gar unbarmherzige. Man sieht mit banger Erwartung auf sie hin wie in den Braukessel einer Hexenküche (…). Seit einem Jahrhundert sind wir auf lauter fundamentale Erschütterungen vorbereitet; und wenn neuerdings versucht wird, diesem tiefsten modernen Hange, einzustürzen oder zu explodieren, die konstitutive Kraft des sogenannten nationalen Staates entgegenzustellen, so ist doch für lange Zeiten hinaus auch er nur eine Vermehrung der allgemeinen Unsicherheit und Bedrohlichkeit. Daß die Einzelnen sich so gebärden, als ob sie von allen diesen Besorgnissen nichts wüßten, macht uns nicht irre: ihre Unruhe zeigt es, wie gut sie davon wissen; sie denken mit einer Hast und Ausschließlichkeit an sich, wie noch nie Menschen an sich gedacht haben, sie bauen und pflanzen für ihren Tag, und die Jagd nach Glück wird nie grösser sein, als wenn es zwischen heute und morgen erhascht werden muß: weil übermorgen vielleicht überhaupt alle Jagdzeit zu Ende ist. Wir leben die Periode der Atome, des atomistischen Chaos. Die feindseligen Kräfte wurden im Mittelalter durch die Kirche ungefähr zusammengehalten und durch den starken Druck, welchen sie ausübte, einigermaßen einander assimiliert. Als das Band zerreißt, der Druck nachläßt, empört sich eines wider das andre. Die Reformation erklärte viele Dinge für Adiaphora, für Gebiete, die nicht von dem religiösen Gedanken bestimmt werden sollten; dies war der Kaufpreis, um welchen sie selbst leben durfte: wie schon das Christentum, gegen das viel religiösere Altertum gehalten, um einen ähnlichen Preis seine Existenz behauptete. Von da an griff die Scheidung immer weiter um sich. Jetzt wird fast alles auf Erden nur noch durch die gröbsten und bösesten Kräfte bestimmt, durch den Egoismus der Erwerbenden und die militärischen Gewaltherrscher. Der Staat, in den Händen dieser letzteren, macht wohl, ebenso wie der Egoismus der Erwerbenden, den Versuch alles aus sich heraus neu zu organisieren und Band und Druck für alle jene feindseligen Kräfte zu sein: das heißt, er wünscht daß die Menschen mit ihm denselben Götzendienst treiben möchten, den sie mit der Kirche getrieben haben. Mit welchem Erfolge? Wir werden es noch erleben; jedenfalls befinden wir uns auch jetzt noch im eistreibenden Strome des Mittelalters; es ist aufgetaut und in gewaltige verheerende Bewegung geraten. Scholle türmt sich auf Scholle, alle Ufer sind überschwemmt und gefährdet. Die Revolution ist gar nicht zu vermeiden und zwar die atomistische: welches sind aber die kleinsten unteilbaren Grundstoffe der menschlichen Gesellschaft? (KSA Bd. 5, S. 367f)

Es sind die selbstsüchtigen tierischen Triebe und die hündische Feigheit des Menschen. Doch „der Schopenhauerische Mensch nimmt das freiwillige Leiden der Wahrhaftigkeit auf sich“ (ebd., S. 371). Schon bei Nietzsche findet sich dergestalt nicht nur Stirner vs. Schopenhauer, sondern bereits mehr als deutlich Reich („der revolutionäre Träumer“) vs. Freud („der abgeklärte Realist“).

Dieser innere Konflikt Nietzsches, der den Kern unserer gesamten Kultur ausmacht, zieht sich in den Folgejahren durch Nietzsche Oeuvre. Das geht bis Der Fall Wagner (KSA Bd. 6, S. 27), wo von „(…) Anarchie der Atome (…) ‚Freiheit des Individuums‘ (…) ‚gleiche Rechte für Alle‘ (…)“ die rede ist, wobei er sich hier wohl in erster Linie auf Rousseau (indirekt also auf Marx!) und wieder auf das (bzw. Rohrmosers) Christentum bezieht. Denn was habe das Christentum „am besten und längsten“ gelehrt? Die „Seelen-Atomistik“ (Jenseits von Gut und Böse, KSA Bd. 5, S. 27). Das ganze geht also bis auf den (gnostischen) Christus zurück… Zu Christus und Stirner siehe Bd. 1 von Der verdrängte Christus.

Das Jüngste Gericht begann 1960 (Teil 1)

19. März 2023

Vielleicht könnte man Reichs Studie zum Masochismus („der Drang von außen zum Platzen gebracht zu werden“) auf das Weltgeschehen anwenden. Man denke nur an den Iran (den 12. Iman hervorlocken, indem man die Welt an den Abgrund bringt) oder Israel (dem Messias und damit dem Weltende die Bahn ebnen).

