Posts Tagged ‘Borderliner’

Warum ausschließlich das AMERICAN COLLEGE OF ORGONOMY? (Teil 4)

14. September 2025

Jedem, der die orgonomische Literatur verfolgt, wird über kurz oder lang auffallen, daß die psychiatrische Nosologie der medizinischen Orgonomen eine vollkommen andere ist als die der normalen Psychiater. Wo findet sich in der Orgonomie etwa der „Borderliner“ oder gar die „multiple Persönlichkeit“? Patienten haben in der Psychiatrie und Psychotherapie „histrionische Persönlichkeitszüge“ oder „anankastische Persönlichkeitszüge“, aber von einem „hysterischen Charakter“ oder „Zwangscharakter“ ist nie die Rede. Leute können unter einer „bipolaren Störung mit anakastischen Persönlichkeitszügen“ leiden. Fällt so etwas in der Orgonomie ganz unter den Tisch?

Peter A. Crist beschäftigt sich u.a. mit derlei Fragen in „Nature, Character, and Personality. Part 1: Introduction and General Principles“ (The Journal of Orgonomy, Vol. 27, No. 1, Spring/Summer 1993, S. 48-60).

Demnach entsprechen „Persönlichkeitsstörungen“ der Unfähigkeit der äußeren Schicht der menschlichen Charakterstruktur, also der „sozialen Fassade“, den Ausdruck der zweiten Schicht, d.h. der „sekundären Schicht“, in Schach zu halten. Entsprechend dreht sich in der modernen Psychiatrie alles um soziale Normen. Das was gesellschaftlich stört, soll eingeschränkt werden. Wenn die „soziale Fassade“ die sekundären Triebe nicht mehr kontrollieren kann, greift die soziale Kontrolle in Gestalt des Psychiaters ein.

Orgonomische Psychiater beschäftigen sich mit einem ganz anderen Problem, dem „Charakter“. Hier geht es um die Fähigkeit der zweiten, d.h. der mittleren Schicht die Impulse, die aus dem bioenergetischen Kern nach außen Drängen, zu binden oder zu entladen. Der triebgehemmte Charakter ist entsprechend wie tot, er besteht fast nur aus „Energiebindung“, man denke etwa an den Zwangscharakter. Der triebhafte Charakter hingegen ist „Opfer seiner Triebe“, wird von wilden Ausbrüchen und Süchten getrieben. Der genitale Charakter jedoch kann sich je nach Situation angemessen zurückhalten oder sich vollkommen gehenlassen. Entsprechend beruht die Charaktereinteilung nicht auf sozialen, sondern biologischen Normen.

Das ganze kann man in etwa wie folgt beschreiben:

Die gängige Psychiatrie wird vom roten Pfeil beschrieben, die orgonomische vom blauen.

Diese Zusammenhänge sind auch der Grund warum ich gestern so sehr über den Begriff des „okularen Charakters“ aufgeregt habe. Mit solchen Begrifflichkeiten (die man in diversen „Reichianischen“ Therapieschulen zuhauf findet) wird die oben beschriebene Unterscheidung hoffnungslos zugekleistert und das Resultat kann nur sein schlechte gängige Psychiatrie plus schlechte orgonomische Psychiatrie, also weniger als gar nichts!

Die multiple Persönlichkeit ist eine Störung, bei der es zu einer Fragmentierung der sozialen Fassade in voneinander isolierten „Persönlichkeiten“ gekommen ist, die jedoch jeweils auf den zugrundliegenden einheitlichen Charakter zurückgeführt werden können. Die Störungen der sozialen Fassade, die den Borderliner kennzeichnen, werden in der gängigen psychiatrischen Literatur beschrieben: ständiger Wechsel von Idealisierung und Entwertung in Beziehungen, überstarke Angst vor Verlassenwerden, wankendes Selbstbild, selbstzerstörerisches Verhalten, innere Leere, extreme Stimmungsschwankungen, aufbrausendes, paranoides Temperament, etc. Die histrionische Persönlichkeit präsentiert ständig eine „dramatische Fassade“. Alle diese Persönlichkeitsstörungen können einzeln oder in Kombination bei den unterschiedlichsten Charakterstrukturen auftreten.

