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„Kapitalistische Reichianer“ (Teil 1)

2. März 2015

Einwürfe bzw. Einwände gegen meine „kapitalistische“ Interpretation der Arbeitsdemokratie sind nur allzu berechtigt, wenn man objektiv Reichs Konzept der Arbeitsdemokratie betrachtet, das in der frühen Phase wirklich kaum von anarcho-syndikalistischen und räte-kommunistischen Konzepten, wie sie beispielsweise Rudolf Rocker und Anton Pannekoek ausgearbeitet haben, zu unterscheiden war, mal abgesehen davon, daß bei Reich das Proletariat als „revolutionäres Subjekt“ fehlt. Phillip Bennet hat das sehr schön gezeigt: „Wilhelm Reich’s Early Writings on Work Democracy: A Theoretical Basis for Challenging Fascism Then and Now“ im öko-sozialistischen Magazin Capitalism Nature Socialism (Vol. 21, No. 1, March 2010).

Aber betrachten wir einmal Reichs „politische“ Entwicklung:

  • 1919-1927: ein linker Sozialdemokrat in der ohnehin sehr linken „austro-marxistischen“ Sozialdemokratischen Partei Österreichs.
  • 1928-1933: Anschluß an die KPÖ, eine linksradikale direkt von Moskau gesteuerte Politsekte, danach an die Massenpartei KPD, die (ebenfalls von Moskau instruiert) gerade ihre linksradikale Phase durchmacht: bereits Sozialdemokraten sind Nazis („Sozialfaschisten“).
  • 1934-1937: im Exil Annäherung an Kräfte, die sowohl zu den Sozialdemokraten als auch zu den Kommunisten (die sich beide in einer „antifaschistischen Einheitsfront“ näherkommen) in kritischer Opposition stehen: Trotzkisten, SAP (Willy Brandt, etc.), Neu Beginnen, Mot Dag, etc.
  • 1938-1941: wie eingangs erwähnt eine quasi „anarcho-syndikalistische“ Phase (ohne jeden Kontakt zu tatsächlichen Anarcho-Syndikalisten).
  • 1942-1947: wie aus dem 1942 verfaßten Schlußkapitel der Massenpsychologie des Faschismus  deutlich wird, verflüchtigen sich aus dem Konzept der Arbeitsdemokatie alle „links-utopischen“ Vorstellungen und das Konzept wird im Vergleich mit den vorangehenden Ausformulierungen etwas konturlos. Trotzdem bleibt Reich nach außen hin eher „ein Linker“ im Sinne von Roosevelt (heute etwa mit Obama vergleichbar).
  • 1948-1957: mit der Hetze der linken Presse (Mildred Brady, etc.) und seiner Enttäuschung darüber, wie seine linksliberalen Anwälte mit der Kampagne umgehen, entwickelt sich Reich zunehmend nach rechts.

Liest man die von einer linksliberalen Herausgeberin kommentierte und (wie sich leicht nachweisen läßt) teilweise zensierte Korrespondenz Reichs mit A.S. Neill (Zeugnisse einer Freundschaft) zeichnet sich seit etwa 1942, eindeutig aber ab etwa 1948, ein Reich ab, der langsam aber sicher ziemlich genau die Haltung der heutigen Orgonomie annimmt. Vor dem Hintergrund dieser Briefe wird auch klar, daß Reichs negative Äußerungen über „Liberale“ (d.h. Linke) und positive über Konservative in Christusmord nicht nur oberflächliche Reflexionen sind, wie linke „Reichianer“ es gerne hinstellen, sondern erste Ansätze einer soziopolitischen Charakterologie im Sinne Elsworth F. Bakers darstellen, die sich im übrigen bereits im 1942 geschriebenen Vorwort zu Massenpsychologie des Faschismus (das Dreischichten-Model) und dem 1947 verfaßten Äther, Gott und Teufel (Mechanisten gegen Mystiker) abzeichnen.

In diesem charakterologischen Rahmen sieht die Orgonomie heute die Arbeitsdemokratie.