Meines Wissens beschäftigt sich Reich nur an einer Stelle ausdrücklich mit dem „Jüngsten Gericht“ und zwar im Christusmord:

Christus ist „gegen“ einen bewaffneten Aufstand. Er lehnt es ab, einen solchen Aufstand zu führen. Er predigt eine Seelenrevolution, die das Tiefstinnere nach außen kehrt. Christus weiß, daß das jüngste Gericht schon auf seine Generation herabkommen wird. Wenn es nicht gelingt, dieses Tiefstinnere nach außen zu kehren und zu praktischer Wirksamkeit zu bringen. Christus fühlt mehr als daß er bewußt erkennt, daß der Mensch seinen Kern widerfinden und lieben muß, wenn er überleben und das Himmelreich auf Erden errichten will. (Christusmord, Freiburg 1978, S. 129f)

Das schrieb Reich zu einer Zeit, 1951, als langsam jener „Emanzipationsprozeß“ anhob, der sich dann in den 1960er Jahren entfalten und sich schließlich als ein Alptraum erweisen sollte. In dieser Hinsicht ist sein Gesamtwerk so eine Art „Apokalyptik“: „die mißglückte biologische Revolution“ (Titel des Kapitels über den Nationalsozialismus in Die Funktion des Orgasmus, 1942). Das „vegetative Leben“ strebt nach Befreiung, aber da sich die „Struktur“ nicht ändert (die „Panzerung“ = festgefahrene Verhaltensmuster, versteifte Körper), muß jeder „Befreiungskampf“ wohl oder übel in einen Alptraum münden – und je grundsätzlicher die Befreiung ist, desto schlimmer der Alptraum, desto totaler die Apokalypse.

Was Reichs Thema „sexuelle Revolution“ betrifft schreibt er beispielsweise im Christusmord:

Nichts ist leichter, als aus einer Lehre, die die Liebe und die natürliche genitale Umarmung umfaßt, eine Religion der permissiven, pornographischen Sexualität zu machen. Und es gäbe für die Menschheit keine größere Katastrophe als die Herausbildung solch einer Bordellreligion aus einer Botschaft, die die Liebe mit genitaler Umarmung verbindet. (Christusmord, S. 183)

70 Jahre später fühlen sich die Orgonomen, als würden sie die Apokalypse durchleben: nach all der angeblichen „Befreiung“ sind die Menschen kränker und „strukturell“ hoffnungsloser („härter“) als je zuvor – weil es zu keiner „Seelenrevolution“ gekommen ist. Ganz im Gegenteil: die Menschen haben ihre Seele verloren – sie sind kontaktloser geworden.

Reflektionen über Max Stirner von konservativer Warte (Teil 56)

16. März 2023

[Diese Reihe soll zur Auseinandersetzung mit Bernd A. Laskas LSR-Projekt animieren.]

Kurt Hiller, mit dem ich mich kurz in Band 1 von Der Rote Faden (S. 69f) beschäftige, schrieb 1943 über Marx:

Bei allen großen Denkern beobachten wir Entwicklung, Wachstum, gewisse Wandlungen; aber bei Karl Marx sehen wir einen Bruch. Nach 1845 dachte und schrieb Marx das genaue Gegenteil von dem, was er bis 1845 dachte und schrieb. Nicht in politischer Hinsicht das Gegenteil, aber in philosophischer Hinsicht. Während er bis 1845 auf der Linie jenes ethischen Aktivismus philosophierte, der seit Echnaton und Moses, seit Zoroaster und Kungfutse, seit Sokrates und Christus allen Großen der Menschheit gemeinsam ist, ging er nach 1845 dazu über, zu antiphilosophieren: das Geistige als Funktion herabzusetzen, Ethik als Kategorie lächerlich zu machen, über die Idee IDEE zu spotten. Dies war sein berühmter „Materialismus“; nicht, daß er die materielle Bedingtheit des seelisch-geistigen Daseins behauptete und insonderheit die ökonomisch-materielle, deren Schauerlichkeit für einen bedeutenden Sektor der Bevölkerungen unter dem Kapitalismus er erkannte. Er teilte diese Erkenntnis mit den Sozialisten vor ihm, den von ihm „utopisch“ genannten, und die Bedeutung des Materiellen überhaupt war bereits drei, vier Generationen vor ihm von der Aufklärung, besonders der französischen, erfaßt worden und längst Gemeinbesitz aller Gebildeten, gerade auch aller gebildeten Idealisten. Marx‘ „Materialismus“ mit seiner immer noch nicht erloschenen Herausforderung ist: sein Nein zur philosophischen Methode. Welche er bis zu seinem siebenundzwanzigsten Jahre selber großartig angewandt hat. Wie der Bruch zu erklären sei, darüber mögen Historiker mit Psychologen, Zeloten mit Zynikern streiten. (Kurt Hiller: Marx-Kritik in der Nußschale. In: Köpfe und Tröpfe, Hamburg 1950, S. 153-170)

Man kann mit Fug und Recht sagen, daß 1845 der Rote Faschismus begann. Siehe wieder Der Rote Faden. Der gesamte Marxismus war nichts anderes als eine gescheiterte, sich ins Gegenteil kehrende biologische Revolution!

