Posts Tagged ‘der Einzelne’

Max Stirner, Soter (Teil 18)

25. Juli 2025

Max Stirner vertritt die These, daß „der Stein auf der Straße“ und meine Vorstellung von ihm das gleiche Sein haben und durch dieses Sein rein gar nichts gerechtfertigt sei (Der Einzige, S. 383). Alle Prädikate, die ich den Dingen zuschreibe, alle meine Aussagen und Urteile, sind meine – Geschöpfe (Der Einzige, S. 378). Alles ist das „Meinige“, will sagen „Meinung“ (Der Einzige, S. 381f). Schönheit liegt, Stirner zufolge, demnach im Auge des Betrachters. Stirner fehlen die Maßstäbe. Er ist wie der Homosexuelle und Päderast (deren großer Held Anfang des letzten Jahrhunderts er wurde), der subjektiv glücklich ist und sich frägt, warum er sich ändern soll. „Ich bin, wer ich bin!“

Knapp und bündig gegen Stirner: der Einzelne, der „Einzige“, das Subjektive, die „Meinung“ ist niemals schön. Es gibt keine schönen Individuen und je „individueller“ ein Mensch ist, als desto unschöner wird er empfunden. Er ist ein „Charakter“! Als schön werden nur Durchschnittstypen angesehen. Schön ist nur der ideale Mensch, d.h. buchstäblich jenes real nicht existierende „Gespenst“ (um einen Ausdruck Stirners zu verwenden), der entsteht, wenn man alle Menschen überblendet und so das „vollkommene Gattungswesen“ (Feuerbach, Marx) erschafft. In diesem vollkommenen Wesen zeigen sich die Formgesetze der kosmischen Orgonenergie in vollkommenster Form (das Platonische Ideal, Goldener Schnitt, Orgonom-Form, D’Arcy Thompson, „perfekte Statik“, etc.). Ästhetisches Empfinden ist nicht gesellschaftlich andressiert, sondern angeboren; eine biologische Konstante der Spezies Homo sapiens. Genauso bemerkenswert ist, daß diese Ästhetik strengen mathematischen Gesetzmäßigkeiten folgt. Im zweiten Band von Also sprach Zarathustra schreibt Nietzsche entsprechend: „Wenn die Macht gnädig wird und herabkommt in’s Sichtbare: Schönheit heiße ich solches Herabkommen“ (Studienausgabe Bd. 4, S. 152).

Wenn Stirner dermaßen viel Abneigung entgegengebracht wird, hat das nicht nur etwas mit der Über-Ich-Problematik zu tun (Ethik), sondern auch etwas mit der Ästhetik. Leider ist beides über Platons „Alles Gute ist schön!“ unheilvoll miteinander verknüpft. Eine Stirnerianische Ästhetik hingegen ist undenkbar – weshalb jemand wie Reich lieber dem „vollkommenen Gattungswesen“ nachstrebte, sich bei Marx und Freud verfing, alle möglichen, um mit Laska zu sprechen, Palimpsests auftrug und Stirner nur hier und da im vorbeigehen erwähnte. Das war keine Verdrängung von Stirner, sondern eine Entfremdung von ihm. Das Palimpsests-Auftragen war Ausfluß eines Kampfes zwischen Stirner und Plato in Reichs Brust; ein Resultat dessen, daß dieser Kampf nie begrifflich auf den Punkt gebracht wurde. Wer sah beispielsweise bisher die funktionelle Identität von Reichs „Marxismus“ und Die kosmische Überlagerung?

Holen wir weiter aus, indem wie Stirner in fünf Sätzen zusammenfassen: Ausnahmslos alle Menschen sind Egoisten (Christen sind vermeintlich „Altruisten“, weil sie den „himmlischen Lohn“ erwarten!), aber der echte, d.h. zu sich stehende Egoist, weiß von seiner Einzigkeit, d.h. er wird nicht vom „Über-Ich“ (dem „Heiligen“) bestimmt, das alle in „Platonistische“ Muster einpaßt. Er ist frei von Ethik und reguliert sich selbst, ist Eigner seiner selbst. Als bewußter Egoist verfügt er über sein Eigentum. Sein (zumindest potentielles) Eigentum ist alles, dem er die „Heiligkeit“ abspricht. Dieses Eigentum ist sozusagen das Siegel des Einzigen, so wie der Deutsche „einzigartig“ mit Deutschland assoziiert ist.

Wo ist hier Platz für die Ästhetik, also Schönheit? Der Eigner ist potentiell mit dem gesamten Universum assoziiert – ist eben kein „Charakter“! (Siehe dazu meine Interpretation der „Ewigen Wiederkehr“ in Der verdrängte Nietzsche.) Erst nachdem die Willkür des Über-Ichs, d.h. wenn das „Heilige“, gebrochen ist, kann sich das universelle Ideal entfalten. Ein Beispiel ist der „Stirnerianismus“ selbst, der wie bereits angeschnitten, zentral von Perversen, Homosexuellen, Päderasten wie John Henry Mackay und anderen Vertretern des „ich bin schön, so wie ich bin“ bestimmt wurde: „Wir sind allzumal vollkommen! Denn wir sind jeden Augenblick Alles, was Wir sein können, und brauchen niemals mehr zu sein“ (Der Einzige, S. 403f). Sie verwechselten sich mit dem, was die Gesellschaft, das Über-ich aus ihnen gemacht hat: sekundäre „Natur“, so daß die „ideale“ primäre Natur nicht „herabkommen“ konnte.

