Posts Tagged ‘Egoismus’

Max Stirner, Soter (Teil 13)

28. Juni 2025

Ein Mensch wird zum „Eigner von Allem“, wenn er nicht nur auf billige und wohlfeile Weise die Spintisierereien seiner Mitmenschen dem Spott preisgibt, sondern es vermag, alle, insbesondere seine eigenen (bzw. „eigenen“!), großen, erhabenen, heiligen, begeisternden Gedanken, Gefühle und Glaubenssätze mit einem Lächeln abzuschütteln (Der Einzige, S. 403). Kurz, er ist ein Egoist, dem nichts über sich geht. Das bedeutet nicht Größenwahnsinn, sondern einfach, daß man sich zu schätzen weiß (Der Einzige, S. 208).

Unbewußt und unwillkürlich streben Wir alle der Eigenheit zu, und schwerlich wird Einer unter Uns sein, der nicht ein heiliges Gefühl, einen heiligen Gedanken, einen heiligen Glauben aufgegeben hätte, ja Wir begegnen wohl keinem, der sich nicht aus einem oder dem anderen seiner heiligen Gedanken noch erlösen könnte. All unser Streit wider Überzeugungen geht von der Meinung aus, daß Wir den Gegner etwa aus seinen Gedankenverschanzungen zu vertreiben fähig seien. Aber was Ich unbewußt tue, das tue Ich halb, und darum werde Ich nach jedem Siege über einen Glauben wieder der Gefangene (Besessene) eines Glaubens, der dann von neuem mein ganzes Ich in seinen Dienst nimmt und Mich zum Schwärmer für die Vernunft macht, nachdem Ich für die Bibel zu schwärmen aufgehört, oder zum Schwärmer für die Idee der Menschheit, nachdem Ich lange genug für die der Christenheit gefochten habe. (Der Einzige, S. 403)

Weil niemand dem Begriff „Mensch“ gerecht werden kann, niemand ein „wirkliches Gattungswesen“ (Der Einzige, S. 192) werden kann, gibt es gar keine Menschen. „Mensch“ soll, Stirner zufolge, nicht mehr meine unerreichbare Bestimmung sein, sondern einfach meine unveräußerliche Eigenschaft; etwas ist „menschlich“, weil ich, der Eigner der Eigenschaft „Mensch“, es tue (Der Einzige, S. 194f). „Ich verrichte nie in abstracto Menschliches, sondern immer Eigenes, d.h. meine menschliche Tat ist von jeder anderen menschlichen verschieden und ist nur durch diese Verschiedenheit eine wirkliche, Mir zugehörige Tat. Das Menschliche an ihr ist eine Abstraktion, und als solches Geist, d.h. abstrahiertes Wesen“ (Der Einzige, S. 197).

Der Eigner ist Egoist (Der Einzige, S. 351), denn das Egoistische kann nicht bewilligt oder verliehen werden (Lehen), sondern man muß es sich selbst verschaffen (Der Einzige, S. 322) – das Egoistische „nicht, wie es am Menschlichen, Humanen und Uneigennützigen sich messen läßt, sondern das Egoistische als das –Einzige“ (Der Einzige, S. 162). Wird der Egoismus auf das Wesentliche reduziert, stößt man auf die Einzigkeit (Der Einzige, S. 147). Im gewöhnlichen „Egoismus“ verliere ich jedoch genau das: meine Einzigkeit.

Der von sich selbst nicht entfremdete, also der einzige/einzigartige Mensch vollzieht stets nur seine eigene Tat, die erst durch diese Authentizität eine wirkliche Tat ist (Der Einzige, S. 197). Er verwechselt sich nicht selbst mit seinem „Amt“, ist kein Geist, sondern leibhaftig (Der Einzige, S. 385). Es geht ihm nicht um ein illusorisches „Selbstbewußtsein“, das aus seiner „Berufung“ erwächst, sondern einzig und allein um seinen „Selbstgenuß“ (Der Einzige, S. 358).

Kein Schaf, kein Hund bemüht sich, ein „rechtes Schaf, ein rechter Hund“ zu werden; keinem Tier erscheint sein Wesen als eine Aufgabe, d.h. als ein Begriff, den es zu realisieren habe. Es realisiert sich, indem es sich auslebt, d.h. auflöst, vergeht. Es verlangt nicht, etwas Anderes zu sein oder zu werden, als es ist. (Der Einzige, S. 372)

Man denke dabei nicht an irgendeine „Philosophie“, sondern stets an das – Über-Ich:

