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Peter liest die kommentierte Neuauflage der Originalausgabe von Reichs MASSENPSYCHOLOGIE DES FASCHISMUS (Teil 2)

7. Dezember 2022

Reichs Vorrede kreist um die Macht der Jugend, die UNS gehört, und der Wissenschaft, die einzig auf UNSERER Seite steht. Ich schreibe „uns“, weil das direkt auf die Gegenwart übertragbar ist. Die Jugend wird sich nicht ewig die reaktionären Lügen der Grünen über Gender, Ökologie und Einwanderung gefallen lassen, die systematisch ihre Zukunft zerstören.

Und denen, die heute versuchen durch Anpassung an „Klaus Schwab“ irgendwie sich durchwursteln zu können, statt eindeutig Partei gegen die Schweinerei zu ergreifen, seien Reichs Worte von 1933 ins Stammbuch geschrieben:

Die Wissenschaft ist der Todfeind der politischen Reaktion. Der Wissenschaftler aber, der glaubt, durch Vorsicht und „Unpolitischsein“ seine Existenz zu retten und durch die Verjagung und Einkerkerung auch der Vorsichtigsten nicht eines besseren belehrt wurde, verwirkt den Anspruch, jetzt ernstgenommen zu werden und später einmal am wirklichen Neuaufbau der Gesellschaft mitzuwirken. Seine Klagen und seine Kulturbesorgtheit sind überzeugungslose Ergüsse, wenn er nicht aus den Ereignissen erkennt, daß gerade seine Wissenschaft, seine wissenschaftliche Kraft denjenigen fehlt, auf die er in Zeiten des Zusammenbruchs seine Hoffnung setzt. Sein Unpolitischsein ist ein Stück der Stärke der politischen Reaktion und seines eigenen Unterganges gleichzeitig.

Für Menschen, die sich selbst noch ernstnehmen, gibt es in diesen Zeiten keine Möglichkeit der Anbiederung an den politisch korrekten Zeitgeist, wie er von den Großkonzernen propagiert wird bzw. mit dem sie uns Zwangsstopfen. „Verjagung und Einkerkerung“ sind heute, spätestens seit Einbruch des offenen Faschismus in Zeiten von Corona, bitterer Ernst!

Reich schreibt: „Die Marxsche Grundkonzeption erfaßt zunächst die Ausbeutung der Ware Arbeitskraft und die prozeßhafte Konzentration des Kapitals in wenigen Händen, mit der die fortschreitende Verelendung der Mehrheit der arbeitenden Menschen, des Proletariats in erster Linie“ (S. 19). Was würde besser auf die heutigen Zustände und die Pläne eines Klaus Schwab zutreffen! Man denke nur daran, wie „die Arbeit“ heute in die Zange genommen wird von faschistischen Horden von Klimaklebern auf der einen Seite und beispielsweise amazon auf der anderen Seite. Das gemeinsame Funktionsprinzip der neuen Nazihorden („Antifa“) und dem Großkapital ist die Konzentration und Zentralisation. Die revolutionäre Gegenkraft ist die Arbeit, die Arbeitsdemokratie, wie Reich es 1946 in der dritten Auflage der Massenpsychologie des Faschismus darlegte.

Was tun? Reich: „Die revolutionäre Praxis auf jedem Gebiet des menschlichen Daseins ergibt sich automatisch, wenn man die Widersprüche in jedem neuen Prozeß erfaßt; sie besteht dann in nichts anderem als darin, daß man sich auf die Seite derjenigen Kräfte stellt, die in der Richtung der vorwärtsstrebenden Kräfte wirken, und ihnen zur Bewußtwerdung durch praktische Bewältigung verhilft“ (S. 18). Heute sind das die Kräfte, die, weitgehend in der AfD politisch organisiert, gegen die Konzentration des Kapitals und seine pseudolinke Verbrämung, etwa durch den Kampf gegen den „Klimawandel“ (sic!), vorgehen, ohne selbst die arbeitsdemokratischen Zusammenhänge vollständig zu erfassen.

Die Veröffentlichung der ersten Ausgabe von Massenpsychologie des Faschismus ist angesichts des Great Reset ein Glücksfall, denn die Zustände 2023 gleichen denen von 1933 frappant. Beispielsweise erwähnt Reich die Überlegung, daß „im nächsten Krieg“ die allgemeine Bewaffnung der Massen ausbleiben werde (S. 20). Das ist im Zweiten Weltkrieg zwar nicht eingetreten, gehört heute aber zum „fortschrittlichen“ Gedankengut: die vollständige Entwaffnung der Bevölkerung in der westlichen Welt (d.h. nur noch Kriminelle sind bewaffnet!), die zunehmende Verdrängung von „Volksarmeen“ durch Söldnerheere und nicht zuletzt die Entwicklung von Killerdrohnen und sogar Killerrobotern. Wie Reich 1933 stehen auch wir heute an der Schwelle der kompletten Barbarei, wobei damals wie heute das Grundproblem die Indolenz der Massen ist, d.h. ein massenpsychologisches Problem.

Reflektionen über Max Stirner von konservativer Warte (Teil 25)

17. Oktober 2022

[Diese Reihe soll zur Auseinandersetzung mit Bernd A. Laskas LSR-Projekt animieren.]

