Posts Tagged ‘Zyklon B’

Das ultimative Tabu (Teil 6)

11. September 2021

In einem Interview von 1986 über den Hitler-Ludendorff-Putsch von 1923 sagte der Jugendaktivist des Putsches und spätere SS-Sturmbannführer Gustav Adolf Lenk (Jahrgang 1903) auf Bayern 3 (6. Nov. 1993), daß es drei Vorbilder gegeben hätte, denen er Zeit seines Lebens gefolgt wäre: „Hitler, Rudolf Steiner und General Ludendorff“. 1922 hatte Lenk den „Jugendbund der NSDAP“ gegründet und nachdem die NSDAP verboten wurde, gründete er 1924 die „Großdeutsche Jugendbewegung“ – aus der dann die Hitler-Jugend wurde.

Ein anderer SS-Anthroposoph war der Chef der Abteilung III des Reichssicherheits-Hauptamtes, der SS-Obersturmführer Otto Ohlendorf, der seine anthroposophischen Gesinnungsgenossen im Dritten Reich aktiv unterstützte. Jahrgang 1907 trat er 1925 als eines der ersten Mitglieder in die neugegründete NSDAP ein, 1926 kam er zur SS und 1936 zum SD, wo er für „Volkstum“ und den Inlandsnachrichtendienst verantwortlich war und in dieser Eigenschaft den Holocaust plante. Zwischen Juni 1941 und Juli 1942 war er Leiter der „SS-Einsatzgruppe D“, die in Rußland mehr als 91 000 Juden ermordete.

Himmler nannte den Anthroposophen und puritanischen Vertreter der NS-Orthodoxie verächtlich „Gralsritter des Nationalsozialismus“. Am Ende des NS-Regimes versuchte Ohlendorf als SD-Inlands-Chef, und damit als einer der mächtigsten Männer des Reiches, dieses durch anthroposophische „Dreigliederung“ zu retten, wobei die NSDAP zu einem von aller Machtpolitik befreiten „Tempel der Weisheit“ werden sollte. Bis zu seiner Exekution 1951 als Kriegsverbrecher blieb er glühender Nationalsozialist und Anthroposoph.

In den Erinnerungen einer französischen Korrespondentin im Deutschland der 1930er Jahre entdeckte ich folgenden Fall: 1935 durfte Jules Sauerwein vom Paris-Soir als erster ausländischer Journalist ein KZ besichtigen. Als Sauerwein nach Berlin zurückkehrte, fiel der Jounalistin an Sauerwein auf, daß er so begeistert war, wie sie ihn nie zuvor erlebt hatte. Sauerwein war beim Besuch des KZs Sonnenburg von einem jungen SS-Mann aus dem Justizministerium begleitet worden. Der SS-Offizier hatte sich auf der gemeinsamen Reise als glühender Anhänger Steiners erwiesen, was sich gut traf, denn Sauerwein hatte die Bücher Steiners ins Französische übersetzt. Der anthroposophische SS-Mann „Alexander“ erklärte seinem anthroposophischen Glaubensbruder und Duzfreund „Jules“ das KZ wie folgt:

Das ist eine unserer schönsten Einrichtungen. Das sind keine Straflager, sondern Besserungsanstalten. Wir halten unsere Häftlinge nicht für Kriminelle, sondern für Verirrte.

(Offenbar eine Art von Waldorf-Schule!) Dementsprechend enthusiastisch war auch der Bericht des Anthroposophen Sauerwein im Paris-Soir (Stephane Roussel: Die Hügel von Berlin, Hamburg 1986, S. 189-91).

Der Lebensreformer Rudolf Heß las die Schriften Steiners mit großem Interesse, aß nur, was auf anthroposophischen Bauernhöfen angebaut wurde und sogar Hitler selbst bezog seine vegetarische Nahrung ausschließlich von einem anthroposophischen Bauernhof. Sein Stellvertreter nahm die Waldorf-Schulen und die anthroposophische „Christengemeinschaft“ unter seinen persönlichen Schutz, während Walther Darré, der NS-Reichsbauernführer und Landwirtschaftsminister, das gleiche für die anthroposophisch-biodynamische Landwirtschaft tat.