Ein Mensch ist zu nichts „berufen“ und hat keine „Aufgabe“, keine „Bestimmung“, so wenig als eine Pflanze oder ein Tier einen „Beruf“ hat. Die Blume folgt nicht dem Berufe, sich zu vollenden, aber sie wendet alle ihre Kräfte auf, die Welt, so gut sie kann, zu genießen und zu verzehren, d.h. sie saugt so viel Säfte der Erde, so viel Luft des Äthers, so viel Licht der Sonne ein, als sie bekommen und beherbergen kann. Der Vogel lebt keinem Berufe nach, aber er gebraucht seine Kräfte so viel es geht: er hascht Käfer und singt nach Herzenslust. Der Blume und des Vogels Kräfte sind aber im Vergleich zu denen eines Menschen gering, und viel gewaltiger wird ein Mensch, der seine Kräfte anwendet, in die Welt eingreifen als Blume und Tier. Einen Beruf hat er nicht, aber er hat Kräfte, die sich äußern, wo sie sind, weil ihr Sein ja einzig in ihrer Äußerung besteht und so wenig untätig verharren können als das Leben, das, wenn es auch nur eine Sekunde „stille stände“, nicht mehr Leben wäre. Nun könnte man dem Menschen zurufen: gebrauche deine Kraft. Doch in diesem Imperativ würde der Sinn gelegt werden, es sei des Menschen Aufgabe, seine Kraft zu gebrauchen. So ist es nicht. Es gebraucht vielmehr wirklich Jeder seine Kraft, ohne dies erst für seinen Beruf anzusehen: es gebraucht Jeder in jedem Augenblicke so viel Kraft als er besitzt. Man sagt wohl von einem Besiegten, er hätte seine Kraft mehr anspannen sollen; allein man vergißt, daß, wenn er im Augenblick des Erliegens die Kraft gehabt hätte, seine Kräfte (z.B. Leibeskräfte) anzuspannen, er es nicht unterlassen haben würde: war es auch nur die Mutlosigkeit einer Minute, so war dies doch eine minutenlange – Kraftlosigkeit. Die Kräfte lassen sich allerdings schärfen und vervielfältigen, besonders durch feindliche Widerstand oder befreundeten Beistand; aber wo man ihre Anwendung vermißt, da kann man auch ihrer Abwesenheit gewiß sein. Man kann aus einem Steine Feuer schlagen; aber ohne den Schlag kommt keines heraus; in gleicher Art bedarf auch ein Mensch des „Anstoßes“. (Der Einzige, S. 366f)

Wir alle üben ein „Amt“ aus, bzw. leben im Wahn einen Beruf, eine Aufgabe, eine Pflicht zu haben. Der Einzige läßt sich aus dem Gegensatz von Amt und Amtsträger definieren, z.B. ist der Papst kein „Einziger“: „als Einziger ist er dieser Sixtus, Clemens usw., aber als Sixtus, Clemens usw. hat er die Wahrheit nicht, sondern als ‚heiliger Vater‘, d.h. als ein Geist“ (Der Einzige, S. 385). Will sagen, mit Verlaub, der Einzige scheißt auf eure Wahrheit, eure Ethik, euer Recht, eure gesamte Gesellschaft, denn die sind – Fleischwölfe. Gegen diese empört sich das Lebendige. „Für einen bloßen Teil, Teil der Gesellschaft, angesehen zu werden, erträgt der Einzelne nicht, weil er mehr ist; seine Einzigkeit wehrt diese beschränkte Auffassung ab“ (Der Einzige, S. 294).

Email („Diagnose“ für Stirner) 2004

1. Juni 2025

Email („Diagnose“ für Stirner) 2004

Max Stirner, Soter (Teil 7)

1. Mai 2025

Das Ich ist der, so Stirner, „dritte Faktor“ zwischen dem Realen (der Vergangenheit bzw. natürlich deren Produkt) und dem Idealen (der Zukunft bzw. deren „Idee“). Es kann zwar weder die Vergangenheit beeinflussen, noch die Zukunft nach Belieben gestalten, aber es ist weder gezwungen das bestehende Reale zu heiligen und dergestalt zu perpetuieren, noch braucht es irgendwelche „heiligen Ideale“ real zu machen. In diesem Sinne „vernichtet“ das Ich sowohl die Realität als auch die Idealität (Der Einzige, S. 407). Statt er selbst zu sein, „frei“ zu sein, ist der Mensch in der Welt gefangen, wenn er das Reale heiligt und das Heilige real machen will. Der einzige Ausweg ist der Einzige, der sowohl das Reale als auch das Ideale (Der Einzige, S. 407), d.h. die „natürliche“ und die „sittliche“ Welt vernichtet (Parerga, S. 210). Mit anderen Worten: er akzeptiert die Zeit, so wie sie ist: die Vergangenheit liegt hinter uns und die Zukunft ist noch nicht da – ich LEBE in der Gegenwart. Es gilt, die Welt zu meinem Eigentum zu machen – damit ich nicht ihr Eigentum werde, d.h. Knecht der Tradition oder irgendwelcher Utopien.