Was war 1845 geschehen? Marx war (übrigens wie später gewisserweise auch Freud!) Feuerbachianer, d.h. „Gott“ und damit alle Ideale wurden als bloße Projektionen „des Wesens des Menschen“ entlarvt. Man war „Humanist“. Dann kam Stirner und entlarvte dieses „Menschenwesen“ als bloßen Spuk; ein Gespenst, das das einzig Reale bedrückt, den einzelnen konkreten Menschen. Damit brach Marx‘ gesamtes Weltbild zusammen. Kein „Ideal“ mehr und sei es „der Mensch“. Um kein Stirnerianer werden zu müssen, entwarf Marx den Historischen Materialismus, d.h. den realen Verhältnissen wird kein Ideal, kein normativer Maßstab, äußerlich entgegengehalten:

Worum es Marx ganz wesentlich geht, ist, die materiellen Verhältnisse als solche auszuweisen, die aus sich selbst heraus notwendig „die realen Bedingungen ihrer eignen Aufhebung“ hervorbringen und so die Menschen in den Zustand versetzen, erstmals zum Subjekt zu werden, „das in dem Produktionsprozeß nicht in bloß natürlicher, naturwüchsiger Form, sondern als alle Naturkräfte regelnde Tätigkeit erscheint“. Damit wären die „universal entwickelten Individuen, deren gesellschaftliche Verhältnisse als ihre eignen, gemeinschaftlichen Beziehungen auch ihrer eignen gemeinschaftlichen Kontrolle unterworfen sind, (…) kein Produkt der Natur, sondern der Geschichte“. (Matthias Spekker: „ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär“. Wahrheit in Marx‘ wissenschaftlicher Gesellschaftskritik)

Hinter all dem verqueren Wortgeklingel, das die Wahrheit verbergen soll, wird dem dialektisch geschulten Blick unmittelbar deutlich, worum es geht – um etwas, was später Reich von den Marxisten um die Ohren gehauen werden sollte: die Gesellschaft, die Geschichte gegen die Biologie, die Natur; die Gesellschaft gegen das Individuum; Regulierung und Planung gegen Selbstbestimmung und Selbststeuerung. Hinter all dem pseudo-aufklärerischen Bombast kehrt die Reaktion in potenzierter Form zurück: Roter Faschismus. Schlimmer: die Reaktion hatte wenigstens noch einen vagen Respekt vor dem Individuum und der Natur, während der Marxismus nur Unterdrückung und Zerstörung kennt.

Marx war sozusagen besessen und wurde, trotz seines intensiven Stirner-Studiums, seine Gespenster nicht wieder los. Um Reich zu paraphrasieren: diese Pseudo-Revolutionäre müssen ihre Seele dem Teufel verkaufen, während der Konservative wenigstens die Chance hat anständig zu bleiben.

DER VERDRÄNGTE CHRISTUS / Band 2: Das orgonomische Testament / Nachbetrachtung & Schlußbekenntnis

11. Februar 2023

DER VERDRÄNGTE CHRISTUS / Band 2: Das orgonomische Testament / Nachbetrachtung & Schlußbekenntnis

DER VERDRÄNGTE CHRISTUS / Band 2: Das orgonomische Testament / 19. Die Dogmatik der Christusmörder: Das befreite Fließen der kosmischen Lebensenergie

10. Februar 2023

DER VERDRÄNGTE CHRISTUS / Band 2: Das orgonomische Testament / 19. Das befreite Fließen der kosmischen Lebensenergie

DER VERDRÄNGTE CHRISTUS / Band 2: Das orgonomische Testament / 19. Die Dogmatik der Christusmörder: Christus und Hitler (Teil 2)

21. Januar 2023

DER VERDRÄNGTE CHRISTUS / Band 2: Das orgonomische Testament / 19. Die Dogmatik der Christusmörder: Christus und Hitler (Teil 2)

DER VERDRÄNGTE CHRISTUS / Band 2: Das orgonomische Testament / 19. Die Dogmatik der Christusmörder: Christus und Hitler (Teil 1)

19. Januar 2023

Dieses Bild hat ein leeres alt-Attribut; sein Dateiname ist grafik.png

DER VERDRÄNGTE CHRISTUS / Band 2: Das orgonomische Testament / 19. Die Dogmatik der Christusmörder: Christus und Hitler (Teil 1)

DER VERDRÄNGTE CHRISTUS / Band 2: Das orgonomische Testament / 19. Die Dogmatik der Christusmörder: Die gefälschten Paulusbriefe und die „katholischen Briefe“ (Teil 2)

13. Januar 2023

DER VERDRÄNGTE CHRISTUS / Band 2: Das orgonomische Testament / 19. Die Dogmatik der Christusmörder: Die gefälschten Paulusbriefe und die „katholischen Briefe“ (Teil 2)