
Humana conditio ex orgonomico prospectu: Stichwort „Freudo-Marxismus“ und folgende
Die Korrespondenz zwischen Hermann Schmitz und Bernd Laska ist allein schon deshalb interessant, weil sie auf verblüffende Weise ziemlich genau den Konflikt zwischen den Psychoanalytikern und Reich wiederholt.
Wie in den 1920er Jahren in Wien und Berlin geht es auch hier um eine neue „Ich-Psychologie“. Nicht von ungefähr will Schmitz Laskas Ausdruck „rationales Über-Ich“ durch den Begriff „rationale Ich“ ersetzt sehen (S. 275). – Schmitz diagnostiziert am Anfang des europäischen Denkens eine Art Zersplitterung des menschlichen Innenlebens, bei der alles, ob in uns oder in unserer Umgebung, als ein Sammelsurium objektiver Dinge betrachtet wird, zwischen denen sich ein Kampf um Vorherrschaft abspielt. Um das Jahr 1800 kam es zu einer entscheidenden Wende, als die „subjektiven Tatsachen“ entdeckt wurden, aber weiterhin alles wie „objektive Dinge“ behandelt wurde. Das Subjekt ist damit einerseits „ich selbst“, andererseits aber, da objektiv ungreifbar, zerrinnt es zu einem Nichts. Mit diesem „Ich hab‘ mein Sach‘ auf nichts gestellt!“ (Stirner) begann, so Schmitz, der Nihilismus, dessen zerstörerische Kraft wir heute in einer immer haltloseren und „kindischeren“ Gesellschaft hautnah miterleben. Ironie und Zynismus, entsprechend der angeschnittenen Entfremdung am Beginn des europäischen Denkens, und das alles beherrschende Machtspiel beginnen buchstäblich alles zu atomatisieren.
Ähnlich den „Ich-Psychoanalytikern“ zu Reichs Zeiten, die die „objektivistische“ Libido durch Soziologie (das Einbinden des Individuums in die Gemeinschaft) ersetzten, versucht Schmitz unter Wahrung der kritischen, aufklärerischen Distanz, die dem europäischen Projekt inhärent ist, die beschriebene Spaltung aufzuheben, indem er dem „Heiligen“ bzw. dem „unbedingten Ernst“ eine erneute Chance gibt, vor allem aber, indem er auf die „einpflanzenden Gesamtumstände“ setzt, bei denen der Unterschied zwischen Subjekt und Objekt weitgehend aufgehoben ist, d.h. imgrunde setzt er auf eine Einbindung in die Gemeinschaft, wie sie beispielsweise beim Spracherwerb gegeben ist. Das erinnert sehr an die Entwicklung der Psychoanalyse sozusagen „jenseits des Ödipuskomplexes“, insbesondere mit ihrem Fokus auf Frühstörungen, die Mutter-Kind-Bindung etc.
Laska hingegen beharrt darauf, daß das Ich unter dem Druck von außen zersplitterte, indem es dieses Außen in Gestalt des „irrationalen Über-Ichs“, einer nicht mehr kritisch hinterfragbaren inneren Instanz, aufnahm. Die heutigen Verhältnisse sind, so Laska, nicht etwa auf Stirner zurückzuführen, der universell als der bzw. das Böse hingestellt wird, sondern auf dessen „Bewältigung“ durch insbesondere Marx und Nietzsche. Laska versucht aber immerhin eine Brücke zu Schmitz zu schlagen, indem er erstens bestimmten „implantierenden Situationen“ durchaus nicht die Notwendigkeit abspricht und zweitens auf eine hier noch nicht genannte, dritte Instanz bei Schmitz neben dem Heiligen und der einpflanzenden Situation verweist: den „starken Daimon“, also so etwas wie einen autonomen inneren zielgerichteten Antrieb. Dieser Daimon dürfe, so Laska, nicht unterdrückt, sondern müsse gehegt und gepflegt werden, durchaus auch durch „implantierende Situationen“, um „Eigner“ im Sinne Stirners aufwachsen zu lassen.
Schmitz wendet ein, daß ein „starker Daimon“ nur bei wenigen Menschen anzufinden ist und, hätten alle ihn, gäbe es nur ein Hauen und Stechen zwischen lauter Rechthabern. Außerdem habe auch beispielsweise Hitler einen „starken Daimon“ besessen, dieser sei also nichts von vornherein Positives. Das erinnert fatal an das Menschenbild der orthodoxen Psychoanalytiker: der Mensch als sadomasochistisches Tier, das durch das Heilige und „implantierende Situationen“ gebändigt werden muß, bzw., bei den Neo-Psychoanalytikern, der Mensch als formbare Masse, der an die Hand genommen werden muß.
