Der Gegensatz von Quantität und Qualität ist die Grundlage der Physik. Durch diese Trennung hat sie sich von der Aristotelischen Philosophie befreit und ist zur Wissenschaft geworden. Zum Beispiel interessiert die Farbe Blau und ihr Verhältnis zur Farbe Rot in keinster Weise, sondern z.B. nur daß die „blauen“ Photonen energiereicher sind, als die „roten“. Daß Rot eine Signalfarbe ist und Blau etwas melancholisch wirkt, ist den Physikern egal und muß draußen vor bleiben. Für Reich war jedoch gerade die Aufhebung des Gegensatzes von Quantität und Qualität der Ausgangspunkt der Orgonomie.
Physiker räumen gerne ein, daß Aristoteles vielleicht ein guter Psychologe und Biologe gewesen sein mag, wenn er nur nicht sein psychologisches und biologisches Denken auf rein physikalische Phänomene übertragen hätte. Doch sowohl für Aristoteles als auch für Reich war es nicht die Aufgabe der Psychologie und Biologie der Physik zu folgen, sondern umgekehrt. Dazu schrieb Reich 1944 in einem Brief an seinen Mitarbeiter Theodore Wolfe:
Es ist kein Zufall, daß die Orgonenergie – d. h. die grundlegende kosmische Energie, die das Leben steuert – nicht im Kontext der Physik toter Materie, sondern im Kontext der Psychiatrie, der Emotionen, entdeckt wurde. Bei der Entdeckung habe ich in keinster Weise den Bereich der Bio-Psychiatrie verlassen. Die Beziehung zwischen der physikalisch-mathematischen Wissenschaft und der Wissenschaft vom Leben wird einfach umgekehrt: bis jetzt sind Biologie, Medizin, etc. der Chemie und Physik gefolgt und versuchten auf eine völlig verfehlte Weise ihre Wissenschaft auf Gesetze zu gründen, die im Bereich der anorganischen Physik entdeckt worden waren. Die Entdeckung des Orgons kehrt diese Beziehung um. Jetzt stellen die Funktionen lebendiger Organismen das Modell für die Erforschung einer grundlegenden Energie dar. Dies wird nicht nur für die Erforschung der Orgonenergie zur Anwendung kommen, sondern für weit mehr als dies: die vielen Lücken und Widersprüche im Bereich von Chemie und Physik werden ausschließlich durch die Tatsachen, die aus der Orgon-Forschung hervorgehen, gelöst werden. Von nun an, und das kann ich sicher voraussagen, wird es nicht mehr die Rolle von Biologie und Psychiatrie sein, Physik und Chemie zu folgen, vielmehr werden die Rollen vertauscht werden und es werden Physik und Chemie sein, die Biologie und Psychiatrie folgen, um sich auf eine bessere und exaktere wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Dies gilt auch in einem anderen, tieferen erkenntnistheoretischen Sinn. (American Odyssey, S. 223)
Dies ist in meinen Augen der spezifische Grund, warum fast jeder Physiker fast automatisch so negativ auf Reich reagiert. Schließlich entwickelte sich die Physik durch die Emanzipation vom Aristotelischen Ansatz, d.h. einer psychologistischen bzw. biologistischen Herangehensweise. Es ist nur allzu verständlich, daß Physiker derartig allergisch auf Reich reagieren, so als sei er im wahrsten Sinne des Wortes „mittelalterlich“.
Charles Konia führt in seinem Buch Neither Left Nor Right aus, daß alle bedeutenden politischen Denker seit der Antike entweder mystischen oder mechanistischen Theorien anhingen und auf dieser unpassenden Grundlage die Gesellschaft verstehen wollten. Aristoteles sei die einzige Ausnahme gewesen, denn er war an erster Stelle Naturwissenschaftler. Theorie hatten den Fakten zu folgen. Außerdem war er praktisch der einzige „mit einem auf der Biologie gründenden Verständnis der gesellschaftlichen Organisation“ (S. 6).
Die Wirklichkeit ist, so Konia, für Aristoteles nicht statisch, sondern entwickelt sich einem Ziel entgegen, d.h. sie ist funktioneller Natur. Bei Aristoteles steht das Ganze (etwa der Staat) vor dem Teil (das Individuum). Der Staat setze sich nicht aus einer Anzahl von Menschen zusammen (Quantität), sondern aus unterschiedlichen Arten von Menschen. Der Staat ist ein organisches Gebilde, das sich selbst reguliert, keine Maschine, die von Machteliten benutzt wird. Entsprechend sollte es nicht eine Herrschaft von Menschen, sondern die des Rechts geben. Aufgrund seines funktionellen Denkens konnte bereits Aristoteles vor dem Sozialismus warnen. (Im damaligen Sprachgebrauch redete Aristoteles in diesem Zusammenhang von „Demokratie“. Übrigens sind die westlichen Staaten, etwa die USA, England oder Deutschland nicht einfach „Demokratien“, sondern in Aristotelischer Tradition Republiken bzw. konstitutionelle Monarchien, d.h. der Souverän kann sich nicht willkürlich über Gesetze hinwegsetzen, manche Gesetze von Verfassungsrang nicht mal verändern!)
Insbesondere hebt Konia den Unterschied zum Mystizismus Platos hervor. Wie dies mit der Entdeckung des Orgons zusammenhängt, kann man sich vielleicht am besten am Leib-Seele-Problem vergegenwärtigen. Hans Hass führt aus, daß für Plato der Leib nur das Werkzeug der Seele gewesen sei. Der Leib sei ein „Fahrzeug“ der Seele, das sie wie ein „Steuermann“ lenke.
[A]nders sahen Aristoteles und viele nach ihm die Seele. Sie ist kein Wesen, das vom lebenden Körper getrennt existiert, sondern eine Kraft, die den Leib zum Lebendigen macht. Sie ist ein gestaltendes Prinzip, sie kommt auch schon den Pflanzen zu. Sie ist ein Formprinzip: Leib und Seele verhalten sich zueinander wie Stoff und Form (Duns Scotus). Kritolaos nannte die Seele „Quinta essentia“. Nach E. Becher ist sie der „führende Faktor“ in den Organismen. Die Aristotelische Bezeichnung „Entelechie“ wurde von H. Driesch übernommen. Die Seele ist eine ganzmachende ordnende Kraft, nur ein Teil der Seele sei im Menschen bewußt: das „lch“. (Naturphilosophische Schriften, Bd. 3: Energon-Theorie, München 1987, S. 266)
- die Seele bestimmt den Körper;
- der Körper bestimmt die Seele;
- und
- Seele und Körper existieren nebeneinander und beeinflussen einander;
- und
- Seele und Körper schließen einander aus;
- und
- Seele und Körper sind ein und dasselbe;
- die biologische Energie.