Posts Tagged ‘Edmund Burke’

Reflektionen über Max Stirner von konservativer Warte (Teil 84)

20. Oktober 2023

[Diese Reihe soll zur Auseinandersetzung mit Bernd A. Laskas LSR-Projekt animieren.]

Daß Burkes Ansichten über die Natur des Menschen sich kaum mit denen Reichs vereinbaren lassen dürften, ist mir durchaus bewußt. Es stört mich auch, daß Robert Harman das in seinem Aufsatz über Burke gar nicht zur Sprache bringt (Edmund Burke and the French Revolution. The Journal of Orgonomy 30(1), Spring/Summer 1996, S. 20-32). Das scheint symptomatisch zu sein, wenn ich etwa an John Bells orgonomische Analyse von Shakespeares Der Sturm denke (Shakespeare’s THE TEMPEST: Cosmic Dimensions, Comedic Transformations. The Journal of Orgonomy 16(2), November 1982, pp. 244-259). Diese ist zwar stimmig und sicherlich richtig, aber Shakespeares Ansichten über die Natur des Menschen… – der verworfene „Caliban“ ist eben nicht der „gepanzerte Mensch“, sondern Shakespeares Vorstellung des Menschen im Naturzustand – der „Kannibale“, der unter zivilisatorische Kontrolle gebracht werden muß. Konkret waren die nordamerikanischen Indianer gemeint (was ganz praktische Folgen hatte…). Genau dasselbe, sogar explizit in Bezug auf die Indianer, findet sich in Burkes Betrachtungen.

Und trotzdem bleibt da bei Shakespeare und Burke ein unaufgelöster Rest: beide berufen sich dann doch ständig und zentral auf die menschliche Natur – auf die imgrunde rationale menschliche Natur, auf das „Gute und Naturwüchsige“. Das ist ein klarer Widerspruch. Man kann ihn übersehen – und hat einen „Reichianisch“ verkürzten Shakespeare und Burke vor sich. Aber immerhin: es ist bemerkenswert, daß diese „Verkürzung“ überhaupt möglich ist.

Was die heutige „Ideologiefeindschaft“ betrifft: mich erinnert der hemdsärmelige Pragmatismus manchmal fatal an ideologiegesteuertes Verhalten. Man hatte das Ziel (etwa die „klassenlose Gesellschaft“) fest im Auge, da man aber keine Beziehung zur Realität besaß, hat man willkürlich und „pragmatisch“ drauflos agiert. Das gemahnt doch fatal an vieles, was heute so abgeht: „Energiewende“, Gentechnik, Euro, etc. Man springt (aus „ideologischen“ Gründen) „pragmatisch“ ins Wasser, ohne zu wissen, wie tief das Wasser ist und ob man mit Bleischuhen und festgebundenen Armen überhaupt schwimmen kann.

Burke hat zum Thema folgendes zu sagen:

Sie sehen, mein Freund, daß ich dreist genug bin, um in diesem erleuchteten Jahrhundert frei zu gestehen, daß wir im ganzen eine Nation von naturwüchsigen Gefühlen sind, daß wir, statt alle Vorurteile wegzuwerfen, sie vielmehr mit Zärtlichkeit lieben und, was noch strafbarer sein mag, daß wir sie eben darum lieben, weil sie Vorurteile sind, und nur um so wärmer lieben, je länger sie geherrscht und je allgemeiner sie sich verbreitet haben. (…) Viele unserer denkenden Köpfe, weit entfernt, im ewigen Kriege mit den Vorurteilen zu leben, wenden ihren ganzen Scharfsinn an, um die verborgene Weisheit, die darin liegen mag, zu erforschen. Wenn sie entdecken, was sie suchten (…), dann finden sie es klüger, das Vorurteil beizubehalten mit der Weisheit, der es zur Hülle dient, als das Gewand wegzuwerfen und die nackte Weisheit stehen zu lassen, weil ein Vorurteil, das ein Prinzip der Weisheit enthält, zugleich eine Kraft, um dies Prinzip zu beleben, und ein Gefühl der Zuneigung, um ihm Dauer zu verschaffen, bei sich führt. (Betrachtungen, Suhrkamp 1967, S. 146f)

DMF (Diderot, Marx, Freud) waren Radikalinskis der „nackten Wahrheit“, die für die Burkes nur Verachtung übrig hatten. Siehe Marx‘ Ausfälle gegen Burke in Das Kapital und Freuds Ausfälle gegen das ozeanische Gefühl.

