Natürlich gab es immer dicke Menschen, aber sie waren eine Minderheit, etwas Besonderes. Man vergleiche etwa Fotos von Menschen am Strand in den 1970er Jahren mit ähnlichen Fotos im neuen Jahrtausend. Warum sind wir in die Breite gegangen? Weil die gesellschaftliche und die individuelle Panzerung zusammengebrochen ist!
Alleine zu essen, ist wie Onanie, ein trauriger in jeder Hinsicht unbefriedigender Ersatz. Der Mensch ist darauf eingerichtet in Gemeinschaft zu essen. Mahlzeiten werden zusammen mit anderen eingenommen und entsprechend unterliegt die Kalorieneinnahme einer sozialen Kontrolle. Deshalb sind auch sowohl Mager- als auch Fettsucht letztendlich soziale Biopathien, die es als Massenphänomen erst seit dem Zusammenbruch der (autoritären) Gesellschaft, also erst seit etwa 1960 gibt.
Ein sich immer weiter ausbreitendes Phänomen, das mit dem Gesagten nur teilweise im Wiederspruch steht, ist die komplette Unfähigkeit des modernen Menschen allein zu sein ohne vollkommen auszuticken. Der komplette Zusammenbruch der autoritären Gesellschaft und ihre Ersetzung durch die antiautoritäre Gesellschaft ging nämlich einher mit dem Zusammenbruch der individuellen Muskelpanzerung. Sind die Menschen auf sich selbst zurückgeworfen, werden sie von Ängsten überflutet, für die keine ausreichende Muskelpanzerung mehr vorhanden ist, die diese Ängste binden könnte, und die Menschen flüchten in den Ersatzkontakt. Den meisten bietet sich das Naschen an, denn das Völlegefühl unterdrückt die vegetativen „angstproduzierenden“ Ganglien direkt und der Zucker führt indirekt zusätzlich zu einer angstlösenden bioenergetischen Expansion. Die gleiche Ausweitung zur oberflächlichen sozialen Fassade hin, die normalerweise durch zwischenmenschliche Interaktion bioenergetisch aktiviert wird.
Zunächst ist Fettleibigkeit also ein Versuch, sich bioenergetisch (und buchstäblich) mit all dem Fett und Zucker auszudehnen – aber sie führt letztendlich zu bioenergetischer Schrumpfung (und buchstäblicher Schrumpfung) durch Diabetes, der eine Schrumpfungsbiopathie ist. Es erinnert mich an einen bipolaren Zyklus (der ebenfalls auf einer unbefriedigten oralen Blockade beruht): Zuerst kommt die hypomanische Episode und ihre Pseudo-Expansion, gefolgt von einer schwarzen Melancholie, die schrumpft. Als ob die Hypomanie/der Fressanfall eine Rebellion gegen eine grundlegende bioenergetische Schrumpfungstendenz wäre.
Ebenfalls ein Faktor, vor allem in Amerika: die Fettleibigkeit wurde erst zu einem echten Massenphänomen, nachdem der Markt von diesen furchtbar ekelhaften „fettreduzierten“ und „zuckerfreien“ Produkten beherrscht wurde, die den Menschen zu Eßanfällen treiben, weil der Organismus immer wieder nachfragt: „Wo bleibt das Fett und der Zucker?!“ Das Essen ist unbefriedigend geworden, irgendwie antisexuell, kein gutes Gefühl im Bauch nach dem Essen. Ein weiteres Versagen der sozialistischen Intervention!
Die sekundäre Schicht war in der autoritären Gesellschaft gut abgeschirmt (sequestriert), aber diese Abschirmung brach nach 1960 zunehmend weg und wird heute mehr und mehr als „innere Leere und Öde“ erlebt (vgl. Die Funktion des Orgasmus, Fischer TB, S. 175). Theodore Wolfe übersetzte das als „a gaping inner emptiness“ – eine klaffende Leere, die gefüllt werden muß, was die eigentliche Ursache der Fettleibigkeit ist.
Für mich ist sowohl Adipositas als auch Anorexie eine Möglichkeit, sowohl von den eigenen Gefühlen (die orgonotische Erregung geht zurück) als auch von den Menschen (man wird nicht mehr gesehen) „wegzukommen“. In der Magersucht wird man zu einem bloßen Skelett ohne individuelle Züge und auch in der Adipositas werden die scharfen individuellen Züge verwischt und die Menschen verschwinden als Individuen. Die Emotionelle Pest kann das Individuum letztlich nicht ertragen. Es ist der Christusmord.















