Posts Tagged ‘Eigner’

Max Stirner, Soter (Teil 26)

3. September 2025

Menschliche Solidarität wird nicht durch eine „übergreifende Idee“ und eine „Gemeinschaft“ hergestellt, in der alle gleich sind, sondern ganz im Gegenteil dadurch, daß sich die Menschen endlich selbst vertreten (Der Einzige, S. 228f). Ein solcher „Interessenverein“ wäre kein Bund liebloser ängstlich an sich haltender kalter kleinbürgerlicher „Egoisten“. Auch der Eigner kann zugunsten des Mitmenschen auf alles verzichten und alles geben. Nur eines wird er nicht tun, sich selbst, d.h. seine Eigenschaft als „Eigner“ opfern, was nichts anderes heißt, als daß er echt bleibt, wirklich liebt, weil, wie Stirner sagt: „Mir das Lieben natürlich ist“, und sich nicht einer bloßen Idee von Liebe opfert, ohne den Mitmenschen überhaupt wahrzunehmen (Der Einzige, S. 323f).

Es gibt nichts Grausigeres als die „Liebe“ der von Liebe Besessenen, die nur einen Spuk lieben.

Wer aber voll heiliger (…) Liebe ist, der liebt nur den Spuk, den „wahren Menschen“, und verfolgt mit dumpfer Unbarmherzigkeit den Einzelnen, den wirklichen Menschen, unter dem phlegmatischen Rechtstitel des Verfahrens gegen den „Unmenschen“. Er findet es lobenswert und unerläßlich, die Erbarmungslosigkeit im herbsten Maße zu üben; denn die Liebe zum Spuk oder Allgemeinen gebietet ihm, den nicht Gespenstischen, d.h. den Egoisten oder Einzelnen, zu hassen; das ist der Sinn der berühmten Liebeserscheinung, die man „Gerechtigkeit“ nennt. (Der Einzige, S. 321)

Stirner: „Ihr liebt den Menschen, darum peinigt Ihr den einzelnen Menschen, den Egoisten; eure Menschenliebe ist Menschenquälerei“ (Der Einzige, S. 325).

Gerade die vor „Liebe“ strotzenden Gutmenschen sind in Wirklichkeit hartherzig und intolerant. Die gegenwärtige Gesellschaft und alle gesellschaftlichen Utopien, sind Prokrustesbetten, auf denen die „Verbrecher“ zu Tode gefoltert werden, das Lebendige gekreuzigt wird. Und zur französischen Revolution: „Weil die revolutionären Pfaffen oder Schulmeister dem Menschen dienten, darum schnitten sie den Menschen die Hälse ab“ (Der Einzige, S. 87).

Nicht Stirner ist Misanthrop, sondern die Gutmenschen:

Wie viele siehst Du überhaupt, die Du nicht unter die „egoistische Masse“ würfest? Was hat also deine Menschenliebe gefunden? Lauter unliebenswürdige Menschen! Und woher stammen sie alle? Aus Dir, aus deiner Menschenliebe? Du hast den Sünder im Kopfe mitgebracht, darum fandest Du ihn, darum schobst Du ihn überall unter. Nenne die Menschen nicht Sünder, so sind sie’s nicht: Du allein bist der Schöpfer der Sünder: Du, der Du die Menschen zu lieben wähnst, Du gerade wirfst sie in den Kot der Sünde, Du gerade scheidest sie in Lasterhafte und Tugendhafte, in Menschen und Unmenschen, Du gerade besudelst sie mit dem Geifer deiner Besessenheit; denn Du liebst nicht die Menschen, sondern den Menschen. Ich aber sage Dir, Du hast niemals einen Sünder gesehen, Du hast ihn nur – geträumt. (Der Einzige, S. 405)

Stirner wollte dem Welttheater ein Ende machen, in dem wir nur schizoide Schauspieler sind, die einerseits fremde „objektive“ Texte sprechen, und dabei andererseits zu bloßen Schimären, zu „reinen“ Subjekten werden, die kurioserweise „auf der Suche nach sich selbst“ sind. Er wollte aus den Schauspielern wieder aktiv, d.h. einheitlich Handelnde machen, die wirklich hier sind und nicht ständig in einem Wolkenkuckucksheim schweben.

Max Stirner und das Orgon

9. August 2025

Wenn Reich sein Forschungsprogramm beschreibt, gemahnt das „irgendwie“ an Max Stirner. Reich schreibt:

Die Orgonphysik geht von vollkommen neuen Beobachtungen und neuen theoretischen Annahmen aus. Von einem prinzipiellen orgonomischen Standpunkt her muß das Denken selbst als eine Funktion der Natur im allgemeinen begriffen werden. Dementsprechend müssen die Ergebnisse bloßen Denkens als sekundär gegenüber den beobachtbaren Naturfunktionen angesehen werden. Als Funktionalisten sind wir in erster Linie an beobachtbaren Naturfunktionen interessiert; von da aus gelangen wir zu den Funktionen des menschlichen Denkens mittels der emotionalen (bioenergetischen) Funktionen im beobachtenden Menschen. Solange die beobachtbare Natur nicht den Ausgangspunkt für menschliches Denken bildet, und mehr noch, solange die Funktion des Denkens selbst nicht logisch und konsistent aus den beobachtbaren Naturfunktionen im Beobachter selbst abgeleitet wird, solange stellen sich gegenüber allen Resultaten bloßen Denkens, das nicht durch Beobachtung gestützt ist, grundlegende methodologische und faktische Fragen. (Äther, Gott und Teufel, S. 150f)

Mit „bloßem“, von den tatsächlichen Naturvorgängen abweichendem Denken meint Reich offensichtlich zweierlei: erstens ein Denken, das indirekt und eines das direkt fremdbestimmt ist. Bei ersterem handelt es sich um „gepanzertes Denken“, d.h. ein Denken, das auf das durch die Erziehung entstellte Funktionieren des Organismus zurückgeht, wobei die Eltern als Einflußagenten der Gesellschaft fungieren. Beim direkt fremdbestimmten Denken geht es um die unhinterfragte Übernahme der Meinungen von Autoritäten unabhängig von der Wirklichkeit, d.h. statt selbst zu beobachten und selbst zu forschen. Man folgt dem „Über-Ich“, weil man die gesellschaftlichen Vorgaben verinnerlicht hat und durch diese charakterstrukturell umgeformt wurde. Tierarten existieren, weil sie ihre Umwelt richtig wahrnehmen und sich entsprechend anpassen, sonst wären sie schon längst ausgestorben. Homo sapiens hingegen taumelt dem Untergang entgegen, da er weitgehend blind und verkrüppelt ist und irgendwelchen wirklichkeitswidrigen Wahngebilden hinterher tappt, statt auf den Weg zu achten. Er ist mit dem Kopf in den Wolken des „bloßen Denkens“.