Reflektionen über Max Stirner von konservativer Warte (Teil 83)

3. Oktober 2023

[Diese Reihe soll zur Auseinandersetzung mit Bernd A. Laskas LSR-Projekt animieren.]

Ausgerechnet Edmund Burke hat, Murray Rothbard zufolge, „vielleicht als erster den modernen rationalistischen und individualistischen Anarchismus zum Ausdruck gebracht“, seine anonyme „Jugendsünde“ A Vindication of Natural Society, 1756. Das galt gemeinhin als eine „eindeutige“ Satire, doch es blieb immer ein Rest von Unsicherheit und Doppelbödigkeit, der jeden Interpreten verunsichert hat. Burke erinnert mich etwas an Nietzsche, aber ich kann mir nicht recht vorstellen, daß Burke LaMettrie kannte, bzw. dessen Bedeutung erkannt hat.

Bezieht sich Burke im folgenden (u.a.) auf LaMettrie?

Da der Kontroversgeist sehr leicht auf gewaltsame Mittel denkt, so fingen sie an, sich zu einer Korrespondenz mit fremden Fürsten zu drängen in der Hoffnung, daß sie durch das Ansehen derselben, welchem sie damals auf alle Weise schmeichelten, die Änderungen, mit denen sie umgingen, zustande bringen würden. Es war ihnen völlig gleichgültig, ob diese Änderungen durch den Donnerkeil des Despotismus oder durch das Erdbeben eines Volksaufruhrs bewirkt wurden. Der Briefwechsel dieser Sekte mit dem verstorbenen König von Preußen wirft kein geringes Licht auf den eigentlichen Geist aller ihrer Unternehmungen. (Ich möchte die Gefühle des moralisch empfindenden Lesers mit keinem Zitat aus ihrer niedrigen und vulgären Sprache sowie ihren Flüchen schockieren.) (Betrachtungen, Suhrkamp 1967, S. 182).

Im Zusammenhang diskutiert Burke „das Bündnis der Gelehrten in Frankreich mit den Geldbesitzern“, also wird er kaum auf LaMettrie anspielen. Erinnert irgendwie an den Reich der 1950er Jahre: „Wall Street und Moskau“. Das wird sich wohl auf Voltaire beziehen, dessen Briefwechsel mit Friedrich II damals schon veröffentlicht wurde.

Burke, dergestalt vorher eher als „Linker“ und „klassischer Aufklärer“ bekannt, benutzte den Begriff „Vorurteil“, um seine vorgeblichen „Mitaufklärer“ zu schocken. Um was es ihn dabei wirklich ging, war eine Art „Aufklärung über die Aufklärung“: der Mensch lebt nicht im Kopf allein, man darf die irrationale Seite des Menschen nicht vergessen. Alles ganz entsprechend zu Reichs Kritik am „Vulgärmarxismus“.

Im übrigen ist mir durchaus klar, daß Burke wenig mit Reich verbindet. BSA (siehe Teil 82) und LSR nicht nur in vielem „funktionell identisch“ sind, sondern gleichzeitig auch antagonistische Gegensätze. Man nehme etwa Burkes „anti-Stirnerschen“ Ausfälle in seinen Betrachtungen:

Einer der ersten Beweggründe, eine bürgerliche Gesellschaft zu errichten, und eine der ersten Fundamentalregeln einer solchen Gesellschaft ist, daß niemand Richter in seiner eigenen Sache sein soll. Vermöge dieses Grundgesetzes entsagt jeder einzelne unmittelbar dem ersten Fundamentalrecht des unverbündeten Menschen, für sich selbst zu entscheiden und seine Sache nach eigner Willkür durchzufechten. Er entsagt allen Ansprüchen auf die natürliche, unbeschränkte Souveränität über seine Handlungen. Er gibt sogar, wenn auch nicht gänzlich, doch im großen Maße, das Recht der Selbstverteidigung, das älteste Gesetz der Natur, auf. Der Mensch kann nicht die Rechte eines ungesellschaftlichen und eines gesellschaftlichen Zustandes zu gleicher Zeit genießen. Damit nur Rechte überhaupt gelte, tut er Verzicht auf seine Befugnis zu bestimmen, was gerade in den Punkten, die für ihn die allerwesentlichsten sind, Recht ist. Damit er nur über einen Teil seiner Freiheit wahrhaft disponieren könne, legt er die ganze Masse derselben in den gemeinschaftlichen Schatz der Gesellschaft. (ebd., S. 106f)

