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Reflektionen über Max Stirner von konservativer Warte (Teil 104)

6. Februar 2024

[Diese Reihe soll zur Auseinandersetzung mit Bernd A. Laskas LSR-Projekt animieren.]

Marx hat 1844 vor Kenntnisnahme von Stirners Der Einzige und sein Eigentum bereits die Grundlagen seiner ökonomischen Theorie ausgearbeitet im entsprechenden Teil seiner Pariser Manuskripte. Danach konzentrierte er sich eineinhalb Jahrzehnte auf seine politische und journalistische Arbeit in Köln, Paris, Brüssel und London, so als fliehe er eine Auseinandersetzung bzw. zögere diese hinaus. Erst 1857/58 befaßte er sich wieder grundsätzlich mit der Ökonomie in seinen Grundrissen der Politischen Ökonomie.

Was hatte sich unter dem nachwirkenden Einfluß Stirners in diesen Zwischenjahren geändert? Marx‘ „politökonomischer“ Fokus richtete sich weg vom Markt hin auf die Produktion und von dem Begriff „Arbeit“ auf den der „Arbeitskraft“. Auf einen abstrakten Nenner gebracht, stellte er nicht mehr den Raum (das „Austauschen“ und Wirken im Raum des Marktes) in den Mittelpunkt, sondern die Zeit. Einerseits die Arbeitszeit des Arbeiters, die der Kapitalist sich aneignet (den Mehrwert) und andererseits die Verkleinerung des Raumes durch das Kapital, das alles beschleunigt (sozusagen „verzeitlicht“) und aus dem ganzen Planeten („Weltmarkt“) ein bloßes Dorf macht. Das sozusagen „raumfressende“ Kapital schafft so etwas wie „Frei-Zeit“, die durch den immer weiteren Einsatz von Maschinen (und damit der Zurückdrängung der einzig wertschaffenden menschlichen Arbeit) einerseits das Kapital selbst untergräbt, gleichzeitig damit aber auch die zukünftige kommunistische Gesellschaft vorbereitet, in der die „Freizeit“ allen zukommen wird, wie einst am Anfang der Entwicklung als im „Dorf des Urmenschen“ alles Gemeingut war.

Und was genau hat das mit Stirner zu tun? Das wird offensichtlich, wenn man sich die zentrale Stelle der Grundrisse der Politischen Ökonomie zu Gemüte führt. In einer auf das Kapital gegründeten Produktion komme es zur

Entwicklung von einem stets sich erweiternden und umfassenden System von Arbeitsarten, Produktionsarten, denen ein stets erweitertes und reicheres System von Bedürfnissen entspricht. Wie also die auf das Kapital gegründete Produktion einerseits die universelle Industrie schafft – d.h. Surplusarbeit, wertschaffende Arbeit –, so anderseits ein System der allgemeinen Exploitation der natürlichen und menschlichen Eigenschaften, ein System der allgemeinen Nützlichkeit, als dessen Träger die Wissenschaft selbst so gut erscheint wie alle physischen und geistigen Eigenschaften, während nichts als An-sich-Höheres, Für-sich-selbst-Berechtigtes, außer diesem Zirkel der gesellschaftlichen Produktion und Austauschs erscheint. So schafft das Kapital erst die bürgerliche Gesellschaft und die universelle Aneignung der Natur wie des gesellschaftlichen Zusammenhangs selbst durch die Glieder der Gesellschaft. Hence the great civilising influence of capital; seine Produktion einer Gesellschaftsstufe, gegen die alle früheren nur als lokale Entwicklungen der Menschheit und als Naturidolatrie erscheinen.

Darauf folgen Sätze, als würde Marx Stirner paraphrasieren:

Die Natur wird erst rein Gegenstand für den Menschen, rein Sache der Nützlichkeit; hört auf, als Macht für sich anerkannt zu werden; und die theoretische Erkenntnis ihrer selbständigen Gesetze erscheint selbst nur als List, um sie den menschlichen Bedürfnissen, sei es als Gegenstand des Konsums, sei es als Mittel der Produktion, zu unterwerfen. Das Kapital treibt dieser seiner Tendenz nach ebensosehr hinaus über nationale Schranken und Vorurteile wie über Naturvergötterung und überlieferte, in bestimmten Grenzen selbstgenügsam eingepfählte Befriedigung vorhandener Bedürfnisse und Reproduktion alter Lebensweise. Es ist destruktiv gegen alles dies und beständig revolutionierend, alle Schranken niederreißend, die die Entwicklung der Produktivkräfte, die Erweiterung der Bedürfnisse, die Mannigfaltigkeit der Produktion und die Exploitation und den Austausch der Natur- und Geisteskräfte hemmen.

