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The Journal of Orgonomy (Vol. 27, No. 2, Fall/Winter 1993)

27. Juli 2012

In der Schulmedizin spielt die Definition von „Gesundheit“ in nur einer Beziehung eine Rolle, nämlich für die Einschränkung der ärztlichen Tätigkeit. Ethisch darf der Arzt nur dann eingreifen, wenn eine Krankheit vorliegt. Beispielsweise ist es geboten, künstliche Befruchtung nur vor der Menopause zur Anwendung zu bringen.

In der Psychotherapie kommt dieses Prinzip im „Neutralitätsgebot“ zum Ausdruck. Der Therapeut soll weder bei den inneren neurotischen Konflikten des Patienten, noch bei dessen neurotischen Verstrickungen in Beziehung, Familie und Freundeskreis Partei ergreifen.

Zunächst einmal ist offensichtlich, daß das ein entscheidendes Unterscheidungskriterium zwischen einem Gespräch mit einem Freund und einem Gespräch mit einem Psychotherapeuten ist. Das erstere verstrickt uns eher weiter in unsere neurotische Welt, während das letztere für eine gewisse Distanz sorgt, so daß wir unser Leben neu ordnen können.

Damit der Psychotherapeut aber wirklich helfen kann, bedarf es, wie Peter A. Crist in „The Biosocial Basis of Family and Couples Therapy“ (S. 166-189) ausführt, zusätzlich der aktiven Unterstützung der gesunden Anteile. Die offizielle Psychotherapie, so wie sie an Universitätskliniken gelehrt wird, mag darin zwar einen groben Behandlungsfehler sehen, doch diese Einschätzung beruht darauf, daß es keine klaren Kriterien für Gesundheit und rationales Verhalten gibt.

Ein Orgontherapeut wird sich niemals entblöden, sich in die neurotische Welt des Patienten verwickeln zu lassen, aber er wird stets Partei für gesunde und rationale Strebungen ergreifen und beispielsweise auch die Partei des Patienten ergreifen, sollte der Opfer pestilenter Attacken werden.

Das so wichtige, notwendige und, richtig verstanden, vollkommen rationale Neutralitätsgebot wird zu einer Absurdität, wenn es genau das verstärkt, worunter der Patient zentral leidet: Kontaktlosigkeit, die eigene und die der Mitmenschen.

In diesem Fall entspricht das Neutralitätsgebot jener verlogenen „toleranten“ Haltung gegenüber der Sexualität, die Reich zeitlebens bekämpft hat. Es gelte sie bei Kindern und Jugendlichen nicht nur „liberal“ zu tolerieren, sondern sie vielmehr zu schützen und zu fördern. In einer gepanzerten Gesellschaft nur „Toleranz“ zu zeigen, ist gleichbedeutend mit Mittäterschaft.