Das Wesen des Orgonomischen Funktionalismus wird sehr schön deutlich, wenn man Crists Erläuterungen von vor 20 Jahren mit seinem einem Brief an die Freunde des American College of Orgonomy von 2012 vergleicht. Obwohl das Thema ein ganz anderes ist, die Renovierung des „Hauptquartiers“ der Orgonomie, geht es doch um die gleichen bioenergetischen Überlegungen über die Fassade („Persönlichkeit“) und den Charakter.

Warum ausschließlich das AMERICAN COLLEGE OF ORGONOMY? (Teil 3)

13. September 2025

Die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten „ICD-10“ ist die amtliche Klassifikation zur Verschlüsselung von Diagnosen in der ambulanten und stationären Versorgung in Deutschland. In den USA ist es der entsprechende Diagnose-Schlüssel „DSM-5“ (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders). Beispielsweise könnten Diagnosen wie dem „Apathie-Syndrom“ oder der Ausweitung der Autismus-Kriterien ungerechtfertigterweise Abermillionen Menschen zu Patienten machen. Es wären überlebte, nicht zukunftstaugliche Klassifikationssysteme.

Das ganze wird dadurch flankiert, daß Perversionen zunehmend „entpathologisiert“ werden, während ganz normale Gefühlsäußerungen als Pathologie abqualifiziert werden. Im DSM-5 wurde eine „oppositional defiant disorder“ (oppositionelle Trotzstörung) und ein „apathy syndrome“ (Apathiesyndrom) erfunden, wodurch jedes aufmüpfige Kind und jeder erwachsene Exzentriker, Romantiker oder auch jeder Trauernde zum Fall für die Psychiatrie erklärt werden kann, während auf der anderen Seite Serienvergewaltiger und ähnliche Sexualverbrecher beispielsweise unter die harmlose Rubrik „paraphilic coercive disorder” (mit Zwangsgewalt verbundene paraphile Störung) fallen. Bedauernswerte Kranke, genauso wie jeder andere auch, der nicht ganz „normal“ ist. Alle denkbaren Unterschiede werden verwischt: die kleinsten Abweichungen vom „Homo normalis“ werden pathologisiert und die schlimmsten Perversitäten werden normalisiert oder gar als „gesund“ hingestellt.

Wir erleben hier die Selbstaufhebung der Psychiatrie als Wissenschaft. Die orgonomische Medizin hat gut daran getan in Sachen Nosologie der Charakteranalyse Reichs treu zu bleiben.

Es begann 1926 als Reich den Begriff „phallisch-narzißtischer Charakter“ prägte und zwischen den hysterischen Charakter und den Zwangscharakter plazierte, die zuvor zumindest in den Grundzügen von Freud und Abraham beschrieben worden waren. Aus dieser klassischen Trias hat Elsworth F. Baker dann eine an seiner klinischen Erfahrung als Orgonom ausgerichtete Klassifikation der psychischen Biopathien erarbeitet. Ein knapper Überblick findet sich auf der Weltseite des italienischen Orgonomen Vittorio Nicola. Zu Reichs Lebzeiten leitete Baker die Diagnostic Clinic in New York, die alle an einer Orgontherapie interessierten durchliefen, um von Baker an die für den jeweiligen Fall geeigneten Orgonomen überwiesen zu werden.

Es hat Versuche gegeben, die bio-psychiatrische Nosologie an das DSM anzupassen. Insbesondere wurde der „okulare Charakter“ eingeführt, um frühe Persönlichkeitsstörungen wie Autismus, Borderliner, etc. in eine neue angeblich „orgonomische“ Kategorie zusammenzufassen, die man vom schizophrenen Charakter separieren müsse. Wie absurd diese Herangehensweise ist, zeigt sich allein schon daran, daß sich mittlerweile abzeichnet, daß borderline und bipolar weitgehend identisch sind, was für vollständige Konfusion sorgen würde, hätte die Orgonomie den Unsinn mit dem „okularen Charakter“ als Neuerung akzeptiert. Tatsächlich unterscheiden die Schüler von Bakers Nachfolger, Charles Konia, heute den „exzitatorischen“ (nicht zur Psychose neigenden) vom „perzeptatorischen“ (zur Psychose neigenden) Schizophrenen.