Alle Frontlinien sind nur Teil des „sozialen Panzers“: ein „Trieb“ hält den anderen in Schach, auf daß sich nichts verändert. Wie läßt sich diese Panzerung aufbrechen? Indem man nicht mehr bei dieser Frontbildung mitspielt und z.B. den Gegner ernster nimmt, als er sich selbst. Reich am 2. September 1941:

Meine dritte Frau hat mir gerade gesagt, daß ich die Dinge „zu ernst“ nehme. Ich hatte mich darüber beschwert, daß so viel Geld für die zukünftigen Väter des Proletariats verschwendet wird. Das gleiche habe ich vor zwanzig Jahren von mehreren Vorgesetzten gehört. Was soll ich denn ernstnehmen, wenn nicht die sogenannten Retter der Menschheit, die Millionen in die Irre führen, an die die Menschen glauben und für die sie bereit sind, ihr Leben zu opfern! Wenn man das Vertrauen in die Menschen nicht verlieren will (und das zu verlieren, bedeutet, alles zu verlieren), dann muß man alle ihre Aussagen ernstnehmen, todernstnehmen, sie sozusagen festnageln, sie an jedem Wort festhalten und nicht loslassen! (American Odyssey, S. 119)

Im Falle Freuds heißt dies, etwa den unausgesprochenen Vorwurf gegen Reich auszusprechen, daß Reich genau jenen dunklen Mächten den Weg ebnet, gegen die „anständige Menschen“ seit je gekämpft haben, als sie alles mit dem Bann belegten, was nicht zu kontrollieren ist (sei es religiöse Ekstase, sozialer Aufruhr oder sexuelle Zügellosigkeit). Diesen Vorwurf gilt es ernstzunehmen – und sich auf die Seite des Gegners, also in diesem Fall die Seite Freuds zu stellen und die „sexualökonomischen“ Konsequenzen zu ziehen, die in Freuds (Marx’, Diderots) Konzept stecken. Und genau das hat Reich getan, mit „jeder hat irgendwo recht!“ und als er streng zwischen primären und sekundären Trieben unterschied, die Rolle der „Gegenwahrheit“ erkannte und sich auf einen „konservativen“ Standpunkt stellte. Das ist keine kompromißlerische Haltung. Ganz im Gegenteil, denn sie verweigert sich dem gesellschaftlichen Abpanzerungsprozeß, der das System durch „prinzipielle“ Gegnerschaft gegen das System aufrechterhält – das nichts anderes ist als ein festgefügtes Geflecht eben solcher „prinzipiellen Gegnerschaften“.

Doch die Gesellschaft erschöpft sich nicht in ihrer Panzerung (sonst könnte sie auch gar nicht überleben!), sondern die Arbeitsdemokratie und die individuelle Anständigkeit wirken weiter. Daran wollte Reich anschließen.

Natürlich glaube ich nicht, daß Freud (mal abgesehen von dem „automatischen“ Wissen, das jedem Menschentier eingeboren ist) zwischen primären und sekundären Trieben unterschied. Ich meine nur, daß jede reaktionäre oder pseudorevolutionäre Weltanschauung (z.B. der Katholizismus und der Marxismus) einen wahren Kern haben und daß, wenn man sie (d.h. jede reaktionäre oder pseudorevolutionäre Weltanschauung) zuende denkt, was etwa die Katholiken und Marxisten wohlweißlich nie tun werden, sich diese Weltanschauungen als „LSR“ (LaMettrie, Stirner, Reich) erweisen würden. Das hat Reich in Christusmord aufgezeigt, als er z.B. den Urvater des Katholizismus, Paulus, und dessen Unterscheidung von „Fleisch“ und „Leib“ auseinandernahm. Und „selbst“ Stirner hat im Einzigen und sein Eigentum über hunderte Seiten, in denen er die Religions- und Philosophiegeschichte aufdröselt, das gleiche gemacht.

Eben wegen dieser tiefen Verankerung wird LSR (LaMettrie, Stirner, Reich) die Massen ergreifen. Es hat sie schon ergriffen, bzw. haben es die Menschen schon immer gewußt, da LSR ihre eigentliche Natur ist. Die rätselhafte Intensität der Abwehr gegen LSR ist Beweis genug, daß die Menschen die LSR-Wahrheit intuitiv kennen, denn ansonsten wäre es ihnen egal. Reich hat sich gewundert, daß seine schlimmsten Gegner intuitiv die Konsequenzen seiner Forschungsarbeit gezogen hatten, bevor er, Reich, es selbst getan hat!

LSR ist kein neues Paradigma, oder meinetwegen Superparadigma, das alte Paradigmen ablöst, sondern die präexistente Wahrheit, die nur zeitweise durch eine „Paradigmenwirtschaft“ überlagert wurde (wann, wie und warum hat James DeMeo mit seiner Saharasia-Theorie erklärt). Deshalb kann ich auch das Label „Hegelianismus“ für mich nicht akzeptieren, denn ich sehe in der Abfolge der Paradigmen keine Entwicklung zum besseren. Ich sehe, daß das Leben diese Paradigmenwirtschaft und ihre Pseudo-Entwicklung nicht ewig akzeptieren, sondern immer wieder durchbrechen wird. LaMettrie und Stirner und Reich waren solche Durchbrüche.

Es ist kein Kampf der Paradigmen, sondern etwas grundsätzlich anderes. Angenommen du würdest als einziger auf der Welt LSR vertreten, dann wärst du der eine und einzige wahre Sprecher, der die wahren Intentionen der 8 Milliarden anderen Menschen ausspricht. Und nicht du, sondern die verrückten 8 Milliarden würden sich lächerlich machen. Leninismus im Extrem (meinetwegen kann man das „Hegelianisch“ nennen).

Dr. Batkis und Dr. Reich (Teil 1)

29. Mai 2022

Im folgenden werde ich in drei Teilen Auszüge (der Anfang und das Ende) von Die Sexualrevolution in Rußland von Dr. Batkis, Dozent am sozialhygienischen Institut in Moskau aus dem Jahre 1925 vorstellen. Übersetzung aus dem russischen Manuskript von Stefanie Theilhaber. Das ganze erschien in der Reihe BEITRÄGE ZUM SEXUALPROBLEM herausgegeben von Dr. Felic A. Theilhaber als Heft IV. Es erschienen in dieser Reihe insgesamt 20 Hefte im anarchistischen Verlag Der Syndikalist, Fritz Kater.

