Verbrecher von Geburt! Es existiert nichts über dem „leibhaftigen Menschen“, nicht „Menschlichkeit“, nicht „Freiheit“ oder irgendeine andere dieser „heiligen“ Ideen (Der Einzige, S. 400). Aus dem Leibhaftigen gehen alle Gedankengebilde hervor, z.B. die Religion. Sie ist ein Produkt des künstlerischen Schaffens. Der Künstler schafft ein Ideal des Menschen, das dann angebetet wird. Der Religiöse gerät in den Bann dieses Ideals – und richtet sich gegen, beschneidet die schöpferische Quelle, die das Ideal hervorgebracht hat. Der Künstler wiederum erhält zwar die Religion aufrecht, haucht ihr ständig neues Leben ein, aber er kann sie auch jederzeit sozusagen „wieder in sich zurückholen“, etwa indem er das Ideal in der Komödie der Lächerlichkeit preisgibt (Parerga, S. 99-110).
Ich, der Einzelne, der Endliche, der Einzige (Der Einzige, S. 271), der Wirkliche und Leibhaftige löse die substanzlosen allgemeinen Begriffe, den „Geist“ auf (Der Einzige, S. 189). Das „leibhaftige Ich“ (Der Einzige, S. 190), das „lebendige Ich“ pustet die toten Gespenster, d.h. ganze „Völker“ weg (Der Einzige, S. 184). Und da es nur gegen ein Heiliges „Verbrechen“ gibt (Der Einzige, S. 224), bin ich der geborene Verbrecher, d.h. das „zügellose Ich“, und in meinem „geheimen Inneren“ bleibe ich es stets (Der Einzige, S. 219). Ein „eigenes“, d.h. nicht von Wahnvorstellungen okkupiertes Ich, kann nicht davon ablassen, ein Verbrecher zu sein, denn das Verbrechen ist sein Leben (Der Einzige, S. 222). Er gehört zu den Menschen, „in denen die Totalität ihres Denkens und Handelns in steter Bewegung und Verjüngung wogt“, im Gegensatz zu jenen, „die ihren Überzeugungen treu sind: die Überzeugungen selbst bleiben unerschüttert, pulsieren nicht als stets erneuertes Arterienblut durch das Herz, erstarren gleichsam als feste Körper“ (Parerga, S. 92). Allein schon um einschlafen zu können, muß er alles aus dem Sinn schlagen können, d.h. ein egoistischer Verbrecher wider die Ideen sein (Der Einzige, S. 375). Ein „Verbrechertum“, bei dem es darum geht, sich zu „ergeben“: sich selbst zu ergeben und einer Welt zu ergeben, die zu unserem Eigentum geworden ist (Der Einzige, S. 341f).
Man wird nicht dadurch zum Egoisten, indem man ängstlich an sich hält, sondern durch Hingabe. „Wer nur besorgt ist, daß er lebe, vergißt über diese Ängstlichkeit leicht den Genuß des Lebens. Ist’s ihm nur ums Leben zu tun und denkt er, wenn Ich nur das liebe Leben habe, so verwendet er nicht seine volle Kraft darauf, das Leben zu nutzen, d.h. zu genießen. Wie aber nutzt man das Leben? Indem man’s verbraucht, gleich dem Lichte, das man nutzt, indem man’s verbrennt. Man nutzt das Leben und mithin sich, den Lebendigen, indem man es und sich verzehrt. Lebensgenuß ist Verbrauch des Lebens“ (Der Einzige, S. 358f). „Ich habe gegen Andere keine Pflicht, wie Ich auch nur so lange gegen Mich eine Pflicht habe (z.B. die der Selbsterhaltung, also nicht Selbstmord), als Ich Mich von Mir unterscheide (meine unsterbliche Seele von meinem Erdendasein usw.)“ (Der Einzige, S. 357).
Die Welt zu „vernichten“ ist unlösbar damit verbunden sich selbst zu vernichten, d.h. aufzulösen (Der Einzige, S. 330). Was soll das bedeuten? Da die Welt nicht mehr fremdes Eigentum, nämlich das Eigentum der Religion oder des Staates ist, sondern unser Eigentum sein soll, verbrauchen wir sie entsprechend. Wir versuchen die Gewalt, die sie gegen uns wendet, „dadurch zu vollenden und überflüssig zu machen, daß Wir ihr entgegenkommen, und Uns ihr, sobald sie Uns gehört, gleich Uns ‚ergeben‘“ (Der Einzige, S. 341f). Die ehrfurchtsvolle Distanz ist weg – denn der Verbrecher hat dafür keinen Sinn.
Der Einzige ist dabei nur in bezug auf die fixen Ideen a- wenn nicht sogar unmoralisch – aus Moral. Eine Moral, die im Sinne Nietzsches aristokratisch ist: „Ich fordere kein Recht, darum brauche Ich auch keins anzuerkennen“ (Der Einzige, S. 230). Stirner sagt nicht (wie die Satanisten es tun und die allgemeine Gesellschaft, die in pestilenter Projektion die Stirnerianer zu Satanisten stempeln will, es tut): „Ich fordere mein Recht und erkenne kein anderes an.“
Man mag einwenden, daß sich Stirner gegen jede Naturrechts-Argumente verwahrt hat (Der Einzige, S. 216f), aber natürlich ist auch der Eigner seiner selbst nur ein Menschentier mit ganz normalen Ehr- und Moralempfindungen („gesundes Volksempfinden“). Sie sind sogar eher stärker ausgeprägt als bei anderen: „Redet mit dem sogenannten Verbrecher als mit einem Egoisten, und er wird sich schämen, nicht, daß er gegen eure Gesetze und Güter sich verging, sondern daß er eure Gesetze des Umgehens, eure Güter des Verlangens wert hielt; wird sich schämen, daß er Euch mitsamt dem Eurigen nicht – verachtete, daß er zu wenig Egoist war“ (Der Einzige, S. 222).
„Was ist der gewöhnliche Verbrecher anders, als einer, der das verhängnisvolle Versehen begangen hat, nach dem zu streben, was des Volkes ist, statt nach dem Seinen zu suchen. Er hat das verächtliche, fremde Gut gesucht, hat getan, was die Gläubigen tun: die nach dem trachten, was Gottes ist“ (Der Einzige, S. 221f). Wenn der Kriminelle wirklich Egoist wäre, würde er sich schämen, sich über den Grad seiner Gesetzestreue zu definieren, d.h. das Gesetz zum Maßstab seines Treibens zu machen; sich gegen die bestehenden Gesetze nur aufzulehnen, statt gegen das Gesetz an sich zu sein (Der Einzige, S. 120f).
















