Posts Tagged ‘soziale Fassade’

Reflektionen über Max Stirner von konservativer Warte (Teil 70)

28. Juni 2023

[Diese Reihe soll zur Auseinandersetzung mit Bernd A. Laskas LSR-Projekt animieren.]

Meines Erachtens gibt es zwei Aspekte von „Tiefe“. Einen vertikalen Aspekt, bei dem es um den Kontakt mit dem „tiefliegenden“ bioenergetischen Kern geht. Aber es gibt auch einen „horizontalen“ Aspekt der Tiefe – die Tiefe des Raumes: 1. wie weit kannst du sehen; 2. siehst du alternative Perspektiven; 3. wie gehst du mit der einfachen Tatsache um, daß du, was immer du auch tust, stets im perspektivischen Zentrum stehst?

Wir alle kennen das, daß wir Kontakte verlieren, weil das Gegenüber immer oberflächlicher wird. (1) Er sieht nicht, daß er mit dem Kontaktabbruch seine eigenen Zukunftsmöglichkeiten beschneidet. (2) Er ist der beschränkte Kleine Mann, der nur seine eigene Sichtweise sieht – er erkennt seine eigene Kleinheit nicht und wird deshalb ungerecht. (3) Er hat eine infantile Einstellung und sieht sich selbst als Mittelpunkt des Universums mit allmächtigen magischen Kräften, statt das Leben als Herausforderung zur Selbstregulierung zu nehmen.

Tiefe kann nur in ihren zwei oder besser gesagt vier Aspekten richtig verstanden werden: Wo befindest du dich strukturell? In der sozialen Fassade? In einer Fassade, die nur ein Vorwand für die sekundäre Schicht ist? In der sekundären Schicht? Im Kern, der durch die sekundäre Schicht verzerrt wird? usw. Plus: 1. Wo stehst du in deiner Entwicklung? a. Bist du ein Kind (Freiheit) oder ein verantwortungsbewußter Erwachsener, der zukünftige Konsequenzen sieht; sieht, was am Horizont liegt und näher kommt? b. Kannst du dich in eine andere Person hineinversetzen, d.h. die Perspektive wechseln? c. Aufgrund deiner bloßen Existenz und Wahrnehmungsfähigkeit stehst du in jedem Augenblick im Mittelpunkt des Universums. Macht dich das solipsistisch und oberflächlich, oder macht es dich wahrhaft lebendig? Für mich sind das die vier Aspekte der Tiefe. Ein Baby zum Beispiel ist ganz Kern, aber es steht am Anfang seiner Entwicklung. Ein manipulierender EP-Charakter ist in der Lage, die Perspektive zu wechseln, um Menschen zu manipulieren, aber er ist völlig von seinem Kern abgeschnitten usw.

Die vier Aspekte des Mangels an Tiefe sind ein Gesamtpaket. Man nehme etwa Amerika, das nur noch Fassade ist („Image“), völlig unverantwortlich (man denke etwa die außer Kontrolle geratene Gelddruckerei), ideologisch („woke“) und größenwahnsinnig (Ukraine, Taiwan).

Bei Punkt 4 meiner Definition von Tiefgründigkeit (das Zentrum des [oder vielmehr deines] Universums zu sein) war ich mir selbst nicht sicher, was das überhaupt bedeutet. Nun, es wird in diesem Lied ausgedrückt:

Als ich jung war, war ich der netteste Kerl, den ich kannte. Ich dachte, ich wäre der Auserwählte. Aber die Zeit verging und ich fand ein oder zwei Dinge heraus. Mein Glanz verblaßte mit der Zeit. Ich dachte, ich lebte das perfekte Leben. Aber in den einsamen Stunden, wenn die Wahrheit zu beißen beginnt, dachte ich an die Zeiten, in denen ich mich abwandte und alles abwürgte. Ich bin doch kein netter Kerl. Als ich jung war, gab es keine Alternative zu mir. Ich war sicher, alles im Griff zu haben, aber die Zeit verging und ich verlor mich in dem, was ich vorfand. Die Beweggründe verblaßten, der Weg wurde unsicher. Ich dachte, daß ich das Leben auf die einzig mögliche Art und Weise lebte. Aber als ich sah, daß das Leben mehr als nur der nächste Tag war, wandte ich mich um und las die Schrift an der Wand. Ich bin doch kein netter Kerl. Ich bin doch kein netter Kerl. In all den Jahren, die du zwischen deiner Geburt und deinem Tod verbringst, stellst du fest, daß es viele Zeiten gibt, in denen du hättest innehalten sollen. Es ist ein ziemlicher Schock, wenn dieser Trip dich schließlich zu Fall bringt.