Wenn die Panzerung aufgehoben ist, waltet nicht mehr die irre Willkür, sondern die Platonischen Naturgesetze, gegen die übrigens Stirner rein gar nichts hatte. Die über Generationen erforschten ewigen mathematischen (und damit physikalischen) Gesetze wollte er nicht missen (Der Einzige, S. 40, 374).

Leute, die durchaus „guten (LSR-) Willens“ sind, wehren sich gegen LSR (z.B. auch Reich gegen Stirner), weil sie sich nach jenem „Kosmischen“ sehnen, was nach der Auflösung der Panzerung kommt. Bei L („der Mensch als Maschine“), S („Verbrechertum“) und R („der Mensch als sich windender Wurm“) finden sie jedoch vermeintlich das genaue Gegenteil. Natürlicherweise wenden sie sich lieber gleich dem Erhabenen zu (Diderot, Marx, Freud): D („höheres Menschentum“), M („vollkommenes Gattungswesen“) und F („Sublimierung“) – was sie in der Falle hält und immer tiefer in den Sumpf zieht. Eine teuflische Dialektik, die Reich mit seiner Orgonforschung aufbrechen wollte.

Wenn Feuerbach vom vollkommenen Gattungswesen spricht und der „sozialistische Humanismus“ Marxens von der „voll entfalteten, gymnastisch gestählten, sozialistischen Persönlichkeit“ ist selbstverständlich immer da Vincis Homo quadratus mit seinen vollkommenen Pythagoreisch/Platonischen Proportionen mit gemeint! Bei Marx geht es um die Beseitigung der Arbeitsteilung, deren Überwindung, etwa durch die Vereinigung von „produktiver Arbeit mit Unterricht und Gymnastik“ (Kraft durch Freude), aus dem spezialbegabten „Teilindividuum“ das allseitig begabte gesellschaftliche Individuum macht. Bezeichnenderweise beruft sich Marx bei dieser „materialistischen“ Fassung des Platonischen „Gattunsgwesens“ auf Robert Owen: „Aus dem Fabriksystem, wie man im Detail bei Robert Owen verfolgen kann, entsproß der Keim der Erziehung der Zukunft, welche für alle Kinder über einem gewissen Alter produktive Arbeit mit Unterricht und Gymnastik verbinden wird, nicht nur als eine Methode zur Steigerung der gesellschaftlichen Produktion, sondern als die einzige Methode zur Produktion vollseitig entwickelter Menschen“ (Das Kapital I, Ullstein Taschenbuch, S. 439 [MEW Bd. 23, S. 508]).

Ich habe zwar nicht die Aufgabe oder den Beruf bzw. die Berufung Mensch zu sein, aber ich bin Mensch. Dieses Menschsein ist Teil meiner Eigenheit, weshalb ich mich etwa für Primatologie interessieren „sollte“. Das gleiche gilt für mich als Naturwesen und Weltwesen. Zumal ich in der Natur wirklich ich sein kann, denn die ist frei vom Über-Ich. Und mit „in der Natur“ meine ich nicht nur (z.B.) eine Waldwiese, sondern wirklich alles, was nicht vom Über-Ich vermurkst ist. Ich lebe schon in einer „Kinder der Zukunft-Welt“, an deren Maßstäben ich die, for lack of a better term, „Über-ich-Welt“ identifizieren und beseitigen kann.

Reflektionen über Max Stirner von konservativer Warte (Teil 51)

24. Februar 2023

[Diese Reihe soll zur Auseinandersetzung mit Bernd A. Laskas LSR-Projekt animieren.]

Von Alain de Benoist stammt der Satz: „Der Sinn des Kommenden ist immer in dem Verhältnis zur Herkunft enthalten“ (Aufstand der Kulturen. Europäisches Manifest für das 21. Jahrhundert, Berlin: Edition Junge Freiheit, 1999, S. 39). Wie der Titel seines Buches schon sagt, geht es darum, daß man nur „sinnvoll“ leben kann, wenn man in seiner Kultur, in der Vergangenheit verwurzelt ist. In diesem Zusammenhang gemahnt bei ihm manches an Reichs „europäische“ Abhandlungen über die Arbeitsdemokratie und auch an Reichs einfachen Ausspruch: „Die Zukunft erwächst aus dem ständigen Strom der Gegenwart, wie auch die Gegenwart aus der Vergangenheit hervorgeht“ (Christusmord, 1978, S. 72).