Übrigens ist Laskas Verständnis von „Daimon“ sehr irreführend, denn der „Dämon“ entspricht eher den „isolierten Über-Ich“, wie ihn Reich beim triebhaften Charakter beschrieben hat. Er steht keineswegs für einen starken inneren Kern. Beispielsweise meint Schmitz Goethe haben einen schwachen Daimon besessen.
Wie gesagt: das ganze wirkt wie eine um hundert Jahre versetzte Debatte zwischen den Psychoanalytikern (Schmitz) und Reich (Laska)! Sie wirft übrigens auch ein Licht zurück auf die 1920er Jahre. Schmitz zufolge ist es „Stirner: Ich gegen eine fremde Welt“, während es für Laska „Stirner: Ich gegen das Fremde in mir“ ist. Genauso wie Schmitz dachten die Psychoanalytiker damals: den „schizoiden“ Menschen mit der Welt zu versöhnen, während Reich der „Schizophrene“ war, der gegen die Welt wütete.
Die gesamte moderne Medizin kann man als eine geradezu systematische Umgehung der Frage nach der Charakterstruktur, d.h. der bioenergetischen Struktur des Organismus, betrachten. Entsprechend stellt die moderne Psychologie, Psychiatrie, Psychotherapie eine einzige Vermeidungsstrategie gegenüber der Genitalität dar.
1.
Patienten können die abartigsten, untherapierbarsten somatischen Erkrankungen haben – trotzdem sind diese oberflächlicher als die Charakterstruktur. „Man kann sie als Komplikationen der Charakterneurosen ansehen. … [Sie] können bei jedem Charaktertypus vorkommen und sind nicht auf den spezifischen Charakter, sondern vielmehr auf die spezifische Panzerung zurückzuführen“ (Elsworth F. Baker: Der Mensch in der Falle, S. 286). Ähnlich verhält es sich mit extremen psychiatrischen Störungen, etwa Baerbocks Sprachstörung. Man kann sie vielleicht „heilen“, aber die Charakterpathologie, die ihren Nährboden darstellt, besteht fort.
Das ist nicht so offensichtlich, weil die charakterliche Störung „peripher“ ist, d.h. letztendlich soziale Ursachen hat (auch die Kindererziehung ist eine „soziale Ursache“!). Man nehme etwa Reichs Beschreibung des Zusammenhangs zwischen charakterlicher Resignation und der Krebsschrumpfungsbiopathie, die das bioenergetische Zentrum des Organismus befällt:
Resignation ohne offenen oder geheimen Protest gegen die Versagung der Lebensfreude muß als eine der wesentlichen Grundlagen der Schrumpfungsbiopathie angesehen werden. Die biopathische Schrumpfung wäre demnach eine Fortsetzung chronischer charakterlicher Resignation im Bereich der Zellplasmafunktion. (Reich: Der Krebs, Fischer TB, S. 223f)
Es gibt Schichten des Lebensapparates verschiedener Tiefe um den biologischen Kern herum. Es gibt höhere und tiefer gelegene Schichten im Biosystem. Es gibt demzufolge oberflächliche und tiefergreifende Störungen der Körperfunktion. Eine akute Atemstörung wird dem Kern des Biosystems nichts anhaben. Eine chronische Atemstörung durch Inspirationshaltung wird chronische Angst erzeugen, aber die biologische Zellplasmafunktion nicht berühren, solange die bioenergetischen Funktionen in den Zellen selbst weitergehen, solange der Organismus weiter kräftige Impulse produziert. Ist aber die Impulsproduktion in den Zellen selbst getroffen, hat die periphere charakterliche Resignation das Zellplasmasystem erfaßt, dann haben wir es mit dem Prozeß der biopathischen Schrumpfung zu tun. (ebd., S. 224)
2.
Generell stehen in der Neurose die prä-genitalen Störungen im Vordergrund (phallisch, anal, oral). Am extremsten in der „okularen“ Schizophrenie (ja, keine Neurose, sondern Psychose). Trotzdem arbeitet sich der Therapeut zum Kern dieser Störungen vor und das ist die genital-orgastische Störung. Die prägenitalen „Frühstörungen“ sind in jedem Fall oberflächlicher als der ödipale Konflikt.