Ansonsten haben der Stirnersche Eigner/Einziger und Reichs Orgon formal zweierlei gemeinsam:

1. Das Orgon funktioniert weder mechanisch (Aktion und Reaktion) noch mystisch (überweltliche „Wirkstrukturen“), also nicht sozusagen „nach Befehl und Gehorsam“, sondern es bewegt sich spontan aus sich selbst heraus, ist sozusagen „eigen“. Es ist sozusagen das Substrat der Selbstregulation.

2. Das, was wir als „Orgon“ bezeichnen, sind, so Reich, „die physikalischen Funktionen, die in der Orgonphysik als ‘Orgonenergie’ abstrahiert werden“ (ebd., S. 146). Es handelt sich nicht um ein geheimnisvolles „Sein“, sondern es sind konkrete Funktionen. Physik statt „Metaphysik“! Über sein Ich schreibt Stirner entsprechend bezugnehmend auf Feuerbachs pseudomaterialistische Philosophie: „‚[D]as Sein‘ ist Abstraktion, wie selbst ‚das Ich‘. Nur Ich bin nicht Abstraktion allein, Ich bin alles in allem, folglich selbst Abstraktion oder Nichts, Ich bin alles und Nichts; Ich bin kein bloßer Gedanke, aber Ich bin zugleich voller Gedanken, eine Gedankenwelt“ (Der Einzige und sein Eigentum, reclam, S. 381)

Das Orgon ist nur konkret greifbar, genauso wie der Eigner/Einzige. Das Orgon ist damit nicht schlichtweg identisch mit irgendwelchen „anderen“ Lebensenergie-Konzepten (Qi, Prana) oder dem „Äther“, also kein fixes metaphysisches oder mechanisches (bzw. „hydrodynamisches“ Modell), sondern nur unmittelbar, unvermittelt in der Beobachtung und im Experiment greifbar. Beispielsweise war der „Äther“ im 19. Jahrhundert bloß der Lückenbüßer für eine Leerstelle im mechanistischen Weltbild (die elektromagnetischen Wellen brauchten ein mechanisches Medium, so wie Wasserwellen Waser brauchen).

Das letzte, was Reich wollte, war ein weiteres „Weltmodell“ zu präsentieren, genausowenig wie Stirner eine weitere „Philosophie“ neben all die anderen zur Diskussion stellen wollte. Beiden ging es nicht um ein neues „Paradigma“, d.h. um eine neue Sicht auf die Welt oder eine neue „Brille“, sondern eben um die Beseitigung aller „Brillen“ (vgl. Clark, Frauchiger: Paradigm-Maker or Paradigm-Breaker: A Comparison between the Paradigm and Orgonomic Functionalism as Scientific Tools. The Journal of Orgonomy, 1986). Es ging um – Liquidar Super-Ego Radicalmente, um das Ausschalten „bloßen Denkens“, d.h. des Über-Ichs = der Panzerung.

Eine Parallele in der Philosophiegeschichte wäre die Phänomenologie (Stichwort Husserl, Heidegger, Hermann Schmitz), die den Anspruch erhob, die gesamte Philosophie neu anzufangen, indem sie beim unmittelbar Gegebenen frisch ansetzt und die – „Seinsvergessenheit“ angeht. Dazu ist zu sagen, daß die Phänomenologie zur Dezeptionsgeschichte Stirners gehört, daß das ihre einzige Bedeutung ist, (Bernd A. Laska: Ein dauerhafter Dissident, 1996) und Reichs Bonmot über Husserl („Zwangsgrübelei“, Äther, Gott und Teufel, S. 43) auf den eigentlichen Kern des Problems verweist: die Panzerung, insbesondere die Augenpanzerung – wieder: „bloßes Denken“!

Max Stirner, Soter (Teil 19)

5. August 2025

Der Konflikt zwischen Max Stirner und Reich zeigt sich nicht nach der Funktion des Orgasmus von 1927 und auch nicht nach der Funktion des Orgasmus von 1942, sondern erst mit der „Funktion des Orgasmus“ von 1951 (Die kosmische Überlagerung). Genau da wo es „kosmisch“ wird, wird das Verhältnis zwischen Stirner und Reich problematisch. Weniger weil „Gott“ oder so etwas auftritt, sondern weil hier (in Gestalt des energetischen „Orgonoms“) überindividuelle Prinzipien, Gemeinsame Funktionsprinzipien, autonome Relationen bzw. „Funktionen“ ins Spiel kommen, „scholastische Realien“.

Reich wollte die Menschen von ihrem „Charakterpanzer“, d.h. ihren erstarrten Verhaltensmustern befreien, die jede wesenseigene Willensäußerung illusorisch machen. Entsprechend hatte sich schon Stirner fast hundert Jahre zuvor gegen die Welt „fixer Ideen“ gewandt, die wir selbst aufgestellt haben, denen wir aber trotzdem als absoluten Autoritäten blind folgen. Irgendwelche Leitlinien werden willkürlich aufgestellt und gelten fürderhin als heiliges Gesetz, dem wir uns zu unterwerfen haben, auch wenn mittlerweile die Umstände ganz andere sind. So sind wir an unserem gestrigen Willen gebunden. Stirner: „Mein Wille in diesem Falle wäre erstarrt. Die leidige Stabilität! Mein Geschöpf, nämlich ein bestimmter Willensausdruck, wäre mein Gebieter geworden. Ich aber in meinem Willen, Ich, der Schöpfer, wäre in meinem Flusse und meiner Auflösung gehemmt“ (Der Einzige, S. 215). Die Nähe zum Reichschen Konzept der Panzerung ist evident.

Stirner schreibt im Rückblick über sich selbst: „Was Stirner sagt, ist ein Wort, ein Gedanke, ein Begriff; was er meint, ist kein Wort, kein Gedanke, kein Begriff. Was er sagt, ist nicht das gemeinte, und was er meint ist unsagbar“ (Parerga, S. 149). Ähnlich wie Reich mit der Beseitigung des Panzers den authentischen Menschen unter der Charaktermaske freisetzt, befreit Stirner das konkrete Individuum aus dem „Reich der absoluten Gedanken“, „d.h. Gedanken, welche einen eigenen Gedankeninhalt haben“. „Es ist, indem du der Inhalt des Einzigen bist, an einen eigenen Inhalt des Einzigen, d.h. an einen Begriffsinhalt nicht mehr zu denken“ (Parerga, S. 151).