Nun gut, daß ist gerade noch tolerabel und entspricht sogar fast wörtlich vielem, was im Journal of Orgonomy zu soziologischen Fragen zu lesen ist, es entspricht vielleicht auch dem, was Laska als „rationales Über-Ich“ bezeichnet hat… Aber es geht weiter und Burkes pessimistische Anthropologie kommt zum Vorschein, die nun wirklich mit LSR unvereinbar ist: „… Der Mensch hat ein Recht zu verlangen, daß seinen Bedürfnissen durch menschliche Weisheit abgeholfen werde. Unter diesen Bedürfnissen ist eins der dringensten, daß es für menschliche Leidenschaften, die im außergesellschaftlichen Zustande schrankenlos wüten, einen Zügel gebe“ (ebd. S. 108).

Warum ich trotzdem für BSA eintrete? Man nehme einen Mann wie den Schriftsteller Walter Kempowski (1929-2007), der als typischer „BSAler“ sich in seiner publizistischen Tätigkeit nicht für hehre Geschichtstheorien interessierte, sondern für die unendlich kostbaren Alltagserfahrungen des Mannes von der Straße. Kempowski, der als ehemaliger Lehrer aus seinem Kontakt mit dem Leben heraus gegen die ach so grandiose Bildungsreform mit ihren Lernfabriken anging – die uns nach 50 Jahren eine Generation von Vollidioten beschert! Es ist die BSA-Empörung gegen die (pseudo-) intellektuelle Schweinerei, gegen die weltfremde Infamie, gegen die hochnäsige Dummheit. Ich hätte beinahe geschrieben: „der heilige Zorn des Lebendigen“. Tatsächlich heißt ein bekanntes Buch über Burke The Rage of Edmund Burke. Es ist der Haß auf jene, die weder dieses Land lieben, noch seine Menschen und schon gar nicht die Kinder, sondern nur stur und unmenschlich ihre verqueren abstrakten Ideen von „Chancengleichheit“, „Emanzipation“, „Gender“, etc. nachgehen.

Mir geht es darum, wie man um Himmels willen LSR „legitimieren“ kann, d.h. heimisch machen kann in einer Anti-LSR-Welt. – Will ich praktisch werden? Mir geht es bei meiner Beschäftigung mit BSA um die theoretische Möglichkeit einer praktischen Durchsetzung von LSR.

Reflektionen über Max Stirner von konservativer Warte (Teil 82)

28. September 2023

[Diese Reihe soll zur Auseinandersetzung mit Bernd A. Laskas LSR-Projekt animieren.]

Max Stirner von konservativer Warte? Nehmen wir Edmund Burkes klassische Betrachtungen über die Französische Revolution, die eine brillante Verteidigung der Institution der Erbmonarchie und anderer „Vorurteile“ darstellen. Burke positioniert hier die Legitimität der Vorurteile gegen die „rationalen“ Kopfgeburten der französischen Aufklärer. Damit inspirierte er den Freiherrn vom Stein und dessen Mitarbeiter und späteres Mitglied der Paulskirche Ernst Moritz Arndt. Dieses Dreigestirn („BSA“) meine ich, wenn ich von „Konservativen“ spreche. Es sind jene, die die absolutistische Tyrannei aufbrechen wollten (und es auch praktisch getan haben), indem sie die Legitimität wiederherstellten: der preußische Staat zog sich (praktisch einmalig in der Weltgeschichte) vollkommen aus der Gesellschaft zurück, die Gemeinden erhielten ihr Recht zurück, sich selbst zu verwalten, etc. Nichts weltbewegendes, aber genau jenes Maß an Freiheit („Wahrheit“), die die Strukturen der Menschen noch gerade so eben aushalten konnten. Der Weg in die richtige Richtung: Dezentralisierung ohne „krebsigen“ Zerfall, Selbstverantwortung und Selbstbestimmung ohne „krebsiges“ Chaos, Demokratie ohne „krebsige“ Verantwortungslosigkeit.