Orgonomisch wird die Diagnose danach gestellt, welches erogene Segment, d.h. welcher Aspekt der Beziehung zur Welt, primär gestört ist. Je schwerer diese Störung ist, desto leichter fällt die Diagnose, die bei weniger ausgeprägten Fällen manchmal erst im Verlauf der Therapie definitiv möglich ist. Man kann deshalb nicht zwischen Schizophrenen und dem „okularen Charakter“ unterscheiden, also einem Charakter mit einer stärkeren und einem mit einer schwächeren okularen Panzerung.

Der in offener Anlehnung an das DMS neu kreierte „okulare Charakter“ ist dermaßen unspezifisch, daß z.B. auch jeder angehende Orgonom darunter fallen würde, denn „okulare Charaktere“ neigten zum „Gefühl, allein, mißverstanden und ‚anders‘ zu sein“.

Lose Assoziation, Inkohärenz, allzu abstrakte oder allzu konkrete Sprache, Neologismen und Verlust von Wortbedeutungen weisen auf eine „formale Denkstörung“ hin. (David Schwendeman: Lebensenergie. Zeitschrift für Orgonomie, Bd. 5, Sommer 1995, Waldbrunn)

Diagnose wird hier zu kaum mehr als Symptombeschreibung und ist damit ohne Wert. Der Wert einer bio-psychiatrischen Diagnose besteht darin, das zukünftige Verhalten oder, besser gesagt, die „Verhaltenstendenz“ vorherzusagen. Die bio-psychiatrische Diagnose beruht auf der Panzerstruktur des Patienten – etwas, zu dem konventionelle Psychiater und Psychotherapeuten gar keinen Zugang haben.

Wie Baker gearbeitet hat, wird anhand des Protokolls „In Seminar with Dr. Elsworth Baker“ (The Journal of Orgonomy, Vol. 25, No. 1, May 1991, S. 57-67) deutlich. In dem hier dokumentierten Seminar trägt einer der Schüler einen Fall vor, den er als „chronisch-depressiven Charakter“ einstuft wegen seiner phallischen Züge und seines sehr geringen Selbstwertgefühls. So kann die Diskussion immer weitergehen, d.h. Symptome und generelle Eindrücke werden gegeneinander abgewogen, wie es die angehenden Orgonomen zuvor bei der Besprechung von Fallgeschichten in ihrer klassischen psychiatrischen Ausbildung gelernt hatten. Bis schließlich Baker eingreift:

Der Patient könne unmöglich ein chronisch-depressiver Charakter sein wegen seiner sehr schwach ausgeprägten Panzerung. Seine Grübelsucht und seine Depersonalisationszustände würden auf eine sehr viel stärkere okulare Panzerung verweisen, als sie vom äußeren Anschein her evident wird. Er könne schon allein deshalb kein chronisch-depressiver Charakter sein, weil sein Kiefer außergewöhnlich wenig gepanzert ist, dafür aber sein Halspanzer um so stärker ausgeprägt ist, während seine Brust wieder weitgehend ungepanzert ist. Hinzu komme, daß der Patient das Gefühl hat, seine Beine würden nicht zu ihm gehören. Die Struktur seines Panzers und seine bioenergetische Selbstempfindung verwiesen eindeutig auf die Diagnose „schizophrener Charakter“.

Ohne die Entdeckung der Panzers und der Orgonenergie schwebt die Psychiatrie haltlos in der Luft. Leute erhalten alle möglichen Diagnosen, die kaum mehr sind als eine Beschreibung der gerade im Vordergrund stehenden Symptome. Das ist so, weil die Psychiater bei sogenannten „psychischen Erkrankungen“ nicht wissen, mit welchen Kräften sie es zu tun haben. Es geht um Emotionen, die auf spezifische und nachvollziehbare Weise blockiert werden, so daß eine korrekte bio-psychiatrische Diagnose zur richtigen Behandlung führt. Das ist so wie in jedem anderen Bereich der Medizin auch. Hingegen sind „Diagnosen“ wie „Apathie-Syndrom“ nichtssagend („der Patient ist apathisch“) und imgrunde gemeingefährliche Quacksalberei.