Wie Stirner die Befreiung von den erstickenden Begriffshülsen beschreibt, gemahnt an die Orgontherapie:

Ein Ruck tut Mir die Dienste des sorglichsten Denkens, ein Recken der Glieder schüttelt die Qual der Gedanken ab, ein Aufspringen schleudert den Alp der religiösen Welt von der Brust, ein aufjauchzendes Juchhe wirft jahrelange Lasten ab. Aber die ungeheure Bedeutung des gedankenlosen Jauchzens konnte in der langen Nacht des Denkens und Glaubens nicht erkannt werden. (Der Einzige, S. 164)

Die Aufklärung hätte ein solches „Recken der Glieder“ sein müssen, stattdessen wurden die Menschen nur noch mehr in die Welt bedeutungsloser Begriffe verstrickt. Die Aufklärer waren um keinen Deut besser als die Pfaffen: auch sie pfropften die Köpfe und Herzen mit Flausen über Gewissen, Pflichten, Gesetze voll. Auch sie waren nur Verführer – um keinen Deut besser als die „Jugendverführer und Jugendverderber, die das Unkraut der Selbstverachtung und Gottesverehrung emsig aussäen, die jungen Herzen verschlämmen und die jungen Köpfe verdummen“ (Der Einzige, S. 179).

Den „Idealisten“ ging es darum, den alten jüdischen und paulinischen Glauben an unabhängige Individuen, die sich gegenüber einem wandelbaren, launischen Gott, einem „Jenseits außer Uns“, versündigen können, durch ein unwandelbares „Jenseits in Uns“ zu ersetzen. Sobald sich der Mensch, fabulierte der „Atheist“ Fichte, „rein, ganz und bis in die Wurzel vernichtet“, bleibe, sozusagen als Kondensat der Seele, Gott übrig. „Diese Selbstvernichtung bestehe in der erkennenden Einsicht in die Scheinhaftigkeit der endlichen Individualität“ (Micha Brumlik: Deutscher Geist und Judenhaß, München 2002, S. 110).

Vor Stirner war alle Kritik willkürlichen Ideen dienstbar. Es handelte sich immer nur um den Streit zwischen Ideen. Stirner hat diese Ideenwelt grundsätzlich überwunden, indem er sie von einer ganz anderen, tieferen Ebene, von außerhalb des bloßen Denkens aus kritisierte (vgl. Jacob Meyerowitz: Visualizing the Limit of Thought, The Journal of Orgonomy 28(1), Spring/Summer 1994, S. 62-83). Damit war seine Kritik nicht normativistisch, aber gleichzeitig auch in keinster Weise relativistisch oder gar nihilistisch, denn er hatte die Ideen nicht alternativlos verworfen (Bernd A. Laska: Max Stirner als pädagogischer Anarchist). Seine Alternative war der lebendige Ursprung der toten Ideen, der das Kriterium seiner Kritik darstellte.

Da der besagte „Ursprung“, das Lebendige, jenseits der Ideen steht, ist er nicht in Worte ausdrückbar und damit „Nichts“. Entsprechend beginnt und endet Stirners Hauptwerk mit den Worten: „Ich hab‘ Mein Sach‘ auf Nichts gestellt“. Doch sind umgekehrt aus der Warte dieses unsagbaren „Nichts“ seinerseits die Ideen substanzlos und nichtig, da der Willkür des Lebendigen ausgeliefert. Stirner hat an die Stelle des bisherigen substanzlosen Wortgeklingels sozusagen, um mit Reich zu sprechen, „die Ausdruckssprache des Lebendigen“ gesetzt. Für Stirners vom bloßen Denken befreite Betrachtung ist der „unsagbare Urgrund“ nicht substanzlos, keine abstrakte Idee, sondern aktiv funktionierende unmittelbare Wirklichkeit – für deren Funktionieren dann aber auch das Wort „Willkür“ keinen Sinn mehr macht, da man ebensogut von Notwendigkeit sprechen könnte. Man muß unwillkürlich an Friedrich Kraus‘ „spontan dranghaft schöpferische“ „vegetative Strömung“ bzw. „Tiefenperson“ denken (Allgemeine und spezielle Pathologie der Person. Klinische Syzyiologie. Besonderer Teil. I: Tiefenperson, Georg Thieme Verlag, Leipzig 1926, S. 3).

Stirner hat diesen lebendigen Ursprung der Ideen provisorisch als „Eigner“, „Einziger“ oder „Egoist“ bezeichnet, was leider im gewöhnlichen Sprachgebrauch die besagte substanzlose abstrakte Willkür und Beliebigkeit impliziert, im Sinne von „Tu, was Du willst!“ Willkürlich handelt aber nur der, der nicht Herrscher über die Ideen ist, sondern ganz im Gegenteil von willkürlichen Ideen beherrscht wird, die nichts mit der jeweiligen konkreten Situation zu tun haben. Der Eigner tut als Naturwesen einfach, „was er nicht lassen kann“. Er steht jenseits von Ideen wie „Pflicht“ oder „Freiheit“.

Max Stirner, Soter (Teil 17)

23. Juli 2025

Statt Eigner ihrer selbst zu sein, sind, wie dargelegt, die Triebhaften genauso Besessene wie einst die triebgehemmten Religiösen oder Ideologen: bei den einen ist es der Teufel, der sie umtreibt, bei den anderen Gott. Beide sind Sklaven sowohl der triebhaften Unbeherrschtheit als auch der geistigen „Liebe“: „Gewiß sind Urteile, welche der Haß eingibt, gar nicht unsere eigenen Urteile, sondern Urteile des Uns beherrschenden Hasses, ‚gehässige Urteile‘. Aber sind Urteile, welche Uns die Liebe eingibt, mehr unsere eigenen? Sie sind Urteile der Uns beherrschenden Liebe, sind ‚liebevolle, nachsichtige‘ Urteile, sind nicht unsere eigenen, mithin gar nicht wirkliche Urteile“ (Der Einzige, S. 320).

Natürlich gilt wieder, daß jeder Mensch, wie besessen er auch immer sei, unbewußt der Eigenheit zustrebt. Zum Beispiel erlaubt sich jeder von uns diese oder jene „Emanzipation“, die eine oder andere kleine Revolte gegen diese oder jene „Glaubenswahrheit“. Aber stets flüchten wir die Freiheit wieder und verfallen in die alte oder in eine „alternative“ Besessenheit (Der Einzige, S. 403). Es ist gleichgültig, ob es sich dabei jeweils um „altruistische“ Gottesfurcht oder „egoistische“ Ehrsucht handelt (Der Einzige, S. 375), um ideele oder materielle Güter (Der Einzige, S. 64), es sind „feindliche Brüder“ (Parerga, S. 47f).

