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Die Rolle der Mittleren Schicht in unserem Leben

18. Januar 2016

Es gibt kaum etwas Gruseligeres als Menschen, die die Orgonomie grundlegend mißverstanden haben. Beispielsweise ist Panzerung eben nicht das Schlechte oder gar Böse per se, sondern sie erfüllt eine lebenswichtige Aufgabe – sonst würde es sie gar nicht geben. Schizophrene leiden unter einem Mangel an Panzerung, was den Körper dazu zwingt im okularen Bereich zu kontrahieren und jede bioenergetische Erregung zu drosseln. Ähnliches beobachten wir heute bei einem Gutteil der „orientierungslosen Jugendlichen“.

Was ist Panzerung überhaupt? Sie beruht auf unserer Fähigkeit unangenehme Außenreize abzublocken, etwa wenn wir es auf einer Party mit sehr unangenehmen Menschen zu tun haben und „zumachen“. Umgekehrt können wir durch den gleichen Mechanismus auch verhindern, daß unsere wahren Impulse, beispielsweise einem besonders widerwärtigen Partygast eins in die Fresse zu hauen, nicht durchbrechen. Wir haben uns „unter Kontrolle“. Das ist die Rolle der „Mittleren Schicht“, die sich zwischen unseren bioenergetischen Kern und unsere soziale Fassade schiebt.

Das Drama fängt an, wenn diese Mittlere Schicht wegfällt: wir werden, ähnlich wie der Schizophrene, Spielball der Umwelt und unserer eigenen unberechenbaren, spontanen Impulse. Wir sind schlicht nicht überlebensfähig!

Ähnlich schlimm ist es, wenn die Mittlere Schicht erstarrt und sozusagen „automatisch“ wird. Dann können wir uns auch bei angenehmen geselligen Zusammenkünften nicht mehr öffnen und unsere Gefühle auch dann nicht zum Ausdruck bringen, wenn es angebracht ist. Das ist das Schicksal des innerlich erstarrten, triebgehemmten Charakters, bei dem sich die rationale Mittlere Schicht in eine irrationale Sekundäre Schicht umgewandelt hat.

Die Sekundäre Schicht ist der Hort der Sekundären Triebe, das Resultat all der Frustration und Umkehrung von natürlichen Impulsen in ihr Gegenteil, die durch die Panzerung hervorgerufen wird.

Der Endpunkt der menschlichen Tragödie ist erreicht, wenn diese Panzerung selbst brüchig wird und die sekundären Triebe nicht mehr unter Kontrolle halten kann. Wir haben es dann mit dem triebhaften Charakter zu tun. An diesem Punkt ist unsere Zivilisation angekommen, als sie sich seit etwa 1960 langsam aber sicher von einer autoritären (triebgehemmten) in eine antiautoritäre (triebhafte) Gesellschaft umwandelte.

Die Mittlere Schicht sorgt für persönliche Selbstkontrolle, die mit Eigenschaften und Verhaltensweisen wie Frustrationstoleranz, Beharrlichkeit, Sorgfalt, Geduld und Bedachtsamkeit einhergehen. Beim triebgehemmten Charakter, bei dem sich die Mittlere Schicht in die Sekundäre Schicht verwandelt hat, werden daraus Indolenz und mechanische Erstarrung, die sich beim triebhaften Charakter in chaotisches Verhalten umkehrt. Plastisch kann man sich das vorstellen, wenn man sich nebeneinander einen gut integrierten, leistungsstarken und glücklichen Schüler vorstellt, daneben ein schüchternes, gehemmtes „Opfer“ und schließlich einen dümmlich herumspadelnden Hip-Hopper.

Amerikanische Forscher um Terrie Moffitt (Duke University) stellten in einer großangelegten Erhebung über die Auswirkungen früh erworbener Selbstkontrolle fest:

Je niedriger der Wert für die Fähigkeit zur Selbstkontrolle im Alter von drei Jahren gewesen war, desto häufiger kam es bei den Studienteilnehmern im späteren Leben zu Problemen jedweder Art, darunter gesundheitliche Schwierigkeiten wie Übergewicht, sexuell übertragbare Erkrankungen und sogar Zahnprobleme. Ähnliches gilt für die Häufigkeit von Drogenproblemen, Kriminalität und der Neigung, sich zu verschulden. Auch ungewollte Schwangerschaften und eine hohe Quote an Schulabbrechern waren den Forschern zufolge typisch für die Gruppe, die schon als Dreijährige bei den Beurteilungen schlecht abgeschnitten hatte.

All das ist einem Mangel an Frustrationstoleranz, Beharrlichkeit, Sorgfalt, Geduld und Bedachtsamkeit zu schulden. Immerhin legt die Studie nahe, daß man die Fähigkeit zur Selbstkontrolle auch später noch erlernen und entsprechend erfolgreich im Leben werden kann.