„Wenn der Mensch erst seine Ehre darein setzt, sich selbst zu fühlen, zu kennen und zu betätigen, also in Selbstgefühl, Selbstbewußtsein und Freiheit, so strebt er von selbst, die Unwissenheit, die ihm ja den fremden, undurchdrungenen Gegenstand zu einer Schranke und Hemmung seiner Selbsterkenntnis macht, zu verbannen“ (Parerga, S. 91). Es geht um das An-Eignen von im Laufe der Zeit angesammelten Weltwissen; Wissen, das dergestalt persönlich geworden ist (Parerga, S. 88). Und es ist der Gegensatz zwischen dem nüchternen Ruf an den „geborenen Freien“ „Komm zu Dir!“ auf der einen Seite – und die verhängnisvolle romantische Sehnsucht der Träumer und Schwärmer nach „Freiheit“, „Jenseitigkeit“ und Zukunft auf der anderen Seite (Der Einzige, S. 180f). „Sehnsucht und Hoffnung überall, und nichts als diese. (…) Soll der Lebensgenuß über die Lebenssehnsucht oder Lebenshoffnung triumphieren, so muß er sie in ihrer doppelten Bedeutung (…) bezwingen, die geistliche und weltliche Armut [vernichten], das Ideal vertilgen und – die Not ums tägliche Brot“ (Der Einzige, S. 360): wie gesagt, das Reale und das Ideale bewältigen.

Wohlgemerkt, der tumbe hedonistische Allerweltsegoismus ist auch nur Verdinglichung bzw. Idealisierung des vermeintlich „eigenen“ Ichs. Zwar will man sich nicht opfern, ist aber trotzdem zum „Selbstgenuß“ im Stirnerschen Sinne nicht in der Lage, denn der Ich-Verrückte kann sich nicht genießen – nicht auflösen (Der Einzige, S. 361). „Sein“ vermeintliches „Ich“ ist nämlich doch nur ein „Ding“, ein „Geschöpf“, kreiert von anderen oder es ist eine zukünftige Vision, d.h. eine Chimäre. „Was wäre das Ideal wohl anders, als das gesuchte, stets ferne Ich?“ (Der Einzige, S. 359f). Deshalb gibt es zwischen den Gottesfürchtigen und Selbstsüchtigen eine heimliche Identität; obzwar feindliche Brüder, sind sie eben deshalb die nächsten Verwandten (Parerga, S. 47f).

Sowohl in der alten Religion als auch im neuen Materialismus dreht sich alles darum, etwas festzuhalten, sei es die „unsterbliche Seele“, sei es die „Liebe“ oder seien es materielle Güter. Ausgerechnet der „Egoist“ Stirner bricht radikal mit dieser Tradition: „Ein Interesse, es sei wofür es wolle, hat an Mir, wenn Ich nicht davon loskommen kann, einen Sklaven erbeutet, und ist nicht mehr mein Eigentum, sondern Ich bin das seine. Nehmen wir daher die Weisung der Kritik an, keinen Teil unseres Eigentums stabil werden zu lassen, und Uns nur wohl zu fühlen im – Auflösen“ (Der Einzige, S. 157). Das gilt auch für das eigene Ich! Man sucht nicht nach sich selbst, man bangt nicht um sich selbst, sondern genießt sich: „Erst dann, wenn Ich Meiner gewiß bin und Mich nicht mehr suche, bin Ich wahrhaft mein Eigentum: Ich habe Mich, darum brauche und genieße Ich Mich. Dagegen kann Ich Meiner nimmermehr froh werden, solange Ich denke, mein wahres Ich hätte Ich erst noch zu finden (…)“ (Der Einzige, S. 359).

Alle Religion, „Spiritualität“, Weltanschauung, Philosophie, wie immer sie auch geartet sei, ist nur eine pervertierte Kümmerform des Selbstgenusses. „Es will der Geist sich ausbreiten, sein Reich zu gründen, ein Reich, das nicht von dieser Welt ist (…). So sehnt er sich denn alles in allem zu werden (…)“ (Der Einzige, S. 12). „Der Himmel ist das Ende der Entsagung, er ist der freie Genuß. Dort versagt sich der Mensch nichts mehr, weil ihm nichts mehr fremd und feindlich ist“ (Der Einzige, S. 73). Entsprechend ist das Ziel aller religiösen und oder „sozialistischen“ Erlösung doch nur der – Selbstgenuß, der „Himmel“ bzw. der „Himmel auf Erden“. Unser Erlöser Stirner ist der einzige, DER EINZIGE, der diesem degoutanten, tragikomischen Unsinn ein Ende setzt.