David Holbrook, M.D.: Die „guten Menschen“ und die „schlechten Menschen“ / „Borderline-Politische Störung“: die neun Kriterien der Borderline-Persönlichkeitsstörung angepaßt zur Beschreibung der Soziopolitik

28. Mai 2025

DAVID HOLBROOK, M.D.:

Die „guten Menschen“ und die „schlechten Menschen“

„Borderline-Politische Störung“: die neun Kriterien der Borderline-Persönlichkeitsstörung angepaßt zur Beschreibung der Soziopolitik

Was ist mit den jungen Leuten los? (Teil 3)

25. Februar 2025

Wie soll man heutzutage mit Aussagen wie der folgenden aus Der sexuelle Kampf der Jugend (1932) umgehen, was damit anfangen?

Vor der Revolution steht vor der klassenbewußten kommunistischen Jugend die Aufgabe, die Masse aller Jugendlichen für die Revolution zu mobilisieren. In dieser Phase gehört die sexuelle Frage der Jugend hinein in die Gesamtfront der proletarischen Bewegung. Vor der Revolution können wir der Masse der Jugendlichen in sexueller Hinsicht nicht viel helfen, aber wir müssen diese Frage politisieren, die geheime oder offene sexuelle Rebellion der Jugend in revolutionären Kampf gegen die kapitalistische Gesellschaftsordnung verwandeln.

Spätestens nach 1945, als er im Vorwort von Die Massenpsychologie des Faschismus politische Einstellungen bioenergetisch erklärte, d.h. mit dem Dreischichen-Modell der menschlichen Panzerung, kann es für Reich keine politische Lösung der menschlichen Misere geben. Aus dem „Klassenbewußtsein“ wurde im Rahmen der Ausformulierung des Konzepts der Arbeitsdemokratie das „Fachbewußtsein“, d.h. ein Bewußtsein, daß sich explizit gegen die stets fachfremde Politik richtet.

Heute muß es noch immer um Bewußtmachung der Massen gehen, das Schaffen von einem „richtigen Bewußtsein“, aber nicht im Sinne politischer Agitation, sondern: die Politik muß als Äußerungsform blockierter Bioenergie entlarvt werden und es muß ein Bewußtsein für die Emotionelle Pest (etwa in Gestalt der Grünen) geschaffen werden und wie diese die Grundlagen unseres Lebens, die Arbeitsdemokratie untergräbt.

Wie das ganze mit der heutigen anti-autoritären Gesellschaft zusammenhängt wird anhand des Absatzes klar, der dem oben zitierten aus Der sexuelle Kampf der Jugend folgt:

In den Zeiten der Revolution, wo alles durcheinandergeworfen wird, alles Morsche versinkt, wo wir auf den Trümmern einer korrupten, ausbeuterischen, grausamen und verfaulten Gesellschaftsordnung stehen, gilt es, nicht zu moralisieren, wenn sich die sexuellen Widersprüche in der Jugend zunächst steigern; da gilt es, die sexuelle Revolution im Zusammenhang mit der geschichtlichen Umwälzung verstehen und sich auf die Seite der Jugend stellen, ihr helfen, soweit es möglich ist, aber im übrigen wissen, daß es Übergangszeit ist.

Reich hat hier vorausgesehen, was sich 30 Jahre später, also zu Anfang der 1960er Jahre zugetragen hat: der komplette Zerfall der autoritären Gesellschaft und der Beginn einer Periode des Chaos. Wer auch nur ansatzweise etwas tiefgehender mit der „heutigen Jugend“ zu tun hat, wird es wie mir gehen: Ich frage mich immer wieder, ob es denn nur noch Borderliner gibt. Oder etwa: es gibt meiner Erfahrung nach schlichtweg kein Treppenhaus mehr, in dem es nicht nach Cannabis riecht.