Die ersten beiden hier präsentierten Ausschnitte lassen erkennen, warum Reich sich 1927/28 voll Begeisterung dem Kommunismus zuwandte, der letzte Teil kündigt aber bereits die Sexualreaktion des Stalinismus an. (Der Rest des Heftes beschäftigt sich mit dem Kleinklein der Sowjetgesetzgebung insbesondere Ehe- und Abtreibungsrecht.)

Reich kannte diese Broschüre. Jedenfalls erwähnt er sie in Die sexuelle Revolution als „Die sexuelle Revolution in der Sowjetunion“ in Zusammenhang mit der Abtreibungsfrage und der Ehegesetzgebung.

Die Sexualrevolution in Rußland

Die heutige Sexualgesetzgebung der Sowjetrepubliken ist das Werk der Oktoberrevolution. Diese Revolution ist nicht nur als politische Erscheinung, sofern sie dem Proletariat die politische Diktatur sicherte, von Wichtigkeit. Die von ihr ausstrahlenden Umwälzungen erstrecken sich auch auf das übrige Leben.

Ihr Befreiungswerk eröffneten die Führer der Revolution nicht damit, daß sie mutig und entschlossen sich der Fesseln der alten Gesetze und Einrichtungen entledigten und mit einer Proklamation großer und geschwollener Prinzipien den Umsturz einleiteten. Denn leicht stürzen Prinzipien bei einem Zusammenstoß mit dem Alltag, mit der Wirklichkeit, wie Kartenhäuser zusammen. Dafür ist die Geschichte der ersten französischen Revolution das lehrreichste Beispiel, wo Stubenluft und graue Theorie für ihre Einrichtungen und Gesetze Gevatterschaft standen.

Die soziale Gesetzgebung der russischen kommunistischen Revolution will kein Produkt reiner Kathederweisheit sein, sondern stellt einen Niederschlag des Lebens dar. Erst nach der erfolgten Umwälzung, nach dem Triumph der Praxis über die Theorie, trachtete man nach neuen, festen Bestimmungen einer ökonomischen Ordnung. Damit wurden auch Formen für die Einrichtung des Familienlebens und für die Gestaltung der sexuellen Beziehungen gemäß den Nöten und den natürlichen Erfordernissen des Volkes geschaffen.

Die zaristische Gesetzgebung bestand aus mehreren Bänden, in denen grenzenloser Despotismus, Sanktionierung der Willkür, der Gewalttätigkeit und der Versklavung des Weibes die Grundnote abgaben.

Das alte russische Ehe- und Familienrecht war der Abklatsch des allgemeinen Systems, das auch in politischer und ökonomischer Beziehung das System der Bedrückung war.

Die Auffassung und Wahrnehmung der Familie als, einer Privatangelegenheit, die unbegrenzte Machtbefugnis des Hauptes der Familie über alle Familienmitglieder, nach dem Vorbild der römischen Paterfamilie, das Anführen verschiedener unwissenschaftlich kanonischer Gesetze mit religiöser kirchlicher Moral, die die Frau als das „Gefäß des Teufels“ bezeichnen, vollkommene Ignorierung der natürlichen Verhältnisse, – das waren die charakteristischen Seiten dieser zaristischen Gesetzgebung.

„Die Frau muß ihren Mann fürchten“, jene Redensart, die während der Eheschließung in der rechtgläubigen Kirche der Frau mit auf den Lebens- und Eheweg gegeben wurde, war das grundlegende Motiv jener Gesetze. Ähnlich war auch die Lage der Kinder in der Familie. Der Teil der Gesetzgebung, in dem die entsprechenden Gesetze niedergeschrieben waren, trug die charakteristische Überschrift „Über die Macht der Eltern“.

Die uneheliche Mutterschaft, fast ohne Schutz, die Abtreibung mit Zwangsarbeit bestraft, grenzenlose Exploitation der Frauen-und Kinder-Arbeit, die sinnlose Einmischung der Gesetze und Beschnüffelung des persönlichen, intimen sexuellen Lebens unter der Maske der Besorgnis für die öffentliche Sittlichkeit einerseits und andererseits das begünstigende Einwirken auf die Verbreitung der Prostitution zu derselben Zeit – das waren die weiteren Tendenzen dieser Gesetzgebung.

Die breiten Volksmassen, insbesondere die Bauern waren vollkommen unter dem Einfluß der unwissenden Geistlichkeit und der Amtsbehörden.

Die Geistlichkeit lehrte jahrhundertelang die Bauern den Glauben an die teuflische Herkunft des Weibes, das aus der männlichen Hüfte zur Lust des Mannes geschaffen worden ist, und sie nährte den Glauben an die göttliche Autorität dieser wahrhaft teuflischen Gesetze.

Die Arbeiter und die Bauern, ewig unterdrückt, ewig erniedrigt im politischen und ökonomischen Leben, hatten nur eine einzige Möglichkeit, wo sie die Herren sein könnten, ein einziges Feld, wo sie anderen unter der Gönnerschaft von Gott und Gesetz ihre unbegrenzte Macht fühlen lassen konnten. Dieses Feld war ihre eigene Familie, diejenigen, auf die sich ihre Macht erstreckte waren ihre Weiber und ihre Kinder.

Seit langem schon erklärten die vorgeschrittenen Arbeiter und Bauern und die freiheitlichen intelligenten Elemente der russischen Gesellschaft, daß sie Feinde dieser mittelalterlichen Normen seien. Normen, die die freie Entwicklung der Gesellschaft und des Individuums hemmten, Normen, die im dauernden Widerspruch zu der Wirklichkeit standen.