Der Besessenheit an sich, können wir uns nur entziehen – wenn wir uns entziehen, d.h. uns ständig selbst „auflösen“ und verbrauchen. Auf diese Weise erklären wir das Recht auf uns selbst. Wir machen uns zu unseren eigenen Geschöpfen, die wir nach Belieben kreieren und wieder auflösen können (Der Einzige, S. 39). Bernd A. Laska zitiert Stirner: „Alle Prädikate von den Gegenständen sind meine Aussagen, meine Urteile, meine – Geschöpfe.“ Stirner wolle nicht, so Laska, daß diese Herren über ihn werden. Stirner: „Wollen sie sich losreißen von Mir, und etwas für sich sein, oder gar Mir imponieren, so habe Ich nichts Eiligeres u tun, als sie in ihr Nichts, d.h. in Mich, den Schöpfer, zurückzunehmen“ (z.n. Laska: Max Stirner, S. 46f). So kommt Stirner zu der paradoxen Feststellung, daß man sich aufgibt, wenn man sich nicht auflösen, nicht aufgeben kann: man ist besessen, das Geschöpf eines anderen, man gehört einem anderen (Der Einzige, S. 324).

Während ein Tier sich „realisiert“, „indem es sich auslebt, d.h. auflöst, vergeht“, versucht der Mensch Begriffe zu „realisieren“, z.B. indem er bestrebt ist „Mensch“ zu sein (Der Einzige, S. 372). Doch der Mensch will mehr sein als ein Tier, stemmt sich gegen die Zeit – und wird zum Opfer seiner eignen Geschöpfe, die seinen Fluß, seine Auflösung hemmen: er wird zum Gefangenen der Vergangenheit (Der Einzige, S. 215).

Als Naturwesen tut der Eigner seiner selbst einfach das, „was er nicht lassen kann“. Er steht jenseits von Ideen wie „Pflicht“ oder „Freiheit“ und ist trotzdem kein „Abgrund von regel- und gesetzlosen Trieben, Begierden, Wünschen, Leidenschaften“, kein „Chaos ohne Licht und Leitstern“, sondern ein Tier, das wie jedes andere Tier auch in seiner „Nacktheit und Natürlichkeit“ seinem Antriebe, d.h. nicht der Gewissensstimme, sondern der „Naturstimme“ folgt (Der Einzige, S. 178f). Damit meint Stirner „die wirkliche Nacktheit, die Entblößung von allem Fremden“ (Der Einzige, S. 153f). Der Egoist ist der „Unheilige“, „Barbar“, „natürliche Mensch“ (Der Einzige, S. 263).

Stirner verwahrt sich jedoch gegen das Mißverständnis, er wolle einen Naturzustand preisen (Der Einzige, S. 411). „(…) Ließe es nicht das Mißverständnis zu, als sollte ein Naturzustand gepriesen werden, so könnte man an Lenaus ‚Drei Zigeuner‘ erinnern. – (…) Ich lebe so wenig nach einem Berufe, als die Blume nach einem Berufe wächst und duftet“ (Der Einzige, S. 411). Aber genau dieses „Mißverständnis“ drängt sich dem Leser ständig auf. Stirner war z.B. der Auffassung, daß wir nicht vor unserer „Nacktheit und Natürlichkeit“ erschrecken brauchen, d.h. wie die Tiere getrost unseren Antrieben vertrauen können (Der Einzige, S. 178). Oder z.B. scheiterte etwa, Stirner zufolge, der deutsche Idealismus, der durch Einsicht den Mensch aus seinen irrationalen Verstrickungen lösen und zu einem sittlichen, vernünftigen, frommen, menschlichen Wesen machen wollte, „an der unbezwinglichen Ichheit, an der eigenen Natur, am Egoismus“ (Der Einzige, S. 373). Die innere Natur stellt sich gegen Zumutungen, die von außen an sie herangetragen werden. Das Heil liegt in der Widerspenstigkeit dieser Natur.

Das sagte Stirner zu einer Zeit, als im Geiste der Aufklärung das Denkvermögen als höchste Instanz galt. Sollte man sich einst gedankenlos Gott und seinen Offenbarungen unterwerfen, galt es nun in „platonistischer“ Tradition selbstevidente „Begriffe“ zu verwirklichen, d.h. insbesondere ein „Mensch“ zu sein. Es war dieser Glaube an die „allgemeine Vernunft“, zu der man gelangt, wenn man alle Individualität von sich abstreift, gegen den Stirner anging.

„Der Staat bemüht sich den Begehrlichen zu zähmen, mit anderen Worten, er sucht dessen Begierde allein auf ihn [den Staat] zu richten und mit dem sie zu befriedigen, was er ihr [der Begierde] bietet“ (Der Einzige, S. 350). Ob es nun um unser „Seelenheil“ oder unser „Menschentum“ geht, es ist stets so wie beim plattesten Materialismus: es geht nicht um mich den Leibhaftigen, sondern um mein Besitztum, meine Eigenschaften: meinen „Geist“, meine „Menschlichkeit“ mein Geld; „man heiratet gleichsam, was Ich habe, nicht was Ich bin“ (Der Einzige, S. 191).

Der Staat ist ein asoziales menschfressendes dämonisches Monster, das gegenwärtig jeden terrorisiert, der „unsere Demokratie“ in dieser Hinsicht entblößt: „Haß und Hetze“. Stirner schreibt, daß ein Mensch sich nur selbst wahrnimmt, wenn er sich gegenüber anderen ausdrückt. „Indem Ich Mich vernehmen lasse und so Mich selbst vernehme, genießen Andere sowohl als Ich selber Mich, und verzehren Mich zugleich“ (Der Einzige, S. 388). Wer sich vernimmt, d.h. Kontakt zum eigenen Selbst hat, der handelt frei (d.h. „egoistisch“) und gleichzeitig vernünftig (verantwortungsbewußt, d.h. „sozial“) (Parerga, S. 124).

Nietzsche: MEINE SCHWESTER UND ICH (Besprechung)

1. Juli 2025

An Nietzsche scheiden sich die Geister. Die einen phantasieren in ihn einen Metaphysiker hinein, der von dem Willen zur Macht als einer Art „Grundprinzip des Seins“ ausging,während die anderen den „dekonstruierenden“ Aphoristiker sehen, der illusionslos immer wieder auf einen jeweiligen Willen zur Macht gestoßen ist. Es ist aber gleichgültig, ob man ihn als Konstrukteur einer Art „arischen“ Lebensanschauung sieht oder, um in diesem Jargon zu bleiben, als eine Art quasi „jüdischen“ Dekonstrukteur der westlichen Geisteswelt, – „Belege“ wird man in seinem Werk für alles und das Gegenteil finden –, wichtig ist einzig die von Bernd A. Laska entdeckte „initiale Krise“, die am Anfang von Nietzsches Denken steht und an der auch die beiden genannten Interpretationstraditionen dieses Denkens straucheln. Die besagte „initiale Krise“ dreht sich natürlich um die Lektüre von Max Stirners Der Einzige und sein Eigentum.

