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Reflektionen über Max Stirner von konservativer Warte (Teil 121)

1. April 2024

[Diese Reihe soll zur Auseinandersetzung mit Bernd A. Laskas LSR-Projekt animieren.]

Ein Aspekt des Reichschen Werkes, das kaum ausgebaut ist, ist der Rote Faden, das „Profil“: die angeborene Natur des Menschen, auf der sich der Charakter aufbaut und die deshalb der Therapeut immer im Augen haben muß. Ich verweise etwa auf den Photoband von Walter Schels: Neugeboren-Altgeboren – Das offene Geheimnis, der 1995 im Mosaik Verlag erschienen ist. Wenn man sich so Babyphotos von C.F. v. Weizsäcker, Henri Nannen oder Heinz Rühmann anguckt: vor dem Panzerungsprozeß hatten sie exakt den gleichen Gesichts- und Augenausdruck wie knapp vor ihrem Tod! Der Photograph Schels gibt dafür jede Menge Beispiele.

Reich:

Wir leugnen nicht, daß Reaktionsweisen hereditär angelegt sind. Hat doch schon das Neugeborene seinen „Charakter“. Aber wir meinen, daß den ausschlaggebenden Einfluß das Milieu hat. Es bestimmt darüber, ob eine vorhandene Anlage entwickelt, verstärkt oder gar nicht zur Entfaltung zugelassen wird. (Charakteranalyse, KiWi, S. 213).

Jeder Neugeborene hat seine Eigenart, seinen emotionellen Grundton, den zu erfassen Voraussetzung des Verständnisses der einzelnen emotionellen Reaktionen ist. Der hier beschriebene Säugling kennzeichnete sich durch „ernstes Schauen“. Der „Schauausdruck“ [d.h. Peter Reichs Roter Faden] war wenige Minuten nach der Geburt vollentwickelt. (Der Krebs, Fischer TB, S. 386)

Arbeitsdemokratie, Dreischichtenmodell, Orgonbiophysik: das „Wahre und Gesunde“ ist in jedem Moment da und „funktioniert“. Genauso die Eigenheit: am Anfang sind Kern und Fassade identisch, dann schiebt sich die Mittlere Schicht, d.h. der Charakter, dazwischen, aber selbst dann bleibt die Fassade vom Roten Faden der Eigenheit durchwoben. Am Ende des Lebens, wenn die Charakterwiderstände mangels Energie und Masse zusammenbrechen, scheint sie wieder klar durch. Wobei zu sagen ist, daß die Charakterwiderstände ebenfalls vom Roten Faden geprägt sind, einfach weil wir gegen die abzuwehrenden Impulse das aufbringen, worin wir gut und geübt sind. Beispielsweise wird ein von Natur aus eher aggressiver Mensch in der Neurose zu einem aufbrausenden Tyrannen.

Reich hat in einem Vortrag über den Roten Faden nur die Orgonomen Duvall („ein Feigling“) und Baker („Sie sollten sich einen Bart und lange Haare wachsen lassen, denn Sie sind ‚Jesus‘.“) beschrieben. Nicht gerade schmeichelhaft! Die Roten Fäden der anderen Orgontherapeuten und Mitarbeiter, könne man öffentlich schon überhaupt nicht preisgeben („My Eleven Years with Wilhlem Reich“, The Journal of Orgonomy, May 1981, S. 35).

Der körperliche Gesamtausdruck (des Patienten) ist gewöhnlich in eine Formel zu fassen, die sich früher oder später im Verlauf der charakteranalytischen Behandlung wie von selbst ergibt. Es sind merkwürdigerweise meist Formeln und Bezeichnungen aus dem Tierreiche wie „Fuchs“, „Schwein“, „Schlange“, „Wurm“ u.ä.“ (Die Funktion des Orgasmus, Fischer TB, S. 228)

Ich glaube, es ist extrem wichtig, daß der Therapeut diese „Eigenheit“ kennt und akzeptiert. Versucht er sie nämlich aufzulösen, weil er keine Ahnung von der charakterlichen Dynamik hat, zerstört er den Patienten: Seelenmord. Es geht ans Eigene, ans Eingemachte. Es ist unausdenkbar, was „Reichianische“ und „spirituelle“ „Therapeuten“ anrichten können, die den (vermeintlich sekundären) „Charakter“ „zersprengen“ wollen – und sich wundern, warum es dem Patienten immer schlechter geht. Wenn man den Patienten nicht ausstehen kann, nicht akzeptieren und „lieben“ kann, nimmt man die Therapie halt nicht auf.

Baker schreibt in Der Mensch in der Falle im Zusammenhang mit dem Dreischichtenmodell:

Die soziale Fassade enthält einen grundlegende Charakterzug (manchmal mehrere), mit dessen Hilfe der Betreffende der Umwelt begegnet. Dieser Charakterzug bleibt während der ganzen Therapie bestehen und veranlaßt den Patienten, konsequent in gleicher Weise auf jedes Problem zu reagieren, das ihm begegnet. Er wird zur hauptsächlichen Charakterabwehr. Reich nennt diesen Zug den roten Faden, und man muß ihn erkennen, damit man den Betreffenden verstehen und beurteilen kann. Der grundlegende Charakterzug löst sich niemals auf, er bleibt immer ein integrierender Bestandteil der Persönlichkeit, obwohl er abgewandelt werden kann. Er kann sozial annehmbar sein – Freundlichkeit, Bescheidenheit, Zurückhaltung, Schüchternheit, Korrektheit, Rechtschaffenheit oder sozial unannehmbar – Unehrlichkeit, Verschlagenheit oder Betrügerei. (S. 112)