Ich glaube, wenn man gegen seine Herkunft lebt, man einen Preis dafür zu bezahlen hat. Das war wohl ein Teil von Reichs persönlicher Tragik: um er selbst zu sein, mußte er gegen seinen Vater, die Vater-Imago, das Judentum, letztendlich das Über-Ich anleben; das bekämpfen, was er als „Familitis“ bezeichnete. Aber wie, losgelöst von der Herkunft, selbst sein? Diese innere Zerrissenheit haben Ilse Ollendorff und Peter Reich sehr gut beschrieben.

Sie zeigt sich auch in Fragen der Kindererziehung. Anfangs wollte Reich das Kind als quasi autonomes Subjekt behandeln, das möglichst früh von der Familie, gar der Mutter getrennt, „kollektiv“ aufwächst. Erst Mitte der 1940er Jahre sah er angesichts seines eigenen Sohnes die ganze Bedeutung des engen orgonotischen Kontakts zwischen Mutter und Kind in den ersten Jahren.

Reich wollte seine eigene Problematik umgehen, indem er seine Herkunft, seine Erdung, seine „Verwurzelung“ (!) bei Amöben, Quallen und in der Milchstraße suchte (siehe Die kosmische Überlagerung).

Doch man lebt aus den unmittelbaren Wurzeln heraus und kann nicht, quasi religiös, die „Kontinuität der Funktionen“ überspringen (siehe dazu Orgonometrie, Teil 3, Kapitel 12).

Und was ist mit Freiheit, Autonomie, Eigenheit? „Nur ein freier Mensch kann frei sein“ (American Odyssey, S. 296). Ein isolierter Eintrag in Reichs Tagebuch. Sozusagen der Gedanke des Tages. Ein denkbar schwerer Schlag ins Gesicht der sogenannten „freien Gesellschaft“, die solange eine Illusion bleiben wird, solange der Einzelne nicht frei ist von Panzerung bzw. dem „Über-Ich“. Du bist nur frei, wenn nicht nur die äußeren Hierarchien, die dich bedrücken, weg sind, sondern vor allem erst, wenn auch die verinnerlichten Hierarchien („die Stimme des Gewissens“) verschwunden sind.

In seinem Du contrat social ou Principes du droit politique schrieb Rousseau, der Ahnherr der modernen Wurzellosigkeit, daß derjenige, der dem allgemeinen Willen nicht gehorcht, dazu gezwungen werden muß, „frei zu sein“. Wie das? „Wir sollten diesen Ausdruck der Freiheit als eines der grundlegenden Merkmale freier Menschen anerkennen.“ Rousseau glaubte, der Mensch sei gut und je mehr Menschen einen gemeinsamen Willen, eine Art Gemeinschafts-Ich, finden, desto „guter“ werden sie: deshalb müsse sich der Einzelne dem Volkswillen unterwerfen, um er selbst und frei = gut sein zu können. Mit anderen Worten: er soll sich den inneren Hierarchien unterwerfen, etwa im Sinne der modernen „Wokeness“.

Montesquieu, der Ahnherr der modernen (demokratischen) Rechten, glaubte, der Mensch sei von Natur aus schlecht und ohnehin gäbe es den Menschen gar nicht. Deshalb müsse er je nach den unterschiedlichen Gegebenheiten durch Checks and Balances vor der Tyrannei des vermeintlichen Volkswillens geschützt werden. Entsprechend schrieb Reich 1956: „Ein freier Mensch ist der, der sich im Angesicht des Todesurteils weigert, etwas preiszugeben, das er aus freien Stücken preiszugeben bereit wäre“ (Greenfield: USA gegen Wilhelm Reich, S. 388).

Es ist dokumentiert, daß sich Reich um 1956 herum intensiv mit Rousseau auseinandergesetzt hat (das geht aus Christusmord, wo er den Contrat Social erwähnt, und dem Bericht von Wolfe’s Witwe Gladys Meyer-Wolfe hervor, Reich lese Rousseaus Bekenntnisse). Durch Marx und dessen Robespierre (Lenin) war Reichs europäische Periode zwischen 1927 und 1937 durch und durch Rousseauistisch: der wahre Volkswille soll die bürgerliche Welt hinwegfegen (Was ist Klassenbewußtsein?).

Tragischerweise sah sich Reich seit etwa 1932 genau durch diesen „wahren Volkswillen“ (der in Stalin verkörpert war) verfolgt. Man betrachte nur die „Rousseauistischen“ Ausführungen von Wertham und Brady gegen den unsolidarischen „Volksschädling“ Reich (siehe dazu Der Rote Faden, Kapitel 5).

Vor diesem Hintergrund muß man Reichs vollkommene Hingabe an das „Montesquieusche“ Amerika betrachten, seine Bevorzugung des konservativen Geistes (Christusmord, Zeugnisse einer Freundschaft), den Frieden, den er mit dem Patriotismus, der Religion und den anderen bürgerlichen Institutionen schloß. Dieses innere Ringen Reichs schlug sich schließlich in Elsworth F. Bakers Unterscheidung zwischen dem vom bioenergetischen Kern getrennten kollektivistischen „liberalen Charakter“ und dem im Kern verwurzelten individualistischen „konservativen Charakter“ nieder (Der Mensch in der Falle).