Die Gegner von BSA waren die verdammten Wahrheits- und Freiheitskrämer mit ihren heeren Ideen. BSA ist zwar nicht gerade aufregend, nicht weltbewegend, nicht sexy, aber es ist der erste Schritt hin zu mehr Lebensfreude (weil es buchstäblich der Weg zurück zur Erde ist, weg von den hehren Ideen), zu mehr „Einzigkeit“ (weil nicht mehr die Idee der „Freiheit“ der Leitfaden ist, sondern das praktische Leben), zu mehr Arbeitsdemokratie.

Nehmen wir mal an, die Stirnerity würde sich durchsetzen. Wäre sie wirklich tragfähig? Wäre das nicht vielleicht ein ziemlich lustloser Haufen, der fatal an jene Pseudo-Stirnerianer im Paris der 1940er und 1950er Jahre erinnern würde: die grämeligen, kreidebleichen, schwarz-in-schwarz gekleideten Existentialisten, die „aus sich heraus ihre selbstverantwortete eigene Welt schaffen“ (oder so)? – Ich meine, wann kommt in einem „Verein“ (von der Betriebsfeier, über die Dorffeier bis zum Fest der Pygmäem im Kongo) wirklich genuine gemeinsame verbindende buchstäblich ansteckende Lebensfreude auf? Wenn der gemeinsamen Tradition gedacht und diese „Vorurteile“ (die für den Außenstehenden vollkommen gaga sind) zelebriert werden! Wenn es über Kopfgeburten, gemeinsame „kalte Interessen“ und Unverbindlichkeiten hinausgeht, d.h. wenn die gemeinsame Einzigkeit gefeiert wird. Identität. Legitimität. „Justified and ancient!

Linke/Liberal und Konservative (BSA) sind eben nicht die gleiche Kategorie. Auf BSA kann man nicht „hereinfallen“!

Desgleichen mit der „Wissenschaft“: man kann auf den „Szientismus“ hereinfallen, aber eben nicht auf die Wissenschaft. Das eine ist ein Wahngebilde (und gerade die moderne „Wissenschaft“ entwickelt sich immer mehr zu einem solchen bloßen Wahngebilde, das jeden bezug zur Wirklichkeit verliert) – das andere ist Faktizität.

LSR (die totale Gegnerschaft) und BSA („Legitimität“) gehören zusammen: ohne das „anti-aufklärerische“ BSA kann sich die Aufklärung (LSR) nie durchsetzen. Ja sie darf sich sogar nicht (ohne BSA) durchsetzen! (Siehe oben alles zusammengenommen.)

Faschismus ist Ausdruck der Mittleren Schicht. Roter Faschismus ist Ausdruck der Mittleren Schicht mit Hilfe der sozialen Fassade. Und da sind wir gewisserweise immer noch, trotz des Sieges über den Kommunismus: in der kontaktlosen sozialen Fassade. Eine „illigitime“ (also „unechte“) Kontaktlosigkeit, gegen die schon BSA ankämpften, als sie mit der Französischen Revolution und ihren Folgen konfrontiert waren.

[Anarchismus] Lektüren 1981 (nach alten handschriftlichen Aufzeichnungen)

29. April 2023

[Anarchismus] Lektüren 1981 (nach alten handschriftlichen Aufzeichnungen)

Der naive Wilhelm Reich

24. März 2017

Der genitale Charakter (etwa Reich oder William Blake) und der liberale Charakter (etwa Rousseau) haben eines gemeinsam: beide glauben, daß der Mensch im Wesentlichen gut ist. Der genitale Charakter übersieht die sekundäre Schicht und sieht nur den Kern (Reichs berühmte „Naivität“). Der kontaktlose Liberale sieht nur die Fassade (die liberale „Naivität“). Konservative wie Edmund Burke oder Montesquieu betrachten den Menschen im Wesentlichen als böse. Deshalb treten sie für die traditionellen restriktiven Institutionen (Religion, Monarchie, Klassenstruktur) ein und plädieren für Gewaltenteilung (wie sie in der Verfassung der USA klassisch verwirklicht ist); eine Art „Panzerung“ (check and balances), die die sekundären Triebe in Schach hält.