Ich erinnere mich gerne an eine Szene in der U-Bahn als zwei betrunkene, bekiffte, jedenfalls intoxikierte Gymnasiasten abends herumalberten und eine Bierflasche umfallen ließen, so daß sich ihr Inhalt über den Boden ergoß und sie laut scheppernd ständig hin und her rollte. Keiner der sichtlich genervten Fahrgäste, einschließlich mir, traute sich etwas gegen die beiden Alleinunterhalter zu sagen. Bis schließlich ein stämmiger junger Mann, vielleicht im gleichen Alter wie die beiden Gymnasiasten, sie fixierte und sie ruhig aber bestimmt ansprach: Was das denn für eine Sauerei sei und daß sie gefälligst die Flasche aufheben sollten. „Kommst Du gerade vom Training?“ „Ja, vom Boxtraining.“ Da würde man Ausdauer, Selbstkontrolle, Ehrgefühl und wie man sich zu benehmen hat, lernen. Und wenn sie nicht gleich die Flasche aufheben, gäbe es eine blutige Nase. „Und wehe ein Spritzer Blut kommt auf meinen Anzug, dann bist Du tot!“

Würden wir alle Box- oder irgendein anderes Kampftraining machen, wäre das Leben in dieser Gesellschaft weitaus erträglicher. Insbesondere in den asiatischen Kampfkünsten lernt man, die organismische Orgonenergie, das „Qi“, willentlich zu kontrollieren. Genau das ist die Aufgabe der Mittleren Schicht. In der deutschen Sprache gibt es einen eigenen Begriff dafür: Charakter. Boxtraining (oder ähnliches) ist „Charakterbildung“.

Die Emotionen, die Arbeitsdemokratie und der Mystizismus

18. Januar 2016

Es gibt fünf Grundemotionen. Lust, Wut und Sehnsucht entsprechen einer Expansion, Angst und Trauer einer Kontraktion. Den drei expansiven („produktiven“) Emotionen kann man Liebe, Arbeit und Wissen zuordnen, die die drei Grundlagen der Arbeitsdemokratie sind.

Visionäre Zustände, auf die vermeintliche „Esoteriker“ ihre Systeme aufbauen, sind der Orgonomie nicht neu. Vegetative Erregungen gehen vom Solar plexus aus und streben nach Entladung. Normalerweise äußert sich die Liebe (und zwar ausnahmslos alle Liebe, also nicht nur die sexuelle) in einer Erregung des Genitals. Bei Mystikern wird daraus „göttliche Liebe“, was nichts anderes heißt als sozusagen „genitallose Kastratenliebe“, bzw. Kopfliebe – also überhaupt keine Liebe, sondern Verachtung, im besten Fall Verwirrung.

Einer von Reichs Patienten beschrieb:

In der Brust beginnt sich etwas zu regen, dann schießt es in den Kopf, ich bekomme das Empfinden, als ob mein Kopf zerspringen wollte. Es legt sich wie ein Nebel um meine Augen. Ich kann nicht mehr denken. Ich verliere das Empfinden für das, was um mich vorgeht. Ich drohe zu versinken, mich und alles um mich zu verlieren.

Dazu schreibt Reich: „Solche Zustände traten immer dann auf, wenn eine Erregung das Genitale nicht erreichte und ’nach oben‘ abgelenkt wurde“ (Die Funktion des Orgasmus, Fischer TB, S. 256).

Jene vegetativen Erregungen, die sich als Arbeit entladen (d.h. die Hindernisse für die Liebe aus dem Weg räumen bzw. die Voraussetzungen für die Liebe schaffen wollen), bedienen sich der Muskulatur. Bei Mystikern wird daraus „Arbeit“ an der spirituellen Vervollkommnung des Menschen, d.h. die Hintertreibung jeder aggressiven Lebensbewältigung – also Anti-Arbeit. Man denke nur an all das kontraproduktive Unheil, das die spirituelle Disziplin der „Nächstenliebe“ anrichtet, etwa im Zusammenhang mit der gegenwärtigen „Flüchtlings“-Krise.

Jene vegetative Erregungen, die sich als Streben nach Wissen entladen, gehen in Brust und Arme: es wird versucht die Welt „zu begreifen“. Eindrücke werden gewonnen und verarbeitet, um die Welt „zu entschlüsseln“. Man nehme das Bild eines Hausschlüssels, der in Knetmasse einen „Eindruck“ hinterläßt und anhand dieser Vorlage beliebig vervielfältigt werde kann. In der kotaktlosen Mystik werden (man verzeihe das verquere Bild!) damit Luftschlösser aufgeschlossen, d.h. nichts ergründet, nichts erkannt, nichts zum Leben beigetragen. Es seien nur die absurden Konzepte der Anthroposophie erwähnt. Ganze Gesellschaften beschäftigen sich mit nichts anderem als purem Unsinn.

Die Kultur, der Bereich des Wissens, ist funktionell identisch mit der Fassade, die unter gesunden Verhältnissen getreulich den Kern, den Bereich der genitalen Liebe widerspiegelt. Die Arbeit entspricht der Mittleren Schicht, die für die „Charakterstärke“, d.h. die Durchsetzungsfähigkeit des Kerns (und seiner Fassade) steht.

Durch die Panzerung wird aus Liebe Verachtung, da die Energie zum Kopf hin verlagert wird. Aus Lust wird Frustration. Der Panzer verwandelt Aggression in Destruktion. Aus Arbeit wird Zerstörung, jedenfalls läuft der Mystizismus im Endeffekt immer darauf hinaus. Wissen beruht auf Kontakt, entsprechend führt Kontaktlosigkeit zur Lüge.

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