Aber wie Reich fortfährt:

Vor den Wirren dieser Übergangszeit zurückschrecken, vor der „tollgewordenen Jugend“ Angst bekommen und in bürgerliche Ideologien zurückfallen, in Asketentum und Moralistentum, die zu beseitigen mit eine Aufgabe der proletarischen Revolution ist, bedeutet hinter den geschichtlichen Ereignissen zurückbleiben und sich gegen die Entwicklung stemmen.

Charles Konia hat all die hier angeschnittenen Punkte in seinem Buch The Emotional Plague (2008) eingehend behandelt, insbesondere aber auch, daß es kein Zurück zu den vermeintlich „guten alten Zeiten“ gibt. Die einst in der autoritären Gesellschaft komplett verpanzerte Lebensenergie ist in Bewegung geraten, ist außer Rand und Band, und keine Macht der Welt wird sie wieder bändigen können. Alle konservativen Träume von der guten alten Zeit sind Schall und Rauch. Was tatsächlich fehlt, ist das Bewußtsein, daß es eine Übergangszeit ist, und eine Vorstellung davon, was eigentlich das Ziel dieses Übergangs ist. Wir können immer so weitermachen, bis es zum kompletten Kollaps kommt, oder wir können uns einer genitalen Welt zumindest annähern.

Es ist so ähnlich wie in einer Orgontherapie: ein „Reichianischer“ Therapeut wird die Energie in Bewegung bringen und für jede Menge Scheinexpansion und nihilistisches Chaos sorgen, während ein Orgontherapeut, selbst wenn er den Patienten nicht orgastisch potent macht, zumindest eine klare Vorstellung von diesem Ziel hat und dieses vermittelt, den Patienten dergestalt in die richtige Richtung in Bewegung setzt und damit im kosmischen Orgonenergie-Ozean verankert. Die entsprechende Aufgabe hat heute die soziale Orgonomie auf Massenbasis.

Das große Mißverständnis

12. Mai 2023

Der vorurteilsbeladene Ignorant denkt und spricht nur Belangloses; er drischt, wie man sagt, nur leeres Stroh; oder, was auf dasselbe hinausläuft, er käut ständig die kümmerlichen Weisheiten unserer Scholastiker wieder (sofern er sie kennt). Der begabte Mensch hingegen folgt Schritt für Schritt der Natur, der Beobachtung und der Erfahrung. Er erkennt nur als gültig an, was den höchsten Grad an Wahrscheinlichkeit für sich hat. Und er zieht seine Schlüsse nicht vorschnell, unumstößlich und gegen jede vernünftige Einsicht, sondern aus Tatsachen, die zumindest ebenso klar sind wie die bereits bewährten, produktiven Prinzipien. (Julien Offray de LaMettrie: Philosophie und Politik, S. 34f)

All die Idioten verlassen die Orgonomie, weil diese von Natur aus schmutzig ist und zwar in wirklich allen Aspekten. Es begann mit der klinischen Beurteilung von und der Therapie mit schmutzigen Menschen (triebhafte Charaktere, echte Borderline-Freaks). Es ging nicht, wie bei Freud, um die Sublimierung der Triebe dekadenter Oberschichtler, sondern um schmutzige Gefühle, um Sexualität. Es ging um schmutzige Kommunisten, schmutzige „Sexualreform“ und schmutzige Politik. Politik, bei der man sich die Hände schmutzig macht, was „linke Intellektuelle“ wie Otto Fenichel oder Erich Fromm nie getan haben. Reich setzte sich mit dem schmutzigen Faschismus (er sprach mit echten Nazis und las ihre Ergüsse) und dem Alltagsleben des kleinen Massenmenschen auseinander. Seine Bion-Forschung begann mit einfacher „Gemüsesuppe“, Heuaufgüssen usw. Aus der Sicht des Physikers geht es bei Orgon und Co. nur um „Datenrauschen“ – Schmutz. Nichts ist bei Reich klar und eindeutig. Funktionalismus ist „unscharfe Logik“. Selbst die organisatorischen Aspekte der Orgonomie waren von Anfang an und sind bis heute chaotisch. Die Orgonomie ist kein sicherer Ort für „Sucher“, keine feste Weltanschauung, keine Lebensform. Es gibt nichts „Sauberes“ und klar Umrissenes an ihr. Sie ist der ultimative Alptraum für den mechano-mystischen Geist, der in einer aseptischen platonischen Welt leben möchte, da er eine Todesangst vor Bewegung und Veränderung hat.