Ärzten, Psychiatern, Psychologen ist das so fremd und unverständlich, weil sie nicht so tief vordringen wie Reich. Ihre Arbeit ist erledigt, wenn die oberflächlichen „prägenitalen“ Symptome verschwinden, d.h. ein neurotisches Gleichgewicht hergestellt ist. Ähnlich wie die eingangs beschriebenen „genesenen“ somatisch Kranken, haben die Patienten zwar ihre psychische Auffälligkeit überwunden und sich wieder in die Gesellschaft integriert, aber das wirkliche Problem bleibt unberührt (siehe dazu den gestrigen Blogeintrag).
Beispielsweise kann eine Schizophrenie geheilt werden, wenn der okulare Block beseitigt ist, doch dann fängt die eigentliche Arbeit erst wirklich an, weil nunmehr der tieferliegende ödipale Konflikt angegangen werden muß. Generell kann man sagen, daß in der Therapie „von oben nach unten“ („von okular zu genital“), vom Oberflächlichen zum Tiefen, von der Oberfläche zum Kern, von der Gegenwart in die Vergangenheit fortgeschritten wird, vom Prägenitalen zum Genitalen, (richtig verstanden!!) vom Unwesentlichen zum Wesentlichen.
In vieler Hinsicht ist die Orgonomie mit Reich gestorben. Er hatte wohl immer wieder Mitarbeiter, etwa Biologen, die ihr Fachwissen einbrachten, doch imgrunde wurde die Orgonforschung von ihm allein getragen. Der einzige Bereich seiner Tätigkeit, der sich selbst trug und den er Ende der 1940er/Anfang der 1950er Jahre selbst weitgehend an andere abgetreten hatte, war die Orgontherapie. Er machte seinen Schüler Elsworth F. Baker, Psychiater und ausgebildeter Psychoanalytiker, für diesen Bereich zuständig. Beispielsweise war es Baker, der so etwas wie der „Familienpsychiater“ der Familie Reich war und zu Reichs Lebzeiten die Zeitschrift Medical Orgonomy herausbrachte. Nach Reichs Tod behauptete Baker, Reich habe ihm bei ihrem letzten Treffen vor seinem Gefängnisaufenthalt gesagt, daß er sich von allen anderen Orgonomen distanzieren solle und zusammen mit neu von ihm ausgebildeten Therapeuten die Orgonomie neu aufbauen sollte. Das ist glaubhaft, weil Reich zuvor ähnlich gehandelt hatte, etwa nach seinem Rauswurf aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 1934, nach dem Scheitern der Sexpol 1936, seinem Fortgehen aus Skandinavien 1939 und den Belastungen, die mit der Pressekampagne, den Auseinandersetzungen mit der Gesundheitsbehörde und dem ORANUR-Experiment (1951) nach 1947 aufbrachen und die Orgonomie bereits vor seinem Tod grundlegend umformte.
Es kam, wie es kommen mußte: zu einem unheilbaren Bruch zwischen Baker und der überwiegenden Mehrheit von Reichs anderen Mitarbeitern. Ein Faktor war auch, daß, bis auf Michael Silvert, Baker der einzige Schüler Reichs war, der von Anfang an ein Konservativer war, während alle anderen mehr oder weniger linksliberal eingestellt waren und sich nur anpaßten, als Reich beispielsweise verkündete, daß „die Orgonomie“ Eisenhower bei seiner Wahl unterstütze. 1967 brachte Baker ein Buch heraus, Der Mensch in der Falle, in der er die drei Tabus einer gepanzerten Gesellschaft anging: Sexualität, Religion und Politik. In den ersten beiden Bereichen bestand von jeher Konsens unter Reichs Anhängern, aber Baker machte sich daran, Reichs entsprechenden Ausführungen aus den 1950er Jahren über Liberale (im amerikanischen Sinne, also Linke) und Konservative zu systematisieren. Die Kernaussage war, daß eine erfolgreiche Orgontherapie die Patienten konservativer machen würde. Wenn sie mehr in Kontakt zu ihrem „bioenergetischen Kern“ kommen, beginnen sie sich mit „dem Eigenen“ zu identifizieren, statt mit haltlosen „humanistischen“ Ideologien.
