
Wilhelm Reich, Physiker: 1. Biophilosophie, a. Platon und Aristoteles
LaMettrie war Arzt und entsprechend sind seine ersten philosophischen Schriften Naturgeschichte der Seele und Der Mensch als Maschine plus Der Mensch als Pflanze von der Physiologie geprägt. Hier führte er eine „Proto-Evolutionstheorie“ aus. Die Krux an seinem Maschinen-Bild ist die Kontinuität, die er zwischen Mensch und allen anderen Naturerscheinungen herstellt, bzw. wie er sie herstellt, es geht nämlich in beide Richtungen: der Mensch ist „auch nur eine Maschine“, aber umgekehrt kann die Maschine nur vom Menschen und seinem „Innenleben“ her verstanden werden, d.h. die Materie hat intrinsisch bereits „seelische“ Eigenschaften, die schließlich im Menschen, bedingt durch dessen Komplexitätsstufe, voll zutage treten. Das Bindeglied, das diese Konstruktion zusammenhielt, sollte schließlich der erste wirkliche Evolutionstheoretiker, Jean-Baptiste de Lamarck, finden. Dabei ist bemerkenswert, daß genauso wie LaMettrie im Zwischenbereich zwischen Physiologie, Psychologie und Soziologie mit seiner „tugendhaften Lust“ Reichs Orgasmustheorie vorwegnahm, Lamarck ein halbes Jahrhundert später das gleiche leistete in der erst von ihm von der Physiologie separierten Wissenschaft Biologie.
Aus Lamarcks Aussage, die Arten wären aus einem „inneren Bedürfnis“ (das er mit Aristoteles „Entelechie“ nennt) nach Weiterentwicklung entstanden, sollte Henri Bergson den Begriff „élan vital“ bilden, der Reich den Weg zur Entdeckung der Orgonenergie wies.
Es muß jeden Leser befremden, wenn er bei Reich liest, der Orgasmus sei das Grundphänomen des Lebens und daß die biologische Forschung und ganz allgemein die Wissenschaft nicht vorankomme, solange die Gesellschaft es unterlasse, diese Grundfunktion bei ihren Mitgliedern zu schützen und zu fördern. Dieses Befremden kommt nicht etwa daher, weil diese Aussage an sich befremdlich wäre. Ganz im Gegenteil, die Wissenschaft und das allgemeine Bewußtsein der Menschen in den letzten 200 Jahren hat eine denkbar befremdliche, leben(digkeit)sferne Richtung eingeschlagen.
In seiner 1809 erschienenen Zoologischen Philosophie hat Lamarck ausgeführt, der Orgasmus sei das „allgemeine Phänomen, von dem das Leben abhängt“. [Ich verdanke diesen Hinweis den entsprechenden Ausführungen des Kulturwissenschaftlers Peter Berz („Die andere Biologie des Wilhelm Reich“, In: Johler 2008, S. 109f).] Lamarck spricht in seinem Buch von „wirkenden und ausdehnenden Fluida, die die erregende Ursache der Lebensbewegungen bilden“. Sie dringen, so Lamarck, von außen in den Körper ein und werden wieder „ausgedünstet“ (Johler 2008, S. 55). In diesem Zusammenhang führt er den Begriff „Orgasmus“ ein. Dabei sei jedoch nicht „von dem besonderen Affekt, den man Orgasmus nennt“, die Rede, sondern von dem „eigenartigen Spannungszustand“ der Organe und Organsysteme, „der ihnen die Fähigkeit gibt, zu erschlaffen und sogleich zu reagieren, wenn sie irgendeinen Eindruck erhalten“ (Johler 2008, S. 56). Und weiter: „Der Orgasmus der bildsamen und inneren Teile der Tiere trägt mehr oder weniger zur Erzeugung der organischen Erscheinungen dieser lebenden Organismen bei; er wird hier durch ein (vielleicht auch mehrere) unsichtbares, ausdehnendes und durchdringendes Fluidum unterhalten, das mit einer gewissen Langsamkeit die Teile durchdringt und in ihnen die Spannung oder […] Erethismus [Erregbarkeit] hervorbringt […]“ (Johler 2008, S. 56).
Berz führt aus:
Vor ihm habe man, so Lamarck, „Sensibilität“ und „Reizbarkeit“ allen Organismen zugesprochen. Dann sei die Unterscheidung zwischen einer Sensibilität für Sinneseindrücke, die von einem eigenen Organ, dem Nervensystem, abhängt, und einer Sensibilität ohne Nervensystem eingeführt worden. Sie ist es, die Lamarck neu denkt und Orgasmus nennt. Aufs Ganze des Tierreichs gesehen ist nämlich die Existenz des Nervensystems, also eines Organs mit „Beziehungsmittelpunkt“, nach Lamarck eine äußerst seltene Erscheinung. Verstreute Reizbarkeit dagegen beobachtet man überall, schon „bei den einfachsten tierischen Organismen“. Damit Reizbarkeit bei ihnen sein kann, muß es Orgasmus geben. Plötzliches Zusammenziehen bei Reizung hat ein rasches „Ausströmen des unsichtbaren Fluidums“ an der gereizten Stelle zur Folge, während über die benachbarten Stellen ein „vorübergehendes Zittern“ geht; dann dehnt ein neues Quantum Fluidum die Teile aus: der Organismus wird wieder reizbar. Da sich die Pflanzen nur ganz langsam ausdehnen und zusammenziehen, sie weder reizbar noch sensibel sind, haben sie auch nur einen „dunklen Orgasmus“. Bei den Tieren dagegen, die durch Lungen atmen, ist der Orgasmus sehr stark. Schon das „abwechselnde Ausdehnung und Zusammenziehen“ der Höhle, die ihr Atmungsorgan enthält, zeugt von dieser Stärke. (Johler, S. 110)
Wirklich in jeder Beziehung vermeint man Reich zu lesen! Die tugendhafte Lust entspricht den kosmischen Formgesetzen, für die die konventionelle Biologie blind ist.
Ein neuer Artikel auf http://www.orgonomie.net:
Lesebegleitungen zu den späten Schriften Wilhelm Reichs (1995-1997)