Ein typisches Mißverständnis ist es, Artikel mit der Überschrift „… aus orgonomischer Sicht“ zu schreiben. Ich tue das auch ab und an, aber es ist vom Ansatz her grundlegend falsch, oder sagen wir lieber irreführend. Es gibt keinen festen „orgonomischen“ „Ort“, von dem aus man die Dinge betrachten könnte. Orgonomie ist die Anstrengung in der Ebene, das Forschen und ständige Korrigieren, sozusagen „das Wühlen im Dreck“. Das sieht man etwa an einer korrekt durchgeführten Orgontherapie. Ein richtiger Orgonom tritt nicht als „Guru“ auf, der dich mit seherischem Blick durchschaut und dir den Weg weist! Es geht um die Etablierung der Selbstregulation, bei der Anweisungen, was man zu tun oder zu lassen hat, ein Widerspruch in sich selbst wären. Es geht schlicht und ergreifend um die Konfrontation mit deinem neurotischen Charakter und mit deiner biophysischen Rigidität. Irgendwelche Idioten, die sich zu „Reichianischen“ Therapeuten aufschwingen und meinen, den Patienten das vermeintlich „richtige“, quasi „orgonomische“ Funktionieren lehren zu können, „orgonomische Prinzipien“ aufoktroyieren zu können, verfehlen die ganze Angelegenheit auf denkbar fundamentale Art und Weise. Es ist eine genaue Entsprechung der obenerwähnten dogmatischen Vorgabe „des orgonomischen Standpunkts“. Entweder arbeitet man mit Funktionen, Beziehungen, Kontakt – oder man wirkt nur zerstörerisch.

Was ich hier beschreibe, sind schlichtweg die Entstellungen der Orgonomie durch den Kleinen Mann, der aus jedem fruchtbaren Ansatz eine sterile Doktrin macht. Wie Reich in Äther, Gott und Teufel erläutert, ist der Kleine Mann ein Mechano-Mystiker, der keine Unsicherheit, Unbestimmtheit, keine Bewegung und Spontanität ertragen kann und entsprechend aus dem Universum eine Maschine, sowie aus seinen Kindern Roboter macht. Er gestaltet die Welt nach seinen vorgefaßten Ideen. Reich hingegen hat sich stets der Wirklichkeit ausgesetzt, ist wirklich an die Front des Lebens, des Labors und der Umwelt gegangen, um sich der einen und einzigen Quelle der Wahrheit auszusetzen: der Wirklichkeit. Alles, was sich nicht der Wirklichkeit gemäß verhält, alles was nicht naturgemäß ist, wird von der Natur erbarmungslos ausgemerzt. Orgonomie ist nichts anderes als Secundum naturam. Folge der Natur oder krepiere! Deine saubere Welt aus Konstruktionen und „Theorien“ ist ein lächerliches Kartenhaus, das beim nächsten kleinen Lufthauch kollabieren wird. Vielleicht ist es nicht schade um dich, aber mit Sicherheit ist es schade um die, die du mit in den Abgrund reißt.

David Holbrook, M.D.: TEXT AN DIE MUTTER EINER 20JÄHRIGEN PATIENTIN / BORDERLINE-ZUSTÄNDE / ZU POSITIVITÄT UND NEGATIVITÄT / ÜBER SCHLAFLOSIGKEIT, EMDR UND KVT

20. August 2020

 

DAVID HOLBROOK, M.D.:

 

Text an die Mutter einer 20jährigen Patientin

 

Borderline-Zustände: Textaustausch mit der Mutter einer Borderline-Patientin

 

Zu Positivität und Negativität. Hysterie, Wut und die dunkle Seite: Brief an eine Hysterikerin

 

Über Schlaflosigkeit, EMDR und KVT (Brief an einen Patienten)

 

nachrichtenbrief3

28. März 2017