Dazu muß gesagt werden, daß für Reich „Ökonomie“ mehr bedeutet hat als nur „Produktivkräfte“ und „Produktionsverhältnisse“, also Maschinen, Know How, Arbeit, Kapital, Einkommens- und Machtverteilung, sondern in erster Linie die gegenseitige unlösbare Abhängigkeit der einzelnen Produzenten und Konsumenten voneinander – die inhärent Rationalität aufzwingt. Entsprechend war für Reich das ökonomische Elend nur eine sekundäre Funktion der politischen Pest (Brief an Neill vom 8. Juli 1953).

Betrachten wir dazu das folgende Schema, mit dem Reich seine wissenschaftliche Entwicklung von der Psychoanalyse (Psychologie) über den Marxismus (Soziologie) zur „sexualökonomischen Lebensforschung“ (Biologie) beschrieb:

Die Ökonomie umfaßt (genauso wie die Sexualität) offensichtlich alle drei Bereiche, wobei der biologische Bereich der umfassendste und tiefste ist. Die biophysikalische Charakterstruktur ist wichtiger als alle soziologischen (inklusive konventionell „ökonomischen“) und rein psychologischen Überlegungen.

Es geht darum, wie „die Pest“ (die Emotionelle Pest) von außen her einbrach, die arbeitsdemokratischen Beziehungen zerstörte und die Menschen charakterlich verformte, was dann von Generation zu Generation weitergetragen wurde. Es geht darum, wie dieser Teufelskreis wieder aufgehoben werden kann, d.h. wie man die Menschen wieder freiheits- und verantwortungsfähig macht. Reichs Antwort war: indem man

  1.  die politische Pest bekämpft;
  2. den Menschen die rationale Arbeitsdemokratie nahebringt;
  3. ihnen Selbstverantwortung „aufbürdet“, anstatt sie zu „befreien“; und
  4. indem man die Kinder von vornherein so aufzieht, daß sie die Falle gar nicht erst betreten.

Das hat ihn zu einem Gegner aller linken und rosaroten Volksbeglücker gemacht.

Für das Individuum in der Orgontherapie bedeutet das mit abnehmender Bedeutung:

  1. die biologische, bio-physische Therapie, die direkt die organismische Orgonenergie einwirkt, indem die Panzerung systematisch beseitigt wird, die die Energie in Schach hält (BIOLOGIE).
  2. die Befreiung des Patienten (wenn nötig) von seiner Familie („Familitis“) und (wenn nötig) Ermutigung zu ökonomischer Unabhängigkeit, was allein schon einen heilenden Effekt hat (SOZIOLOGIE).
  3. Aufklärungsarbeit über realitätswidrige Annahmen (PSYCHOLOGIE).

In der (wenn man so will) „gesellschaftskritischen Arbeit“ mit den Massen sieht es genau umgekehrt aus:

  1. Aufklärungsarbeit hinsichtlich der Fallstricke mechanistischen und mystischen Denkens (PSYCHOLOGIE).
  2. die Bekämpfung der sozialistischen (euphemistisch: „sozialstaatlichen“) Entmündigung der Massen (SOZIOLOGIE).
  3. das „Projekt Kinder der Zukunft“ (BIOLOGIE).

Das „Projekt Kinder der Zukunft“ steht hier an letzter Stelle (obwohl es „an und für sich“ am wichtigsten ist!), weil es naturgegeben erst nach einer Generation (30 Jahre!) oder noch später wirklich im gesellschaftlichen Maßstab greifen kann.

Es würde an Wahnsinn grenzen, so große Projekte wie „Die Kinder der Zukunft“ (…) in Angriff zu nehmen, ohne begriffen zu haben, wie es möglich war, daß all dies Elend jahrtausendelang unvermindert, unerkannt und unangefochten bestehen konnte; daß nicht ein einziger der vielen glänzenden Versuche zur Erklärung der Situation und zur Linderung der Leiden Erfolg hatte; daß mit jedem Schritt hin zur Erfüllung des großen Traums das Elend nur schlimmer und tiefer wurde (…). Gegenwärtig ist eine sorgfältige Untersuchung des Christusmordes weit wichtiger als die wunderbarsten Kinder, die wir vielleicht aufziehen könnten. (Christusmord, Freiburg 1978, S. 40)