Posts Tagged ‘Sexualkonstitution’

Reflektionen über Max Stirner von konservativer Warte (Teil 127)

4. Mai 2024

[Diese Reihe soll zur Auseinandersetzung mit Bernd A. Laskas LSR-Projekt animieren.]

In seiner gegen Reich gerichteten Schrift Das Unbehagen in der Kultur klingt Freud fast wie Herbert Marcuse:

Von seiten der Kultur ist die Tendenz zur Einschränkung des Sexuallebens nicht minder deutlich als die andere zur Ausdehnung des Kulturkreises. Schon die erste Kulturphase, die des Totemismus, bringt das Verbot der inzestuösen Objektwahl mit sich, vielleicht die einschneidendste Verstümmelung, die das menschliche Liebesleben im Laufe der Zeiten erfahren hat. Durch Tabu, Gesetz und Sitte werden weitere Einschränkungen hergestellt, die sowohl die Männer als die Frauen betreffen. Nicht alle Kulturen gehen darin gleich weit; die wirtschaftliche Struktur der Gesellschaft beeinflußt auch das Maß der restlichen Sexualfreiheit. Wir wissen schon, daß die Kultur dabei dem Zwang der ökonomischen Notwendigkeit folgt, da sie der Sexualität einen großen Betrag der psychischen Energie entziehen muß, die sie selbst verbraucht. Dabei benimmt sich die Kultur gegen die Sexualität wie ein Volksstamm oder eine Schichte der Bevölkerung, die eine andere ihrer Ausbeutung unterworfen hat. Die Angst vor dem Aufstand der Unterdrückten treibt zu strengen Vorsichtsmaßregeln. Einen Höhepunkt solcher Entwicklung zeigt unsere westeuropäische Kultur. Es ist psychologisch durchaus berechtigt, daß sie damit einsetzt, die Äußerungen des kindlichen Sexuallebens zu verpönen, denn die Eindämmung der sexuellen Gelüste der Erwachsenen hat keine Aussicht, wenn ihr nicht in der Kindheit vorgearbeitet wurde. Nur läßt es sich auf keine Art rechtfertigen, daß die Kulturgesellschaft so weit gegangen ist, diese leicht nachweisbaren, ja auffälligen Phänomene auch zu leugnen. Die Objektwahl des geschlechtsreifen Individuums wird auf das gegenteilige Geschlecht eingeengt, die meisten außergenitalen Befriedigungen als Perversionen untersagt. Die in diesen Verboten kundgegebene Forderung eines für alle gleichartigen Sexuallebens setzt sich über die Ungleichheiten in der angeborenen und erworbenen Sexualkonstitution der Menschen hinaus, schneidet eine ziemliche Anzahl von ihnen vom Sexualgenuß ab und wird so die Quelle schwerer Ungerechtigkeit. Der Erfolg dieser einschränkenden Maßregeln könnte nun sein, daß bei denen, die normal, die nicht konstitutionell daran verhindert sind, alles Sexualinteresse ohne Einbuße in die offen gelassenen Kanäle einströmt. Aber was von der Ächtung frei bleibt, die heterosexuelle genitale Liebe, wird durch die Beschränkungen der Legitimität und der Einehe weiter beeinträchtigt. Die heutige Kultur gibt deutlich zu erkennen, daß sie sexuelle Beziehungen nur auf Grund einer einmaligen, unauflösbaren Bindung eines Mannes an ein Weib gestatten will, daß sie die Sexualität als selbständige Lustquelle nicht mag und sie nur als bisher unersetzte Quelle für die Vermehrung der Menschen zu dulden gesinnt ist. Das ist natürlich ein Extrem. (Studienausgabe Bd. 9, S. 233f)

Wenn man das aufmerksam liest, hat man Freuds „wissenschaftliche“ Widerlegung von Reichs Orgasmustheorie vor sich, vom Inzestverbot als größtem Einschnitt, über die objektive Notwendigkeit der Sexualunterdrückung, die aber vor allem der Prägenitalität gilt, während die Genitalität sozusagen nur sekundär unterdrückt werde. Der unüberwindbare Gegensatz von Freud/Marcuse und Reich wird überdeutlich.

Gegen diesen Absatz klingt Reich geradezu konservativ und reaktionär! Der darauffolgende Absatz in Das Unbehagen in der Kultur hingegen fast „Reichianisch“, dessen Schluß dann aber wieder drastisch Freudistisch-obskurantistisch. – Freud bietet wirklich für jeden etwas:

Das ist natürlich ein Extrem. Es ist bekannt, daß es sich als undurchführbar, selbst für kürzere Zeiten, erwiesen hat. Nur die Schwächlinge haben sich einem so weitgehenden Einbruch in ihre Sexualfreiheit gefügt, stärkere Naturen nur unter einer kompensierenden Bedingung, von der später die Rede sein kann. Die Kulturgesellschaft hat sich genötigt gesehen, viele Überschreitungen stillschweigend zuzulassen, die sie nach ihren Satzungen hätte verfolgen müssen. Doch darf man nicht nach der anderen Seite irregehen und annehmen, eine solche kulturelle Einstellung sei überhaupt harmlos, weil sie nicht alle ihre Absichten erreiche. Das Sexualleben des Kulturmenschen ist doch schwer geschädigt, es macht mitunter den Eindruck einer in Rückbildung befindlichen Funktion, wie unser Gebiß und unsere Kopfhaare als Organe zu sein scheinen. Man hat wahrscheinlich ein Recht anzunehmen, daß seine Bedeutung als Quelle von Glücksempfindungen, also in der Erfüllung unseres Lebenszweckes, empfindlich nachgelassen hat. Manchmal glaubt man zu erkennen, es sei nicht allein der Druck der Kultur, sondern etwas am Wesen der Funktion selbst versage uns die volle Befriedigung und dränge uns auf andere Wege. Es mag ein Irrtum sein, es ist schwer zu entscheiden. (ebd. S. 234f)

In einer Fußnote zu Das Unbehagen in der Kultur (ebd., S. 248) bezieht sich Freud auf Goethes Mephistopheles, der, so Freud, archetypisch den Destruktionstrieb verkörpere. Mit dem Faust-Zitat…

Der Luft, dem Wasser, wie der Erde

Entwinden tausend Keime sich,

Im Trocknen, Feuchten, Warmen, Kalten!

Hätt‘ ich (Mephistopheles) mir nicht die Flamme vorbehalten,

Ich hätte nichts Aparts für mich.

…identifiziert Freud den Todestrieb mit dem Feuer. 6 Jahre später wird Reich in seinen Bionexperimenten zeigen, daß die besagten Keime aus dem Feuer hervorgehen!