Jedoch… – so Marx weiter:

Daraus aber, daß das Kapital jede solche Grenze als Schranke setzt und daher ideell darüber weg ist, folgt keineswegs, daß es sie real überwunden hat, und da jede solche Schranke seiner Bestimmung widerspricht, bewegt sich seine Produktion in Widersprüchen, die beständig überwunden, aber ebenso beständig gesetzt werden. Noch mehr. Die Universalität, nach der es unaufhaltsam hintreibt, findet Schranken an seiner eignen Natur, die auf einer gewissen Stufe seiner Entwicklung es selbst als die größte Schranke dieser Tendenz werden erkennen lassen und daher zu seiner Aufhebung durch es selbst hintreiben. (MEW 42, S. 323f)

Die gesamte Argumentationsweise erinnert fatal an Stirner und seiner Darstellung der Entwicklung des „Einzigen“, indem der sich von seinen animistischen und später mystischen Wahnideen immer weiter emanzipiert, die Gespenster bzw. Denkgespinste vertreibt und zum „Einzigen“ wird. Bei Marx ist dieser „Einzige“ eindeutig das „Kapital“, das den Menschen emanzipiert, die Welt schrumpfen und damit handhabbar macht und die Bedingung der Freiheit, die konkret nichts anderes als „Frei-Zeit“ ist, schafft. Gleichzeitig ist das Kapital aber auch die letzte Verkörperung, die letzte Kulmination der Entfremdung und seine Überwindung, die gleichzeitig seine Selbstaufhebung ist, befreit den Menschen von der schlimmsten denkbaren Ausbeutung.

Marx konnte Stirner unmöglich widerlegen, daran war bereits Feuerbach kläglich gescheitert und alle anderen Kritiker bis zum heutigen Tag. Marx tat etwas anderes: er übertrug Stirners weitgehend anthropologisch/psychologisch orientierten Ausführungen auf den Bereich der Ökonomie, dämonisierte dabei den „Einzigen“ in Gestalt des Kapitals, dessen Überwindung zum voll entfalteten „Gattungswesen“ Feuerbachs führt. Das Kapital wird vergesellschaftet, genauso wie das Ich vergesellschaftet wird. Darum (letztendlich im das Über-Ich) dreht sich der gesamte Marxismus von jeher. Das muß man immer im Auge behalten, wenn Marxisten insbesondere Reich „widerlegen“.

Oberflächlich mag es so aussehen, als wären zwischen 1844 und 1858 Marx‘ einst noch weitgehend voneinander getrennte Politökonomie und sein Hegelianismus zu einem unauflösbaren Amalgam miteinander verschmolzen, doch tatsächlich versuchte Marx in der reifen Phase seines Ökonomismus Stirner sozusagen „zu überholen, ohne ihn einzuholen“. Die ganze berühmte Marxistische Dialektik (oben beispielsweise die „widersprüchliche“ Janusgesichtigkeit des Kapitals als Welterlöser, der gleichzeitig der denkbar schlimmste Teufel ist) ist nichts anderes als Ausdruck der ständigen Auseinandersetzung mit Stirner. Ähnliches läßt sich über Nietzsche sagen – womit wir die gesamte Geistesgeschichte der letzen 150 Jahre entschlüsselt haben! „Wir“? LASKA!

Nachbemerkung: „Der Einzige und sein Eigentum“ und sozusagen „das Kapital und sein Eigentum“? Was ist denn das für eine bizarre Gleichsetzung? Hallo! „Der Einzige und sein Eigentum“! Im übrigen findet sich, einer Notiz Laskas zufolge, ähnliches bei Carl Schmitt: „der Staat“ tritt an die Stelle von Stirners „Einzigem“.

Stirners „Gespinste“ tauchen im Kapital auf, wo Marx den „Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis“ wie folgt lüftet: in der „Nebelregion der religiösen Welt (…) scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eigenem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten (zu sein). So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist“ (MEW 23, S. 86f).