Ob die einen hinter der Wirklichkeit irgendetwas Tieferes, etwa den „Willen zur Macht“, wirken sehen oder die anderen vermeinen, die Wirklichkeit selbst spräche zu ihnen: es ist und bleibt eine Illusion, da „sie“, die Subjekte, gar nicht sie selbst sind. Sie sind nicht, um mit Stirner zu sprechen, „Eigner ihrer selbst“, sondern Besessene (nicht Eigner, sondern Besitztümer anderer), die nur Wahngebilde wahrnehmen und Unsinn sprechen. Sie sind, wie man heute so schön sagt, in einer „Bubble“.

Wir alle stecken in einer, wie Reich sich ausdrückte, „Falle“, zu der vor allem das Verleugnen dieses Tatbestandes gehört, – was genau Nietzsches „initiale Krise“ ausmacht. Das führt jedwede „Philosophie“ ad absurdum, denn für den „gepanzerten“, d.h. in der Falle befindlichen Menschen ist das Leben nicht das Leben, sondern Lüge, Krampf und Scheitern. Manche sehen zumindest die Lüge, den Krampf und das Scheitern bei den „Metaphysikern“, verheddern sich bei ihrer Dekonstruktion der Metaphysik aber selbst. Egal, was da „synthetisch“ geraunt oder analytisch zersetzt wird, es bleibt doch alles – man verzeihe mir die unverzeihliche Platitüde – im Jargon des Eigentlichen gefangen, das nichts mit dem authentischen Eigent-lichen im Sinne Stirners zu tun hat, sondern doch nur inkorporierte Kultur ist.

Bei Stirner konnte Nietzsche Dinge lesen wie: „Macht – das bin Ich selbst, Ich bin der Mächtige und Eigner der Macht“ (Der Einzige, reclam, S. 230), und: „Ich bin nur dadurch Ich, daß Ich Mich mache, d.h. daß nicht ein Anderer Mich macht, sondern Ich mein eigen Werk sein muß“ (Der Einzige, S. 256). Das übernahm er, – um den eigentlichen Sinngehalt von Stirners Werk um so besser verschwinden zu lassen. Deshalb wird er über alle Maßen verehrt!

Man kann alles Mögliche über Meine Schwester und ich sagen, – beispielsweise war ich bei meiner Erstlektüre des englischen Originals vor vielen Jahren von der wachsenden Gewißheit getriggert, hier einen „widerlichen Betrug“ vor mir zu haben; eine hinterhältige Zurücknahme von Nietzsches Machtphilosophie – im Namen Nietzsches. Jetzt bei der „Zweitlektüre“, also dem Lesen der deutschen Übersetzung, widerte mich die Fixierung der jüdischen Literaturfälscher auf ihre Jüdischheit an. Ohne das alles entscheidende Nachwort des Übersetzers und Herausgebers Christian Fernandes, das man als „Vorwort“ lesen sollte, wäre mir dabei beinahe das eigentlich Wichtige entgangen: die Bloßlegung der „Willensphilosophie“ und des, wenn man so will, „dekonstruktivistischen Zynismus“ Nietzsches als Funktion einer vollkommen vermurksten persönlichen und gesellschaftlichen Sexualökonomie, die nicht zuletzt im Holocaust mündete.

Der Übersetzer und Herausgeber Christian Fernandes präpariert das aus dem Wust an Aphorismen und pseudo-autobiographischen Versatzstücken heraus, was Bernd A. Laska als „Jahrtausendentdeckung“ bezeichnet hat: indem wir den Wahnsinn unterdrücken, erzeugen wir ihn. Nietzsche selbst ist vor dieser Einsicht unter einem ungeheuren Aufwand geflohen und hat dabei, wie angeschnitten, ein ganzes philosophisches Gebäude aufgebaut bzw. abgerissen. In Meine Schwester und ich gibt er, die literarische Figur „Nietzsche“, dieses (bzw. diese) Unterfangen auf, weil er dessen Grundlage zumindest erahnt – seine abschließende Endkrise. Das ist auch der Grund, warum Reich auf (zugegeben arg naive Weise) von der Authentizität des Buches überzeugt war und selbst der stets vorsichtig-skeptische Bernd Laska dem Buch in dieser Hinsicht über Gebühr Kredit einräumte.

Für den NACHRICHTENBRIEF hat dieses Buch zwei Gesichter: Erstens war Reich zeitlebens ein Nietzsche-Verehrer. Beispielsweise hang die Totenmaske in Reichs Studierstube in Wien. Entsprechend mußte es 1951 auf Reich dramatisch wirken, daß Nietzsche am Ende seines Lebens (vermeintlicherweise) seine Willensphilosophie zugunsten von „Liebe, Arbeit und Wissen“ aufgegeben hatte. In der Folgezeit gehörte Meine Schwester und ich zu Reichs „10 Büchern“, das jeder Student der Orgonomie gelesen haben muß. Zweitens fügt sich Fernandes‘ Veröffentlichung dieses Buches in das weiterlaufende paraphilosophische „LSR-Forschungsprojekt“ ein.

Hier liegt gerade Volker Gerhardts Nietzsche-Monographie aus den 1990er Jahren auf meinem Schreibtisch. Hinten auf dem Einband findet sich folgendes Zitat von Nietzsche – das also den gesamten Nietzsche charakterisieren soll:

Wozu die Menschen da sind, wozu „der Mensch“ da ist, soll uns gar nicht kümmern: aber wozu Du da bist, das frage dich, und wenn Du es nicht erfahren kannst, nun so steck Dir selber Ziele, hohe und edle Ziele und gehe an ihnen zu Grunde! Ich weiß keinen besseren Lebenszweck als am Großen und Unmöglichen zu Grunde zu gehen…

Das findet sich auch auf S. 11f von Gerhardts Buch mit dem abschließenden lateinischen Spruch „… animae magnae prodigus“.

„Wozu die Menschen da sind, wozu ‚der Mensch‘ da ist, soll uns gar nicht kümmern“, ist natürlich Stirner pur. Nur wird es im Folgenden instantan ins Über-Ich zurückgeholt: man soll sich DOCH opfern! Nietzsche als „Überwinder Stirners“! In Meine Schwester und ich wird genau das ad absurdum geführt: Nietzsche geht sinnlos zugrunde und hat ein verpfuschtes Leben hinter sich – von wegen „Verschwender einer großen Seele“!

Der Universitätsprofessor Gerhardt ist vollkommen taub für derartige Zusammenhänge. Er spricht von Nietzsches „großer Seele“ und deren „edlen Zielen“… Meine Schwester und ich zeigt zu recht den obszönen Mittelfinger!