1941 ordnete Himmler eine wissenschaftliche Studie in Auschwitz an, um ein für allemal festzustellen, ob anthroposophische (die Himmler vorzog) oder industrielle Anbaumethoden bessere Resultate erbringen würden. In einem Briefwechsel über seinen Befehl den biodynamischen Anbau in Auschwitz zu untersuchen, erwähnt Himmler einen ungenannten SS-Offizier, der ein agitierender Anthroposoph in Auschwitz sei (Helmut Heiber: Reichsführer! – Briefe an und von Himmler, Stuttgart 1968, S. 89f).

1944 war Thies Christophersen „SS-Sonderführer für Pflanzenzucht“ im Auschwitzer Zweig-KZ Raisko, mit anthroposophischem Anbau. Nach dem Krieg leitete er ein neo-nationalsozialistisches Netzwerk. 1973 veröffentlichte er das Buch Die Auschwitzlüge mit einer Auflage von insgesamt 100 000. Er veröffentlichte die neonazistische Zeitschrift Die Bauernschaft, wo er u.a. den anthroposophischen Anbau propagierte.

Der Anthroposoph Franz Lippert, Leiter des Heilpflanzenanbaus bei der anthroposophischen Aktiengesellschaft „Weleda“, die anthroposophische Medizin herstellt, wurde ins KZ Dachau abkommandiert, um dort den medizinischen Kräutergarten der SS zu leiten. Auch wurden in Dachau Gefangene unterkühlt bis der Tod eintrat, um die Weleda-Frostschutzcreme zu testen. Ausgeführt wurden diese Versuche von dem KZ-Arzt, Anthroposophen und SS-Hauptsturmführer Dr. Sigmund Rascher.

Raschers wuchs in einer prominenten anthroposophischen Familie auf mit engen Verbindungen zu Steiner persönlich. Ich verweise den geneigten Leser auf den Aufsatz Vom Muttersöhnchen zum Massenmörder – Überlegungen zu einer fatalen Biographie von Hubert Rehm.

Die okulare Panzerung an den Rändern

5. Dezember 2016

Je weiter man zu den beiden extremen des soziopolitischen Spektrums geht, desto schwerwiegender wird die okulare Panzerung. Man schaue sich etwa das Geschwafel von Holocaust-Leugnern an, die einfach nicht sehen, daß „Zyklon B“ (Blausäure) ein sehr schlechtes Insektenvernichtungsmittel ist, aber bei Säugetieren schnell und sicher zum Tod führt. Es wurde nur deshalb als Insektenvernichtungsmittel benutzt, weil es sich rückstandlos verflüchtigt und deshalb problemlos etwa in Getreidesilos angewendet werden konnte, auch wenn diese über viele Stunden begast werden mußten, damit tatsächlich alle Insekten starben. Das Mittel war leicht, und ohne großes Aufsehen zu erregen, verfügbar und ideal für den Massenmord an Menschen, ohne etwa mit Kontaminierungen kämpfen oder „Industrieunfälle“ befürchten zu müssen. Liest man dazu Neo-Nazi-Seiten im Internet, wird einem nicht nur speiübel, sondern man bekommt auch Kopfschmerzen angesichts der verqueren Logik dieser Leute. Es ist nicht nur Propaganda – sie sind wirklich nicht in der Lage klar zu denken. Eine Diskussion ist vollkommen sinnlos.

Genauso sieht es bei der extremen Linken aus, die wie selbstverständlich mit den schlimmsten Neo-Nazis „Aktionsbündnisse“ eingehen, etwa den türkischen „Grauen Wölfen“, nur weil diese keine „weißen Männer“ sind. Sie würden auch Hitler toll finden, wenn der nur brauner, gelber oder schwarzer Hautfarbe gewesen wäre! Ich kann mich noch allzugut an ihre überbordende Begeisterung für „nationale Befreiungsbewegungen“ erinnern – und wie buchstäblich keinem von ihnen die ganze Ironie dieses Begriffes aufgegangen ist! Erinnert sich noch jemand, mit welchem Haß und welcher Verachtung sie auf die „Refugees“ der 1970er Jahre, die vietnamesischen „Boat People“, reagiert haben?

Auf beiden Seiten hat man es schlichtweg mit Irren zu tun. Daß sie zunehmend ernstgenommen werden, ist der generellen Zunahme an okularer Panzerung in der Bevölkerung zu schulden.