VORBEMERKUNG zu „Orgonomie und Metaphysik (Teil 30)“

5. Februar 2022

Reich schrieb Anfang der 1940er Jahre:

Heute weiß jeder, daß die marxistischen Wirtschaftsanschauungen das Denken der modernen Menschheit mehr oder minder durchdrungen und beeinflußt haben (…). Begriffe wie „Klasse“, „Profit“, „Ausbeutung“, „Klassenkampf“, „Ware“ und „Mehrwert“ sind menschliches Allgemeingut geworden. Es gibt dagegen heute keine Partei, die als Erbin und lebendige Vertreterin des wissenschaftlichen Guts des Marxismus gelten kann, wenn es um soziologische Entwicklungstatsachen und nicht um Schlagworte geht, die sich mit dem Inhalt nicht mehr decken. (Die Massenpsychologie des Faschismus, Fischer TB, S. 21)

Wenn man das oberflächlich liest, sieht es so aus, als würde keine Partei etwa die Mehrwerttheorie korrekt vertreten. Reich geht es aber zunächst einmal um etwas ganz anderes:

Die marxistischen Parteien in Europa versagten und gingen unter (…), weil sie den Faschismus des 20. Jahrhunderts, eine grundsätzlich neue Erscheinung, mit Begriffen zu fassen versuchten, die dem 19. Jahrhundert entsprechen. Sie gingen als soziale Organisationen unter, weil sie es versäumten, die lebendigen Entwicklungsmöglichkeiten, die jeder wissenschaftlichen Theorie anhaften, lebendig zu erhalten und fortzuentwickeln. (ebd.)

Diese Fortentwicklung fände sich in Reichs Sexualökonomie und politischen Psychologie, die sich um die charakterstrukturelle Freiheitsunfähigkeit, die „Naturwidrigkeit“ der Massen drehen, und in seinem Konzept der Arbeitsdemokratie, die die Ökonomie in der Biologie fundiert: die natürliche Organisation der Arbeit.

Eine postkapitalistische Gesellschaft sei erst möglich, wenn alle arbeitenden Menschen, nicht nur „das Proletariat“ im engeren Sinne, charakterstrukturell fähig sind, die Produktionsprozesse eigenständig zu organisieren.

Dies ist der wesentlichste soziologische Grund, weshalb sich die Privatwirtschaft des 19. Jahrhunderts überall immer mehr in eine staatskapitalistische Planungswirtschaft verwandelt. Es muß klar ausgesprochen werden, daß es auch in Sowjetrußland keinen Staatssozialismus, sondern einen strengen Staatskapitalismus gibt; dies im streng Marxschen Sinne. Der gesellschaftliche Zustand „Kapitalismus“ ist nach Marx, nicht, wie die Vulgärmarxisten glauben, durch das Vorhandensein individueller Kapitalisten, sondern durch das Vorhandensein der spezifisch „kapitalistischen Produktionsweise“ gegeben. Also durch Warenwirtschaft anstelle von „Gebrauchswirtschaft“, durch Lohnarbeit der Menschenmassen und durch Mehrwertproduktion, gleichgültig ob dieser Mehrwert dem Staat [, der] über der Gesellschaft [steht], oder individuellen Kapitalisten durch private Aneignung der gesellschaftlichen Produktion zugute kommt. In diesem streng Marxschen Sinne besteht aber in Rußland das kapitalistische System fort. Und es wird fortbestehen, solange die Menschenmassen irrational verseucht und autoritätssüchtig sein werden, wie sie jetzt sind. (ebd., S. 25)

Paul Mathews: Besprechung THE INVASION OF COMPULSORY SEX-MORALITY von Wilhelm Reich

16. Dezember 2021

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Besprechung THE INVASION OF COMPULSORY SEX-MORALITY von Wilhelm Reich

Der linke Reich: Die Schwarzen haben Amerika aufgebaut, die Türken Deutschland wiederaufgebaut und den Arbeitern sollte das gehören, was sie produziert haben

13. November 2021

Reich ging es stets, wie eine Kapitelüberschrift in Was ist Klassenbewußtsein? lautet, um die „Inbesitznahme des eigenen Besitzes“. In Amerika fragte er sich, warum die Arbeiter nicht selbst die Herrschaft über die Produktionsmittel übernehmen, was über das Aktienrecht durchaus möglich gewesen wäre. Er schrieb das ihrer „Freiheitsunfähigkeit“ zu, ihrer biophysischen Panzerung, die sie zum „Sitzen“ zwingt. Zwanzig Jahre zuvor hatte er dies noch ihrem mangelnden „Bewußtsein“ zugeschrieben, also einer weit einfacher zu handhabenden Störung. Davon abgesehen hat er seine Meinung aber nie grundlegend geändert. So schrieb er 1934:

Es ist klar, daß es keine Führung je geben kann, die alles überblicken und dirigieren könnte, was das gesellschaftliche Leben an zu bewältigenden Problemen und Aufgaben hervorbringt. Das bringt nur die bürgerliche Diktatur zustande, weil sie die Bedürfnisse der Massen nicht in Rechnung stellt, weil sie gerade auf der scheinbaren Bedürfnislosigkeit der Masse und auf deren politischer Stumpfheit ruht. Im heutigen kapitalistischen System ist die Arbeit längst vergesellschaftet, nur die Aneignung der Produkte ist eine private des Unternehmers.
Die soziale Revolution will etwa die Großbetriebe sozialisieren, das heißt, sie der Selbstverwaltung der Arbeiter dieser Betriebe übergeben. Wir wissen wie schwer die Sowjetunion im Anfang und auch heute mit dieser Selbstverwaltung zu ringen hat. Die revolutionäre Arbeit in den Betrieben kann nur erfolgreich sein, wenn sie das Interesse des Arbeiters für den Betrieb weckt, als sachliches Interesse an der Produktion, und an diesem Interesse ansetzt. Der Arbeiter hat aber kein Interesse am Betrieb als solchem, schon gar nicht am Betrieb in seiner heutigen Form. Ihn revolutionäres Interesse am Betrieb schon heute zu gewinnen, muß er diesen sich schon jetzt im Kapitalismus als ihm selbst gehörig zunächst vorstellen. In den Belegschaften muß das Bewußtsein geweckt werden, daß der Betrieb und seine Führung auf Grund ihrer Arbeit ihnen und nur ihnen zusteht; daß dieses Recht, das derzeit der Kapitalist für sich in Anspruch nimmt, mit vielen Pflichten verbunden ist, daß man über Betriebslenkung, Betriebsorganisation etc. Bescheid wissen muß, wenn man sein eigentlicher Herr ist. Es muß klar in der Propaganda zum Ausdruck kommen, daß der eigentliche Herr des Betriebes nicht der gegenwärtige Besitzer des Kapitals und der Produktionsmittel, sondern die Arbeiterschaft ist. Es ist massenpsychologisch ein großer Unterschied, ob wir sagen: „Wir enteignen den Großkapitalisten“, oder ob wir sagen: „Wir nehmen unser Eigentum in unseren rechtmäßigen Besitz“. Im ersten Falle reagiert der durchschnittliche unpolitische oder politisch verbildete Industriearbeiter auf die Enteignungsparole mit einem Schuldgefühl und einer Hemmung, als ob er sich fremden Besitz aneignete. Im zweiten Falle wird er sich seiner, auf Grund seiner Arbeit, gesetzmäßigen Eigentümerschaft bewußt, und die bürgerliche Ideologie von der „Unantastbarkeit des Privateigentums“ an den Produktionsmitteln verliert ihre Gewalt über die Massen. Denn nicht, daß die herrschende Klasse eine derartige Ideologie verbreitet und verteidigt, ist das Problem, sondern daß und weshalb die Masse davon ergriffen wird und sie bejaht.
Sollte es eine revolutionäre Organisation nicht Zustandebringen, der Belegschaft der Betriebe beizubringen, daß sie die rechtmäßige Herrin ist und sich schon jetzt um ihre Aufgaben zu kümmern hat? So wie sich die kleinbürgerlichen Kaufmannsfrauen und die Arbeiterinnen in den Sex-Pol-Gruppen darüber eingehend klar zu werden versuchten, wie man eigentlich die Erziehung der Kinder am besten gestalten, die Hausarbeit am praktischsten einrichten könnte, ob es nicht vorteilhafter sei, in einem Wohnblock eine kollektive Küche einzurichten, so können, werden und müssen die Belegschaften schon jetzt die Vorbereitung für die Übernahme der Betriebe treffen. Sie müssen ganz aus Eignem überlegen, sich schulen, verstehen, was alles notwendig ist und wie es am besten einzurichten wäre. (…) Der realen Übernahme der Macht in den Betrieben durch die Belegschaften muß die ideelle Übernahme der Macht durch konkrete Vorbereitung vorangehen. (…) Dies und nur dies heißt „Weckung des Klassenbewußtseins“. Die revolutionäre Parteiführung hat keine andere Aufgabe und kann keine andere haben, als diesen Vorstufen der revolutionären sozialen Demokratie nach der Machtergreifung zur restlosen Klarheit zu verhelfen, die Vorbereitungen zu lenken, mit dem größeren Wissen nachzuhelfen. Derart in die konkrete Arbeit einbezogen, wird jeder Arbeiter sich als eigentlicher Herr des Betriebs fühlen und den Unternehmer nicht mehr als Lohngeber, sondern als Ausbeuter seiner Arbeitskraft empfinden. (…) Er wird kämpfen für eigene Interessen, mehr, er wird lendenlahmen Führungen den Streik aufzwingen und sie beseitigen, wenn sie versagen. Die revolutionäre Propaganda war im wesentlichen nur eine negative Kritik; sie muß es lernen, außerdem aufbauend, vorbereitend, positiv zu sein. (Was ist Klassenbewußtsein? S. 63f)

Es ist offensichtlich, daß bereits angesichts dieser Aussagen Reichs der später im Rahmen des Konzepts „Arbeitsdemokratie“ geprägter Begriff „Fachbewußtsein“ weitaus passender ist, als der Begriff „Klassenbewußtsein“. Was sich bei Reich vollends grundlegend geändert hatte, ist die Stellung zum „Klassenkampf“.

Die Linke heute, Faschisten der allerübelsten Sorte, versuchen ständig das Ressentiment „der Unterdrückten“ zu wecken, etwa indem sie behaupten, Amerika wären von den Schwarzen und Deutschland von den Türken aufgebaut worden. Bereits Mitte der 1940er Jahre hielt Reich diesem Propagandatopos entgegen:

Nichts bist du, kleiner Mann, gar nichts! Nicht du hast diese Zivilisation erbaut, sondern einige wenige deiner anständigen Herren. Du weißt ja gar nicht, was du baust, wenn du am Baugerüst stehst. Und wenn ich oder sonstwer dir sagte: „Nimm Verantwortung für den Bau“, schimpfst du mich „Verräter am Proletariat“ und rennst hinter dem Vater aller Proletarier her, der solches nicht sagt. (Rede an den kleinen Mann, S. 85)

Reich hat nichts, rein gar nichts mit den „Klassenkämpfern“ seiner Zeit, den damaligen „Befreiern des Proletariats“ zu tun, da das ganze auf Lüge und kitschiger, moralistischer Propaganda beruhte.

Anfang der 1930er Jahre beurteilte Reich das politische Geschehen nach der Fragestellung, ob der jeweilige Vorgang in „Richtung der reaktionären oder der revolutionären Entwicklung“ weist und was dabei „in den verschiedenen Schichten der Masse (vorgeht)“:

Was in ihr ist für und was ist gegen uns? Wie erlebt die breite unpolitische oder verbildete Masse die politischen Ereignisse? Wie erlebt und empfindet die Masse die revolutionäre Bewegung?
Jedes Ereignis ist widerspruchsvoll, enthält Elemente für und gegen die Revolution; Voraussehen ist nur möglich: a) durch Erfassung der Widersprüche, b) durch Aufstellung der möglichen Varianten der Entwicklung, (z.B. reaktionäre und revolutionäre Elemente im Faschismus).
Der gesellschaftliche Prozeß enthält gleichzeitig vorwärtsdrängende und zurückhaltende oder rückwärtsdrängende Kräfte; revolutionäre Arbeit ist das Erfassen beider und das Vorwärtstreiben der revolutionären Tendenzen (z.B. Hitlerjugend: sexuelle Freiheit ist vorwärts, Autoritätsgläubigkeit rückwärtsdrängende Kraft). (Was ist Klassenbewußtsein? S. 66)

Es ist offensichtlich, daß diese Fragen weitaus besser und fruchtbringender in einem vollständig anderen Bezugsrahmen als der Marxistischen „Klassenanalyse“ beantwortet werden können, nämlich in dem Dreischichten-Modell der menschlichen Charakterstruktur, wie Reich es ein Jahrzehnt nach Was ist Klassenbewußtsein? in der Neufassung von Die Massenpsychologie des Faschismus vorstellen sollte.

