Man überliest leicht, wie tief und wie weltumstürzend das war, was Reich geschrieben hat. Nehmen wir etwa folgende Aussage, die unserer gesamten bürgerlichen Gesellschaft den Boden unter den Füßen wegzieht:
Wenn homo normalis wirklich so normal ist. wie er behauptet; wenn er wirklich meint, daß Selbstverwirklichung und Wahrhaftigkeit die höchsten Werte individuellen und sozialen Lebens sind, dann sollte er doch (…) fähig und willens sein (…), sich vor sich selbst und vor seinem Therapeuten zu öffnen. Irgendetwas in der Struktur des homo normalis muß grundsätzlich nicht stimmen, wenn man die Wahrheit so schwer aus ihm herausbekommt. Würde man wie die angepaßten Psychoanalytiker erklären, daß das ganz in Ordnung sei, weil es ihm sonst unmöglich wäre, dem Ansturm all seiner Emotionen standzuhalten, so wäre dies gleichbedeutend mit völliger Resignation in Hinsicht auf die Verbesserung des menschlichen Schicksals. Man kann nicht die Verbesserung der Lebensbedingungen auf ein tieferes Wissen von der Seele des Menschen gründen und zugleich dessen Weigerung verteidigen, sich zu öffnen. Entweder – oder! Entweder wir vergrößern weiterhin unser Wissen vom Menschen und müssen dann auch die grundsätzlich ausweichende Haltung des homo normalis ablehnen, oder wir verteidigen diese Haltung und müssen den Anspruch aufgeben, die Seele des Menschen verstehen zu wollen. Es gibt keine andere Alternative. (Charakteranalyse, KiWi, S. 523)
All das Gerede über „Demokratie“ und „Aufklärung“ sind Makulatur, da wir nicht nur in der Lüge leben, sondern selbst eine Lüge sind; wir haben nicht nur Abwehrmechanismen, wir sind Abwehrmechanismen, d.h. bestehen nur aus Widerstand, unser Charakter selbst ist der Widerstand. Man spricht gemeinhin von „Charaktermaske“: uns selbst und anderen spielen wir nur etwas vor, schwatzen aber von Selbstverwirklichung und Wahrhaftigkeit, Demokratie und Freiheit! In jeder Orgontherapie-Sitzung bricht dieses ganze Lügengebäude zusammen, das alle, d.h. sowohl die Vertreter dieser Gesellschaft als auch ihre Kritiker, aufrechterhalten. Sollte die „Revolution“ erfolgreich sein, wird nur das Bühnenbild umgebaut, aber das Schauspiel, die Tragikomödie, die die Schauspieler (Charaktermasken-Träger) mit großem Pomp und Getue aufführen, wird fortgeführt.
Das bedeutet ganz und gar nicht, daß man in Resignation verfallen sollte, was eine gesellschaftliche Veränderung betrifft, wie es die „angepaßten Psychoanalytiker“ getan haben, von wegen „Todestrieb“ und sich in die allgegenwärtige Misere stoisch einpassen. Der Weg zu einer wahren Demokratie, der Arbeitsdemokratie, und zu einer wirklichen Aufklärung, d.h. Einsicht in die Funktionszusammenhänge („Orgonometrie“), kann nur freigemacht werden, wenn die „grundsätzlich ausweichende Haltung des homo normalis“ angegangen wird, das universelle Ausweichen vor dem Wesentlichen, der Zement der gepanzerten Gesellschaft.