Derartige Ideen formulierten Baker und seine Schüler genau zu jener Zeit, als Amerika in Aufruhr geriet und die gesamte Kultur sich dramatisch nach links verlagerte, wobei neben Herbert Marcuse auch „Wilhelm Reich“ eine nicht unbedeutende Rolle spielte. Zur gleichen Zeit bildete sich eine neue therapeutische Kultur heraus (Esalen, Encounter Groups, die Urschrei-Therapie, Reichs Schüler Alexander Lowen und seine „Bioenergetik“ wurden ungemein populär, etc.), als Baker streng darauf beharrte, daß ausschließlich voll ausgebildete und von den Fachverbänden anerkannte Psychiater Orgontherapeuten sein konnten. Baker war so etwas wie der ultimative Spielverderber.
In seinen letzten Jahren hatte Reich mit einer therapeutischen Herangehensweise experimentiert, bei der er sehr schnell mit der Auflösung des Körperpanzers voranschritt in der Hoffnung, daß sich die damit erreichten Ansätze von Genitalität im Laufe der Zeit selbst konsolidieren würden. Baker beharrte weiter auf dem „traditionellen“ Ansatz, bei dem mehr Nachdruck auf die Charakteranalyse gelegt wurde und Zeit keine Rolle spielen durfte. Auch stellte sich im Laufe der Zeit heraus, daß gerad der heutige Mensch, d.h. der Mensch in der antiautoritären Gesellschaft mehr Charakteranalyse benötigt.
Ein weiterer Faktor der Spaltung war der Orgonenergie-Akkumulator. In seinem Buch Der Mensch in der Falle hatte er sorgsam jede Erwähnung des Akkumulators vermieden und auch in dem seit 1968 erscheinenden Nachfolgeorgan von Medical Orgonomy, der Zeitschrift Journal of Orgonomy wird der Akkumulator ausschließlich in Zusammenhang mit Tierexperimenten und physikalischen Messungen erwähnt. Das mußte wie der ultimative Verrat an Reich erscheinen, zumal Baker bereits zu Reichs Lebzeiten ganz und gar nicht einverstanden war, wie Reich mit den Gesundheitsbehörden umging. Reich wollte offensiv für sein Recht kämpfen Menschen mit dem Akkumulator zu helfen, während Baker dafür plädierte, alles den Rechtsanwälten zu überlassen. Nach Reichs Tod schrieb Baker der FDA, daß er nichts mit dem Akkumulator zu tun habe und auch nichts zu tun haben wolle. Das hat einen zweifachen Hintergrund: erstens Angst, daß den heutigen Orgonomen das gleiche widerfahren könnte wie Reich selbst und zweitens ist da die berechtigte Angst vor den Berufsverbänden und Versicherern mit horrenden Regreßforderungen und einem effektiven Berufsverbot. In Europa besteht dieses Problem zum Glück nicht in diesem Ausmaß.
Hier zeichnet sich auch das eigentliche Problem der heutigen Orgonomie ab: Psychiater sind in den USA dermaßen in ein System aus überbordender Bürokratie und einem Berufsbild eingespannt, das sich ausschließlich um „Gehirnchemie“, das Verabreichen von Psychopharmaka und das „Management“ des Falles erschöpft (d.h. die Zuweisung an Neurologen, Internisten, etc. und vor allem an neuerdings weitgehend nichtmedizinische Psychotherapeuten), daß das Berufsbild des klassischen Psychiaters, der sich zum Orgonom fortbilden kann, zunehmend verschwindet. Es fehlt schlicht der Nachwuchs. Andererseits wäre es ziemlich absurd Nichtmediziner als Körpertherapeuten auszubilden und Nichtpsychiater angesichts einer Bevölkerung auszubilden, die zunehmend psychiatrisch auffällig ist („Frühstörungen“, Substanzmißbrauch, zerrüttete Familien, etc.).
Um was es hier zentral geht, kann man sich am Beispiel Alexander Lowens, dem Begründer der „Bioenergetik“ vergegenwärtigen. Er war einer der ersten Schüler Reichs in Amerika, aber leider nur Rechtsanwalt und Gymnastiklehrer. Deshalb wurde er von Reich aufgefordert Medizin zu studieren, wenn er wirklich als Therapeut arbeiten wolle. Dies tat Lowen dann auch unter großen persönlichen Opfern in der damals noch billigen Schweiz. Als er nach seiner Rückkehr nach Amerika aber auch noch Psychiater werden sollte, verließ er die Orgonomie unter dem Vorwand sie sei zu „kultisch“ geworden. Die Krankheitslehre, die er dann aber in einer Reihe von Büchern ausbreitete, zeigte genau das: den eklatanten Mangel an psychiatrischen Kenntnissen, so daß sein System geradezu gemeingefährlich ist, auf jeden Fall aber Verwirrung stiftet.