Rechtfertigt das alles den Aufwand einer deutsch/englischen Ausgabe? Am Anfang war ich skeptisch („So dick?!“), bis mir auffiel, wie wenig ich doch vom englischen Original bei meiner Erstlektüre wirklich mitbekommen hatte. Die Fälscher haben sich eines derartig verschwurbelten, prätentiösen englischen Schreibstils befleißigt, daß selbst ein „native speaker“ Probleme hätte, dem Text zu folgen. Von daher kann Fernandes‘ Leistung als Übersetzer gar nicht überbewertet werden – zumal er sich der unmittelbaren Überprüfung stellt.

Max Stirner, Soter (Teil 13)

28. Juni 2025

Ein Mensch wird zum „Eigner von Allem“, wenn er nicht nur auf billige und wohlfeile Weise die Spintisierereien seiner Mitmenschen dem Spott preisgibt, sondern es vermag, alle, insbesondere seine eigenen (bzw. „eigenen“!), großen, erhabenen, heiligen, begeisternden Gedanken, Gefühle und Glaubenssätze mit einem Lächeln abzuschütteln (Der Einzige, S. 403). Kurz, er ist ein Egoist, dem nichts über sich geht. Das bedeutet nicht Größenwahnsinn, sondern einfach, daß man sich zu schätzen weiß (Der Einzige, S. 208).

Unbewußt und unwillkürlich streben Wir alle der Eigenheit zu, und schwerlich wird Einer unter Uns sein, der nicht ein heiliges Gefühl, einen heiligen Gedanken, einen heiligen Glauben aufgegeben hätte, ja Wir begegnen wohl keinem, der sich nicht aus einem oder dem anderen seiner heiligen Gedanken noch erlösen könnte. All unser Streit wider Überzeugungen geht von der Meinung aus, daß Wir den Gegner etwa aus seinen Gedankenverschanzungen zu vertreiben fähig seien. Aber was Ich unbewußt tue, das tue Ich halb, und darum werde Ich nach jedem Siege über einen Glauben wieder der Gefangene (Besessene) eines Glaubens, der dann von neuem mein ganzes Ich in seinen Dienst nimmt und Mich zum Schwärmer für die Vernunft macht, nachdem Ich für die Bibel zu schwärmen aufgehört, oder zum Schwärmer für die Idee der Menschheit, nachdem Ich lange genug für die der Christenheit gefochten habe. (Der Einzige, S. 403)

Weil niemand dem Begriff „Mensch“ gerecht werden kann, niemand ein „wirkliches Gattungswesen“ (Der Einzige, S. 192) werden kann, gibt es gar keine Menschen. „Mensch“ soll, Stirner zufolge, nicht mehr meine unerreichbare Bestimmung sein, sondern einfach meine unveräußerliche Eigenschaft; etwas ist „menschlich“, weil ich, der Eigner der Eigenschaft „Mensch“, es tue (Der Einzige, S. 194f). „Ich verrichte nie in abstracto Menschliches, sondern immer Eigenes, d.h. meine menschliche Tat ist von jeder anderen menschlichen verschieden und ist nur durch diese Verschiedenheit eine wirkliche, Mir zugehörige Tat. Das Menschliche an ihr ist eine Abstraktion, und als solches Geist, d.h. abstrahiertes Wesen“ (Der Einzige, S. 197).

Der Eigner ist Egoist (Der Einzige, S. 351), denn das Egoistische kann nicht bewilligt oder verliehen werden (Lehen), sondern man muß es sich selbst verschaffen (Der Einzige, S. 322) – das Egoistische „nicht, wie es am Menschlichen, Humanen und Uneigennützigen sich messen läßt, sondern das Egoistische als das –Einzige“ (Der Einzige, S. 162). Wird der Egoismus auf das Wesentliche reduziert, stößt man auf die Einzigkeit (Der Einzige, S. 147). Im gewöhnlichen „Egoismus“ verliere ich jedoch genau das: meine Einzigkeit.

Der von sich selbst nicht entfremdete, also der einzige/einzigartige Mensch vollzieht stets nur seine eigene Tat, die erst durch diese Authentizität eine wirkliche Tat ist (Der Einzige, S. 197). Er verwechselt sich nicht selbst mit seinem „Amt“, ist kein Geist, sondern leibhaftig (Der Einzige, S. 385). Es geht ihm nicht um ein illusorisches „Selbstbewußtsein“, das aus seiner „Berufung“ erwächst, sondern einzig und allein um seinen „Selbstgenuß“ (Der Einzige, S. 358).

Kein Schaf, kein Hund bemüht sich, ein „rechtes Schaf, ein rechter Hund“ zu werden; keinem Tier erscheint sein Wesen als eine Aufgabe, d.h. als ein Begriff, den es zu realisieren habe. Es realisiert sich, indem es sich auslebt, d.h. auflöst, vergeht. Es verlangt nicht, etwas Anderes zu sein oder zu werden, als es ist. (Der Einzige, S. 372)

Man denke dabei nicht an irgendeine „Philosophie“, sondern stets an das – Über-Ich:

Ein Mensch ist zu nichts „berufen“ und hat keine „Aufgabe“, keine „Bestimmung“, so wenig als eine Pflanze oder ein Tier einen „Beruf“ hat. Die Blume folgt nicht dem Berufe, sich zu vollenden, aber sie wendet alle ihre Kräfte auf, die Welt, so gut sie kann, zu genießen und zu verzehren, d.h. sie saugt so viel Säfte der Erde, so viel Luft des Äthers, so viel Licht der Sonne ein, als sie bekommen und beherbergen kann. Der Vogel lebt keinem Berufe nach, aber er gebraucht seine Kräfte so viel es geht: er hascht Käfer und singt nach Herzenslust. Der Blume und des Vogels Kräfte sind aber im Vergleich zu denen eines Menschen gering, und viel gewaltiger wird ein Mensch, der seine Kräfte anwendet, in die Welt eingreifen als Blume und Tier. Einen Beruf hat er nicht, aber er hat Kräfte, die sich äußern, wo sie sind, weil ihr Sein ja einzig in ihrer Äußerung besteht und so wenig untätig verharren können als das Leben, das, wenn es auch nur eine Sekunde „stille stände“, nicht mehr Leben wäre. Nun könnte man dem Menschen zurufen: gebrauche deine Kraft. Doch in diesem Imperativ würde der Sinn gelegt werden, es sei des Menschen Aufgabe, seine Kraft zu gebrauchen. So ist es nicht. Es gebraucht vielmehr wirklich Jeder seine Kraft, ohne dies erst für seinen Beruf anzusehen: es gebraucht Jeder in jedem Augenblicke so viel Kraft als er besitzt. Man sagt wohl von einem Besiegten, er hätte seine Kraft mehr anspannen sollen; allein man vergißt, daß, wenn er im Augenblick des Erliegens die Kraft gehabt hätte, seine Kräfte (z.B. Leibeskräfte) anzuspannen, er es nicht unterlassen haben würde: war es auch nur die Mutlosigkeit einer Minute, so war dies doch eine minutenlange – Kraftlosigkeit. Die Kräfte lassen sich allerdings schärfen und vervielfältigen, besonders durch feindliche Widerstand oder befreundeten Beistand; aber wo man ihre Anwendung vermißt, da kann man auch ihrer Abwesenheit gewiß sein. Man kann aus einem Steine Feuer schlagen; aber ohne den Schlag kommt keines heraus; in gleicher Art bedarf auch ein Mensch des „Anstoßes“. (Der Einzige, S. 366f)