DIE SITUATIONISTISCHE INTERNATIONALE: Wilhelm Reich kontra die Situationisten (Teil 3)

25. September 2021

von Jim Martin

DIE SITUATIONISTEN

In seinem ausgezeichneten Buch The Assault an Culture: Utopian Currents From Lettrisme to Class War führt Steward Hornes die Ahnenreihe vom Futurismus und Dada zum Surrealismus, Lettrismus, den Situationisten, Mail Art, Punk Rock und Neoismus fort. In dieser Einführung sagt er: „Da ‚Kunst‘ als Kategorie auf die religiösen Ikonen des Mittelalters zurückprojiziert wurde, ist es nicht überraschend, daß jene, die sich dagegen stellen, sich in eine ‚utopische Strömung‘ einfügen, die sie umgekehrt wiederum auf die Ketzerei im Mittelalters zurückführt.“ Obwohl die Situationisten sich schon 1957 zusammenfanden (dem Jahr, in dem Reich im Gefängnis starb), wurden sie erst mit Beginn der studentischen Besetzer-Bewegung in Frankreich Mitte der Sechziger Jahre bekannt. Plötzlich war eine Generation von Jugendlichen, die mit liberalen Hoffnungen hochgepeppelt worden waren, bereit, dieses Menü wieder von sich zu geben. In Städten wie Nanterre, Straßburg und Paris begannen Studenten den gesamten Bereich des modernen Lebens zu hinterfragen; eine einheitliche Kritik, wie sich die Situationisten ausdrückten, ihrer eigenen subjektiven Entfremdung zu entwickeln. (Reich würde es Kontaktlosigkeit nennen und die Verantwortlichkeit auf die Schultern des Individuums legen, anstatt abstrakte gesellschaftliche Kräfte verantwortlich zu machen.)

„In Frankreich wurde das Marxistische Denken von der Kommunistischen Partei dominiert und es dauerte bis nach der Befreiung, bevor es irgendeinen Versuch einer philosophischen Revision gab. In mancher Hinsicht ähnelte die Debatte jener, die in den Zwanziger Jahre in Deutschland geführt worden war“ (Home). Tatsächlich war Wilhelm Reich Teil dieser Debatten in den Marxistischen Kreisen Deutschlands in den Zwanziger Jahren und ich glaube, er ging mit seinen Überlegungen weiter als die Situationisten 40 Jahre später.

Der Leitstern der Bewegung des 22. Mai an der Universität von Nanterre in Frankreich war Daniel Cohn-Bendit, oder „der Rote Dany“. Er war von der Gesinnung der Pro-Situs* durchdrungen. Die SI kritisierte ihn offen wegen seines spektakulären Auftretens, mit dem er ein Medienstar wurde. Vielleicht waren sie eifersüchtig auf seine Fähigkeit, die Medien besser auszunutzen, als sie es getan hatten. Wie kam der Rote Dany ins Rampenlicht? Tom Vague beschreibt es in der Zeitschrift Vague (#16-17) wie folgt:

„Der erste größere Vorfall ereignete sich, als der Sportminister kam, um ein neues Schwimmbecken einzuweihen. Es war eine vandalistische Orgie für die Eröffnungsfeier geplant und die Route des Ministers war mit Graffiti vollgesprüht. Aber nichts passierte, bis der Minister gerade gehen wollte. In diesem Augenblick, so heißt es, trat ein rothaariger Jugendlicher aus der Menge heraus und rief:

‚Minister, Sie haben einen 600 Seiten-Bericht über die französische Jugend erstellt, aber es fällt dort kein einziges Wort über unsere sexuellen Probleme. Warum nicht?‘

Der Minister antwortete: ‚Ich bin durchaus bereit, diese Sache mit verantwortungsvollen ‚Leuten zu besprechen, aber Sie gehören sicherlich nicht dazu. Ich selber ziehe Sport der Sexualerziehung vor. Wenn Sie sexuelle Probleme haben, schlage ich Ihnen vor, daß Sie ins Schwimmbecken springen.‘

Darauf erwiderte Dany Cohn-Bendit, dies habe auch die Hitler-Jugend gesagt, woraufhin er sofort in die Schlagzeilen und die Akten der Geheimpolizei kam (wenn er in den letzteren nicht schon war).“

Direkte Hinweise auf Reich tauchen in den situationistischen Schriften nur selten und verstreut auf, obwohl es zahlreiche Parallelen zwischen ihren politischen Philosophien gibt. Es lohnt sich, den besten situationistischen Autor, Raoul Vaneigem, und seine Verweise auf Reich in seinem Klassiker The Revolution of Everyday Life zu betrachten.

„Die Suche nach der wahren Natur, nach einem natürlichen Leben, das nichts mit der Lüge der gesellschaftlichen Ideologie zu tun hat, ist eine der rührendsten Naivitäten eines guten Teils des revolutionären Proletariats, ganz zu schweigen von den Anarchisten und solchen bemerkenswerten Figuren wie dem jungen Wilhelm Reich.“

Man beachte die Hervorhebung des jungen Reich. Die Europäer haben die spätere Arbeit Reichs nie verstanden, insbesondere seinen Antikollektivismus und seine Orgonomie und haben sie vielleicht nur aus zweiter Hand kennengelernt.