Während die genaue Diagnose die primäre Blockade in der Charakterstruktur des Patienten aufzeigt, verrät der Rote Faden, wie die Person mit dieser speziellen Diagnose funktioniert. (Charles Konia: Orgone Therapy: Part 15: The Relationship Between the Diagnosis and the Red Thread. The Journal of Orgonomy 28(2), Fall/Winter 1994, S. 146-151)

Der Rote Faden kann oft als eine bestimmte Charaktereigenschaft beschrieben werden, wie z.B. Freundlichkeit, Offenheit, Bescheidenheit, Ernsthaftigkeit, Zurückhaltung, Aufdringlichkeit, Boshaftigkeit, usw. Manchmal läßt er sich auch genauer als eine bestimmte Art von Person oder Beruf beschreiben. Einige Beispiele aus der klinischen Praxis sind „Priester“, „Rabbi“, „Gestapo-Agent“ usw. Alternativ kann es auch am besten als eine bestimmte Persönlichkeit beschrieben werden, z.B. als „Samson“, „Shirley Temple“, „Alice im Wunderland“, „Hitler“ usw. Eine weitere nützliche Kategorie ist eine bestimmte Tierart, wie z.B. „Schildkröte“, „Bulldogge“, „Maus“, usw. Es spielt keine Rolle, wie der rote Faden beschrieben wird, solange er sowohl genau als auch spezifisch für den Patienten ist. (ebd.)

Man kann mir beide Beine brechen, das Rückgrat anknacksen und mir mittels Nervengas eine spastische Schüttellähmung verpassen (= „Charakter“) und man kann Herrn Schmidt und Herrn Müller auf exakt die gleiche Weise „charakterlich“ formen – wie wir drei damit jeweils umgehen, d.h. konkret wie wir humpeln, wird vollkommen unterschiedlich und „eigentümlich“ sein (= „Roter Faden“). Und wer uns in einer Rehaklinik heilen will, muß nicht nur den uns gemeinsamen erworbenen Charakter verstehen, sondern auch die vollkommen unterschiedlichen angeborenen und unauslöschlichen Roten Fäden. Das sind die beiden Grundpfeiler der ärztlichen Heilkunst.

Ist der Kern des Menschen, seine Natur „weiß und rein und gut“ – in dem Sinne, daß sie rein gar nichts mit der bunten Welt der Neurose verbindet? Oder ist alles Neurotische (vom Flirten, um das Gegenüber zu frustrieren, bis zum kannibalistischen Sexualmord) nichts anderes als eine bloße Übertreibung des Gesunden? Offensichtlich (da das Gesunde das Primäre ist)! Bedeutet das, daß wir eine „Schweinenatur“ haben? Nein, nur daß alle möglichen Anlagen zu allem Möglichen in uns stecken.

Warum wenden sich „Orgonomen“ von der Orgonomie ab?

29. April 2018

Ich muß immer wieder den Kopf schütteln, wenn ich an Leute zurückdenke, die mir einst geradezu inquisitorische Fragen über meine „orgonomische“ Rechtgläubigkeit und Ernsthaftigkeit stellten – und die sich mittlerweile in Luft aufgelöst haben, teilweise sogar zu Gegnern der Orgonomie geworden sind. Seit Reichs Zeiten gibt es immer wieder sogar Orgonomen, die quasi „in Amt und Würden“ standen und öffentlich gegen die Verzerrung der Orgonomie auftraten – und die dann später einfach verschwanden, teilweise sogar zu Gegnern der Orgonomie geworden sind. Wie ist das zu erklären?

Die Antwort findet sich bei Reich:

Es ist immer die Unfähigkeit des gepanzerten Organismus, seine Liebesregungen zu entwickeln, in Enthusiasmus zu geraten, sich dauernd einer Sache hinzugeben. Die ihn destruktiv werden läßt. (Äther, Gott und Teufel, S. 74, Hervorhebung hinzugefügt)

Da der gepanzerte Organismus „nie voll auszuschwingen vermag, ist seine Liebe eine kleine, abgemessene, säuberlich verteilte und zugeteilte Liebe“. Er ist, wie Reich weiter schreibt, stets beherrscht, zieht die Umstände in Betracht, handelt wohlabgewogen und überlegt. „Ein solcher Organismus haßt die geordnete, aber unendlich variable Freiheit der Naturvorgänge oder er fürchtet sie“ (ebd., S. 67f).

Imgrunde war diesen lauwarmen Gesellen die Orgonomie schon immer fremd. Das dumme ist, daß man im realen Leben ihr Verhalten immer erst im nachhinein durchschaut und daß sie sich nur durch einen einzigen Faktor zu erkennen geben: in der Dauer ihres Enthusiasmus. Hält der nicht unvermindert bis zur Todesstunde an, war es gar kein „Enthusiasmus“ für die Wissenschaft von der Lebensenergie, d.h. kein einheitlicher und umfassender Ausdruck ihres biologischen Kerns, sondern nur ein isolierter Vorstoß ihrer Lebensenergie durch eine Lücke in der Panzerung, ein folgenloses Strohfeuer.