Wir alle üben ein „Amt“ aus, bzw. leben im Wahn einen Beruf, eine Aufgabe, eine Pflicht zu haben. Der Einzige läßt sich aus dem Gegensatz von Amt und Amtsträger definieren, z.B. ist der Papst kein „Einziger“: „als Einziger ist er dieser Sixtus, Clemens usw., aber als Sixtus, Clemens usw. hat er die Wahrheit nicht, sondern als ‚heiliger Vater‘, d.h. als ein Geist“ (Der Einzige, S. 385). Will sagen, mit Verlaub, der Einzige scheißt auf eure Wahrheit, eure Ethik, euer Recht, eure gesamte Gesellschaft, denn die sind – Fleischwölfe. Gegen diese empört sich das Lebendige. „Für einen bloßen Teil, Teil der Gesellschaft, angesehen zu werden, erträgt der Einzelne nicht, weil er mehr ist; seine Einzigkeit wehrt diese beschränkte Auffassung ab“ (Der Einzige, S. 294).

Laskas Randnotizen zu Hans G. Helms‘ DIE IDEOLOGIE DER ANONYMEN GESELLSCHAFT (Teil 9)

24. September 2024

Laskas Randnotizen zu Hans G. Helms‘ DIE IDEOLOGIE DER ANONYMEN GESELLSCHAFT (Teil 9)

Stirners Nachschlag, du Affe!

11. September 2024

Das ist ein Anhang zu Funktionswechsel, du Affe! und gleichzeitig eine Ergänzung zu Orgonometrie bei Stirner.

Max Stirner zu lesen, ist manchmal nicht einfach, das gilt nicht nur für seine kleineren Schriften, die er vor Der Einzige und sein Eigentum für Periodika unter den Bedingungen der Zensur verfaßte und weil er mehr oder weniger in die Tagespolitik eingreifen wollte, sondern auch für sein besagtes Hauptwerk selbst. Man kann das Buch leicht so lesen, als wolle Stirner hier beispielsweise die Philosophiegeschichte wie ein zweiter Hegel darstellen. Tatsächlich wählt er aber nur aus, was seiner Argumentation zu paß kommt und destruiert alle „Dialektik“, die in der Weltgeschichte einen rationalen Ablauf erkennen will. Tatsächlich geht es ihm um einen radikalen Bruch. Nach der (im Hegelschen Sprachgebrauch) kindlichen Negerhaftigkeit der Fetischsierung der Materie und der (wieder im Hegelschen Sprachgebrauch) jugendlichen Mongolenhaftigkeit der Vergeistigung, die die Christen dazu brachte alle heidnischen Idole als null und nichtig zu zerschlagen, geht es Stirner darum, dem gesamten Spuk, d.h. nicht nur der „Materie“, sondern vor allem auch dem „Geist“, ein Ende zu setzen. Nach den Griechen und den Christen kommt ein Bruch und der Eigner tritt auf den Plan. Nach den Dingen und ihrer Abstraktion – Bruch: die unmittelbare Leibhaftigkeit tritt hervor. Das ist keine dialektische Entwicklung, sondern, ganz im Gegenteil, die beiden gegebenen Elemente („Materie“ und „Geist“) sind bloße Verzerrungen, Fehlwahrnehmungen, einer grundlegenden Realität, nämlich der Funktion.

Die Einheit des Eigners mit sich und der Welt wurde dadurch aufgelöst, daß der Eigner einen Teil seiner Eigenheit preisgab, wodurch ssich eine verselbständige Objektwelt herausbildete. (Bernd Kast: Die Thematik des „Eigners“ in der Philosophie Max Stirners, Bonn 1979, S. 237)

Der Eigner markiert den Bruch mit dieser dialektischen Entwicklung und den radikalen Neubeginn: Stirner hat die Entzweiung als Verdunkelung der Ursprünglichkeit aufgedeckt und nimmt sie im Eigner zurück. Er, der Eigner, ist der konkrete, existentielle Gegensatz zum dialektischen Fortschreiten von Bewußtseinsstufe zu Bewußtseinsstufe: „Ich bin Eigner der Welt der Dinge, und ich bin Eigner der Welt des Geistes“ (EE 72; ebenso EE 102). (ebd., S. 230)

Alles spielt eine Rolle nur in Bezug auf mich, dem Leibhaftigen. Die negerhaften Heiden waren Besessene, die auf einen bloßen Spuk hereinfielen, aber die mongolenhaften Christen, die das vermeintlich überwunden haben, waren noch größere Deppen. Die ersteren waren Kinder, die sich naiv an der Materie erfreuten, die letzteren bilderstürmerische Jugendliche, die der „Gedankenfreiheit“ frönten. Nunmehr aber tritt der erwachsene Germane an ihre Stelle und ist Eigner nicht nur der Dinge, sondern auch des Geistes. Stirner:

Wenn das Kind nicht einen Gegenstand hat, mit welchem es sich beschäftigen kann, so fühlt es Langeweile: denn mit sich weiß es sich noch nicht zu beschäftigen. Umgekehrt wirft der Jüngling den Gegenstand auf die Seite, weil ihm Gedanken aus dem Gegenstande aufgingen: er beschäftigt sich mit seinen Gedanken, seinen Träumen, beschäftigt sich geistig oder „sein Geist ist beschäftigt“.

Alles nicht Geistige befaßt der junge Mensch unter dem verächtlichen Namen der „Äußerlichkeiten“. Wenn er gleichwohl an den kleinlichsten Äußerlichkeiten haftet (z.B. burschikosen und andern Formalitäten), so geschieht es, weil und wenn er in ihnen Geist entdeckt, d.h. wenn sie ihm Symbole sind.