„Die Ordnung der Dinge ist krank: dies wollen unsere Führer auf alle Kosten verbergen. In einer schönen Passage aus Die Funktion des Orgasmus erzählt Wilhelm Reich, wie nach langen Monaten psychoanalytischer Behandlung er es schaffte, eine junge Wiener Arbeiterin zu heilen. Sie litt unter Depressionen, die durch die Umstände ihres Lebens und ihrer Arbeit hervorgerufen worden waren. Als sie gesundete, schickte Reich sie wieder nach Hause. Vierzehn Tage später brachte sie sich um. Reichs unbeugsame Ehrlichkeit verurteilte ihn, wie jedermann weiß, zum Ausschluß vom psychoanalytischen Establishment, zu Isolation, Wahn und Tod im Gefängnis: die Zweideutigkeit unserer Neodämonologen kann man nicht ohne Angst vor Bestrafung bloßstellen.“

Soweit ich es bestimmen kann, zumindest nach der amerikanischen Ausgabe, taucht diese Passage in Die Funktion des Orgasmus nicht auf. Home hat ja darauf hingewiesen, daß es die Situationisten liebten, ihre eigenen Sichtweisen auf andere Leute zu projizieren.

„Es gibt keine Lust, die nicht nach ihrem eigenen Zusammenhalt strebt. Ihre Unterbrechung, das Ausbleiben von Befriedigung, verursacht eine Störung ähnlich der Reichianischen ‚Stauung‘. Die Unterdrückung durch die Macht hält Menschen in einem Zustand dauernder Krise gefangen. So ist die Funktion der Lust, als auch der Angst, die durch Abwesenheit von Lust hervorgerufen wird, im Wesentlichen eine gesellschaftliche Funktion. Das Erotische ist die Entwicklung der zu einer Einheit verschmelzenden Leidenschaften, ein Spiel von Einheit und Vielgestaltigkeit, ohne das es einen revolutionären Zusammenhalt nicht geben kann (Langeweile ist immer konterrevolutionär).“

Langeweile mag konterrevolutionär sein, aber sie ist eine Funktion des Grades an psychischem Kontakt, über den jeder einzelne Mensch verfügt. War es vielleicht mein eigener Mangel an psychischem Kontakt, der mich anfangs zu den Situationisten hinzog?

Um die Wurzeln des situationistischen Projekts zu untersuchen; muß man sehen, daß es die Tendenz repräsentierte, psychoanalytische Ideen mit dem Dialektischen Materialismus zu verbinden. So wie die Surrealisten Freudianische Traumanalyse in einen bolschewistischen Putsch der Künste einbrachten, hatten die Situs ihre Psychogeographie und ihr Entfremdungsbegriff, der vom Standpunkt subjektiven Verlangens ausging.

„Wilhelm Reich führt den Großteil des neurotischen Verhaltens auf Störungen des Orgasmus zurück, auf die, wie er es nannte, ‚orgastische Impotenz‘. Er behauptet, daß Angst durch die Unfähigkeit hervorgerufen wird, einen vollständigen Orgasmus zu erleben; durch eine sexuelle Entladung, die es nicht schafft, die gesamte durch vorangehende sexuelle Aktivitäten freigesetzte Erregung zu beseitigen. Die angesammelte und nicht verbrauchte Energie verteilt sich und verwandelt sich in Angst. Angst wiederum behindert die orgastische Potenz noch weiter.

Aber das Problem der Spannungen und ihrer Beseitigung gibt es nicht nur auf der Ebene der Sexualität. Es kennzeichnet alle menschlichen Beziehungen. Und obwohl Reich dies wahrnahm, unterließ er es, nachdrücklich genug darauf hinzuweisen, daß die gegenwärtige soziale Krise auch eine Krise orgastischer Art ist. Wenn es stimmt, daß ‚die Energiequelle der Neurose, in der Differenz zwischen der Anhäufung und Entladung der Sexualenergie liegt‘, scheint es mir auch so zu sein, daß diese neurotische Energie von der Energieansammlung und -entladung stammt, die durch menschliche Beziehungen in Bewegung gesetzt wird. Vollständiger Genuß ist noch immer im Augenblick der Liebe möglich, aber sobald man versucht, diesen Moment zu verlängern, es im gesellschaftlichen ,Leben selbst auszuleben, kann man nicht dem entgehen, was Reich ‚Stauung‘ nannte. Die Welt der Nichtbefriedigung und Nichterfüllung ist eine Welt ständiger Krise. Wie würde eine Gesellschaft ohne Neurose aussehen? Ein endloses Fest, bei dem die Lust der einzige Maßstab ist.“ (Vaneigem: The Revolution of Everyday Life, S. 196f)

Hier preist Vaneigem Reichs Theorie der orgastischen Potenz: der primäre biologische Impuls ist eine Sehnsucht nach Lust und Gesundheit und wird gesteuert von der Fähigkeit des Organismus, angesammelte Spannung durch den Orgasmus vollständig zu entladen. Reich enttäuscht Vaneigem durch seine Unterlassung, orgastische Lust zu politisieren. Es ist unwahrscheinlich, daß Vaneigem Reichs Buch Menschen im Staat gelesen hat, da es nicht vor 1953 in Englisch vorlag. Reich beschreibt seine Teilhabe am „gesellschaftlichen Irrationalismus in Zentraleuropa“ und zieht genau die Art von Parallele, die Vaneigem vermißt hat, nämlich die zwischen individuellem und kollektivem Verkehr. In einem bemerkenswert eindringlichen und intimen Bericht, vermittelt Reich seine tiefe Überzeugung, daß die Politik bankrott ist. Er verurteilt gleichermaßen den Mystizismus der Rechten wie den Mechanismus der Linken. Er scheint persönlich verletzt zu sein durch die Immobilisierung gesunder Aggression bei der Linken, ihrer Flucht vor dem Leben, ihrer emotionalen Stauung. Ihm schienen die Nazis mehr…direkt zu sein.