Wie einer der Kommentatoren unter dem Video schrieb: „Ich liebe die Lyrics. Es ist ziemlich tiefgründig. Im Grunde genommen geht es um den Kern des Erwachsenwerdens: Du stellst fest, daß du nicht das Zentrum des Universums oder die Hauptfigur in einer Geschichte bist. In Wirklichkeit bist du vielleicht der Bösewicht in der Geschichte von jemand anderem.“ Werde erwachsen!

Reflektionen über Max Stirner von konservativer Warte (Teil 6)

16. Juli 2022

[Diese Reihe soll zur Auseinandersetzung mit Bernd A. Laskas LSR-Projekt animieren.]

Warum haben LaMettrie, Stirner und vor allem Reich all das, was ihre „Aufklärungsarbeit“ ihnen abverlangte, auf sich genommen. Myron Sharaf meint, was den Fall Reich betrifft, um seine ödipale Schuld abzutragen. Andere meinen, entweder weil er seinen existentiellen Konflikt als „Außenstehender“ lösen wollte oder weil er so seinen bioenergetischen Lebenshunger stillen wollte. Das heißt doch nichts anderes, als Reich auf eine orgastisch impotente Pathologie zu reduzieren. Meines Erachtens ist es fatal, bei Reich auf diese Weise zwischen Sein und Handeln, Motiv und Aktion zu unterscheiden. Dieser Unterschied macht nur in der sozialen Fassade und in der mittleren Schicht der Charakterstruktur Sinn, nicht jedoch, wenn man aus dem bioenergetischen Kern heraus lebt. Dann springt man z.B. nicht unter Lebensgefahr in einen reißenden Strom, um ein Kind zu retten, weil es das Gewissen diktiert, sondern man springt, weil man anders gar nicht kann. Dann ist man ein Retter und verändert die Umwelt so, daß es dem eigenen Wesen entspricht. Man lebt, während die anderen nur Marionetten sind.

Dies ist übrigens wieder die unheimliche Nähe zwischen Modju und dem genitalen Charakter: beide folgen einem strukturellen Zwang. Es ist sinnlos zu fragen, warum Hitler die Juden vergast hat oder warum Reich diese Pest bekämpft hat, genauso wie die Frage sinnlos ist, warum ein Fischreiher Fische fängt, sonst wäre er nämlich ein „Kartoffelreiher“ oder so.

Tue das, was du bist, und sei das, was du tust und dann wirst du deinen Weg gehen. Dabei ist die Frage natürlich, ob dieser Weg wirklich Glück beschert. Wer ist wirklich glücklich: der, der seinen Weg verraten hat und als Lohn auf einer Luxusjacht durch die Adria schippert und die innere Leere mit Champagner auffüllt; oder der, der unter unsäglichen Qualen in einem Folterkeller eines faschistischen Regimes verreckt, aber das im Bewußtsein tut, sich treu geblieben zu sein? Ich habe den Eindruck, daß es sich an dieser Stelle ähnlich verhält wie mit Stirners Dichotomie von Freiheit und Eigenheit. Unsere Freiheit ist ewig eingeschränkt. Da heißt wir können wohl nicht z.B. durch Wände gehen, aber wir können innerhalb unserer beschränkten Möglichkeiten des „Freiseins“, wir selbst bleiben. Ähnlich verhält es sich mit dem Glück: der Weg mag beschwerlich und dunkel sein, aber es ist dein Weg und damit der einzig mögliche Weg. Jeder andere würde dich ohnehin unglücklich machen.