Wie Ich Mich hinter den Dingen finde, und zwar als Geist, so muß Ich Mich später auch hinter den Gedanken finden, nämlich als ihr Schöpfer und Eigner. In der Geisterzeit wuchsen Mir die Gedanken über den Kopf, dessen Geburten sie doch waren; wie Fieberphantasien umschwebten und erschütterten sie Mich, eine schauervolle Macht. Die Gedanken waren für sich selbst leibhaftig geworden, waren Gespenster, wie Gott, Kaiser, Papst, Vaterland usw. Zerstöre Ich ihre Leibhaftigkeit, so nehme Ich sie in die Meinige zurück und sage: Ich allein bin leibhaftig. Und nun nehme Ich die Welt als das, was sie Mir ist, als die Meinige, als Mein Eigentum: Ich beziehe alles auf Mich. (Der Einzige und sein Eigentum, S. 14)

Was gemeint ist, wird durch die Fehl- bzw. Trivialinterpretation von Stirners (Anti-) Philosophie wohl am deutlichsten: Du und gar deine Ideen sind mir egal! Was springt vielmehr für mich dabei raus? Tatsächlich hat die Sprache (Gedanken) hier ihre Grenzen. Um sich verständlich zu machen, mußte Stirner, wie oben dargelegt, beispielsweise auf Hegels Darstellung zurückgreifen und von der Phylo- und Ontogenese des Menschen schwadronieren. Alles nur, um etwas schwer Formulierbares doch irgendwie zu vermitteln.

Der Einzelne ist nicht mehr Ziel-, sondern Ausgangspunkt, d.h. nicht ich habe einen Beruf, sondern umgekehrt: ich „berufe“. Wenn ich die Dinge und Gedanke zu meinem Eigentum mache und sie „verwerte“, d.h. sie so benutze, wie ich sie gewertet habe, funktionalisiere ich sie.

Reflektionen über Max Stirner von konservativer Warte (Teil 139)

22. Juni 2024

[Diese Reihe soll zur Auseinandersetzung mit Bernd A. Laskas LSR-Projekt animieren.]

Was wollte Laska? Was hat ihn getrieben? Für sich selbst Klarheit schaffen im Gewirr des intellektuellen Lebens. „Selbstvergewisserung“, wie er selbst immer wieder sagte. Warum aber dann ein lohnloser Achtstundentag am LSR-Schreibtisch, all seine Veröffentlichungen und Korrespondenzen? Warum hat er nicht einfach sein Leben genossen, indem er mit seinen geliebten Hunden durch den nahen Nürnberger Wald spazierenging? Weil er einer Utopie anhing. Zitat aus seiner Website: https://www.lsr-projekt.de/wrnega.html

Reich schloß seinen Aufsatz über den Erziehungszwang mit den Worten: „Wir müssen daran denken, daß die ursprüngliche lebendige Kraft, die der Erziehungszwang zähmen will, aus sich selbst heraus einmal Kultur geschaffen hat. Man darf großes Zutrauen zu ihr haben. Ist es gewagt, zu behaupten, daß sich das Leben seine notwendigen Daseinsformen selbst am besten zu schaffen vermag?“ Das war die Grundformel einer nichtpräskriptiven Utopie, die das Dilemma moderner Philosophie, in das sie der Zwang zur Vermeidung des sog. naturalistischen Fehlschlusses führt, überwindet.

In diesem Sinne war Laska ein Getriebener. „Das Leben“ in ihm hat nach außen gestrebt hin zu einer Utopie. Der Eigner (im Sinne Stirners) sehnt sich nach dem Verein – auch wenn der Jahrhunderte entfernt ist. Der Verein schafft sich in der Kooperation der Individuen spontan seine Regeln gemäß dem „rationalen Über-Ich“.

LaMettrie, Stirner und Reich haben durch ihren frühen, elenden Tod ihr Leben „geopfert“, weil sie sich ansonsten selbst verraten hätten. Aber wie das formulieren, ohne daß man im Sinne Hegels, Nietzsches und Heideggers vom Geist/Willen/Sein schwafelt, das einen benutzt, um sich zu verwirklichen – Stichwort „irrationales Über-Ich“?

Bei ihrem letzten Treffen, als sie über die sozialen Konsequenzen der Psychoanalyse sprachen und Reich für seinen sozialen Aktivismus warb, meinte Freud zu ihm „Der Eros [Geist/Lebenswille/Sein] wird eine Anstrengung machen“, was Reich zutiefst befremdet hat. Erinnert irgendwie an das „Verhältnis“ von Stirner und Schopenhauer, LaMettrie und Rousseaus „Naturkult“.

Peter liest die Laska/Schmitz-Korrespondenz (Teil 16)

20. April 2024

Für Hermann Schmitz gibt es drei Grundverfehlungen des westlichen Geistes: erstens die autistische Verfehlung, d.h. heiß das In-sich-selbst-verrannt-sein, zweitens die „dynamistische“ Verfehlung, d.h. die Besessenheit mit Macht, und drittens die „ironistische“ Verfehlung, d.h. die Beliebigkeit des eigenen Standpunkts.

Damit steht Schmitz in denkbar fundamentaler Opposition gegen Stirner und dessen einzigen ernstzunehmenden Interpreten und „Propagandisten“, nämlich Bernd Laska. Geht es doch Stirner um genau das, dessen Bekämpfung Schmitz zu seiner Lebensaufgabe gemacht hat: erstens den unaussprechlichen „Einzigen“, zweitens den „Egoisten“ und drittens den „Eigner“, für den Wahrheit und Wirklichkeit sein frei verfügbares Eigentum sind.

Tatsächlich geht es Stirner in Laskas (einzig gültigen) Interpretation bei „Einzigkeit“, „Egoismus“ und „Selbsteignertum“ um die Befreiung von einer Instanz, einer „Besessenheit“ durch etwas wesensfremdes aber unhinterfragbar „Heiliges“, die Laska etwas hilflos als „Über-Ich“ bezeichnet. Gegen diese Instanz gilt es sich vermeintlich „autistisch“, „machtbesessen“, „ironistisch“ abzusetzen: WO ÜBER-ICH WAR, SOLL ICH WERDEN. Es geht um die Selbstbehauptung der Insassen eines weltweiten KZs! Eines KZs, das gar keiner Wachen bedarf, weil jeder Insasse eine „Wache“ in Gestalt seines Über-Ichs in sich trägt.

Schmitz ist für diese Perspektive absolut blind und führt wahnwitzigerweise das asoziale über-ich-gesteuerte „autistische“, „machtbesessene“, „ironistische“ Verhalten der KZ-Insassen auf den Einfluß jener zurück, die das ganze als einzige durchschaut haben und sich gegen das Über-Ich empört haben! Warum tut er das, warum diese auffällige Faszination für „das Heilige“ und „das Einpflanzen von Gefühlen“? Stockholmsyndrom (Laska ist James Bond und Schmitz sowohl die entführte Millionärstochter als auch, in einer Doppelrolle, M!):