* Pro-Situ oder Pro-Situationist war die abschätzige Bezeichnung, die die Situationisten ihren Anhänger gaben; sie brandmarkte passive Vergötterung durch ihre Zuschauer. Doch am Ende wurden nach eigenem Eingeständnis sogar die Situationisten selbst zu Pro-Situs.

nachrichtenbrief203

2. Mai 2021

Buchbesprechung: THE MASS PSYCHOLOGY OF FASCISM (Teil 5)

26. Oktober 2020

von Paul N. Mathews

 

Reich blickte mit Hoffnung auf Amerika, ungeachtet echter Missstände und Ungerechtigkeiten. Aber die Aktivitäten und Verzerrungen der Freiheitskrämer ließen ihn um den Fortbestand Amerikas als Bastion der allmählichen sozialen und sexuellen Revolution fürchten und das versetzte ihn wegen der Säuglinge und Kinder in Sorge.

Das lag daran, dass er deutlich sah, wie wenig die Freiheitskrämer die charakterologischen – bzw. biologischen – Voraussetzungen für die Selbstverwaltung und die Fähigkeit der Massen in dieser Hinsicht verstanden. Die Tendenz, sowohl in Skandinavien als auch in den Vereinigten Staaten, vom Privat- zum Staatskapitalismus überzugehen, hielt er angesichts der bestehenden Charakterstruktur für bedrohlich. Dieser Prozess erschien ihm als der eigentliche Mechanismus zur Schaffung eines faschistischen Staates – wie in Nazi-Deutschland und der Sowjetunion (1, S. 280-284)h. Obwohl er keine große Bewunderung für engstirnige Kapitalisten hatte, setzte Reich sie nicht mit Faschisten gleich, sondern betrachtete sie als Anhänger einer Wirtschaftsphilosophie und -praxis, die in einer gepanzerten Welt zu erwarten sind, genauso wie auch Sozialisten. Für Reich waren die Übel des Staatskapitalismus nicht auf dessen kapitalistische Züge zurückzuführen, sondern auf die Unfähigkeit der Massen, ihr Leben selbst zu verwalten, wodurch immer mehr Macht an Bürokraten verlagert wurde, die sich in Führeri verwandeln (7, 8)j. Der charakterologische bzw. biologische Faktor ist viel tiefer als alle Klassen- oder Wirtschaftsunterschiede und überschreitet alle Grenzen.

Der wesentliche Bestandteil für eine gesunde Gesellschaft ist der Kontakt zum Kern. Hier bot Reich eine höchst sinnvolle Herangehensweise für das menschliche Dilemma an: Arbeitsdemokratie, die die besten Merkmale der kapitalistischen Individualität und des Unternehmertums und der sozialen Kooperationsfähigkeit in sich vereinte, jedoch über beides hinausging durch ihre Betonung freudvoller Arbeit auf der Grundlage genitaler Gesundheit. Ein System ohne willkürliche Klassifikationen von Proletariat und Nichtproletariat, sondern das vielmehr all jene umfasst, die die „lebensnotwendige Arbeit“ als Ausdruck ihrer natürlichen Fähigkeit zu Arbeit, Liebe und Wissen leisten.

 

Anmerkungen des Übersetzers

h Massenpsychologie, ebenda, S. 251-255.

Zitate: „So grundverschieden auch die staatliche Kontrolle der sozialen Produktion und Konsumtion in Rußland, Deutschland, Skandinavien und den Vereinigten Staaten aufgrund der historischen Entwicklung ausfiel, es gab dennoch einen gemeinsamen Nenner: die Unfähigkeit der Menschenmassen zur Selbstverwaltung der Gesellschaft, und aus dieser gemeinsamen Grundlage der staatskapitalistischen Entwicklung folgt logisch und einfach die Gefahr der Entwicklung autoritärer Diktaturen. (…) Es gibt in Wirklichkeit, gesehen von der Struktur und Ideologie der arbeitenden Menschenmassen, keine einzige konkrete Garantie dafür, daß sich aus der staatskapitalistischen Richtung keine Diktatur entwickelt.“

„Der deutsche und der russische Staatsapparat waren aus alten Despotismen hervorgegangen. Das charakterliche Untertanentum der Menschenmassen war daher in Deutschland und Rußland außerordentlich stark. So führte in beiden Fällen die Revolution mit der Treffsicherheit irrationaler Logik zu neuem Despotismus. Verglichen damit ging der amerikanische Staatsapparat aus Menschengruppen hervor, die sich dem europäischen und asiatischen Despotismus durch die Flucht in eine jungfräuliche, von aktuell wirksamen Traditionen freie Gegend entzogen hatten. (…) Wenn wir den Tatsachen gerecht sein wollen, dann müssen wir, ob wir es wollen und mögen oder nicht, feststellen, daß die Diktatoren Europas, die sich auf Millionenmassen stützten, durchwegs aus den unterdrückten Volksschichten stammen.“

„Der Einfluß der Charakterstruktur der Menschenmasse ist entscheidend für die Staatsform, gleichgültig ob sie sich durch Passivität oder durch Aktivität ausdrückt.“

i Im Original steht: führers

j Hayek: Der Weg zur Knechtschaft. Olzog, München 2009. (Erstübersetzung: Eugen Rentsch, Erlenbach-Zürich 1945.)
Burnham: Das Regime der Manager. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1951

 

Literatur

1. Reich, W.: The Mass Psychology of Fascism. Translated by Theodore P. Wolfe, M.D. New York: Orgone Institute Press, 1946.
7. Hayek, F. A.: The Road to Serfdom. Chicago: University of Chicago Press, 1962.
8. Burnham, J.: The Managerial Revolution. New York: John Day Co., 1941.

 

Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Charles Konia.
Journal of Orgonomy, Jahrgang 5 (1971), Nr. 1, S. 107-112.
Übersetzt von Robert (Berlin)

Buchrezension: THE INVASION OF COMPULSORY SEX-MORALITY von Wilhelm Reich (Teil 1)

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