Max Stirner, Soter (Teil 2)

5. April 2025

Natürlich bleiben auch die Demütigen und Zurechtgebogenen stets nichts anderes als Egoisten – aber welche, die durch ihr instinktloses, tölpelhaftes, brutales Verhalten, dem Egoismus einen schlechten Leumund verschaffen. Aus diesem Grunde ist Stirner auch kaum für den „Normalo“ geeignet – der, verkorkst wie er ist, nur auf dumme Gedanken kommt. Immerhin: vielleicht wächst er ja über sich selbst hinaus – und lernt, seinen Kindern nicht das anzutun, was ihm selbst angetan wurde. Aber zurück zum Problem: Wie Perverse leben sich die instinktlosen Tölpel nicht ganz aus, sondern stets nur abgetrennte und deshalb groteske Teilaspekte ihres Daseins. Es ist ein „unfreiwilliger“ Egoismus, d.h. ein Egoismus, der sich selbst nicht als solchen (an)erkennt.

Gegen diese „Besessenen“ setzt Stirner den bewußten Egoisten, den „mit sich einigen Egoisten“ (Der Einzige, S. 286), der „sich selbst fühlt“ (Der Einzige, S. 302), zu sich gekommen ist, bei sich zu Hause ist (Der Einzige, S. 320), „Selbstgefühl“ (Der Einzige, S. 303). Bei Reich ist dieser „ganzheitliche“ (im Gegensatz zum innerlich zerrissenen, verkrüppelten, d.h. gepanzerten) Egoismus funktionell identisch mit voller Integration und dem freien Fließen der kosmischen Orgonenergie durch den Körper. Stirner spricht vom „unablässigen Fluten ihrer stündlichen Selbstschöpfung“ bei echten Egoisten, ihrer „zuckend und schauernd“ erfahrenen „seligen Passion einer unaufhörlichen Verjüngung und Neugeburt“ (Stirner: Parerga, Kritiken, Repliken, Nürnberg 1986, S. 92f).

Ohne diese innerliche Ganzheit ist nur eine in sich zerrissene, in sich widersprüchliche, impotente Aufmüpfigkeit gegen die bestehenden Verhältnisse möglich, die auf diese Weise schließlich doch immer wieder reproduziert werden (man betrachte die Geschichte Frankreichs oder Rußlands!), während das, was Stirner als „Empörung“ bezeichnet, aus innerer Souveränität fließt, die sich nicht aus dem Kampf gegen das Bestehende definiert, sondern den bestehenden Irrsinn mit Nichtbeachtung straft. Der Empörer entzieht dem Bestehenden den Lebenssaft, indem er es verläßt und sich über es erhebt (Der Einzige, S. 354).

Was Stirner damit meinte, kann man sich am ehesten anhand des Christentums vergegenwärtigen. Stirner vergleicht das christliche „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist“ mit den gleichzeitigen aufwieglerischen Bewegungen der Juden gegen die Fremdherrschaft. Jesus sei kein Revolutionär gewesen, sondern ein Empörer. Aus einer Veränderung der Zustände, sah er kein Heil erwachsen, stattdessen richtete er sich empor. „Er war gerade darum, weil er das Umwerfen des Bestehenden von sich wies, der Todfeind und wirkliche Vernichter desselben; denn er mauerte es ein, indem er darüber getrost und rücksichtslos den Bau seines Tempels aufführte, ohne auf die Schmerzen des Eingemauerten zu achten“ (Der Einzige, S. 355f). „Im ‚los‘ vollenden Wir die vom Christentum empfohlene Freiheit, im sündlos, gottlos, sittenlos usw.“ (Der Einzige, S. 173).

Man vermerkt es liberalerseits den ersten Christen übel, daß sie gegen die bestehende heidnische Staatsordnung Gehorsam predigten, die heidnische Obrigkeit anzuerkennen befahlen und ein „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist“ getrost geboten. Wieviel Aufruhr entstand doch zu derselben Zeit gegen die römische Oberherrschaft, wie aufwieglerisch bewiesen sich die Juden und selbst die Römer gegen ihre eigene weltliche Regierung, kurz wie beliebt war die „politische Unzufriedenheit“! Davon wollten jene Christen nichts wissen; wollten den „liberalen Tendenzen“ nicht beitreten. Die Zeit war politisch so aufgeregt, daß man, wie’s in den Evangelien heißt, den Stifter des Christentums nicht erfolgreicher anklagen zu können meinte, als wenn man ihn „politischer Umtriebe“ bezichtigte, und doch berichten dieselben Evangelien, daß gerade er sich am wenigsten an diesem politischen Treiben beteiligte. Warum aber war er kein Revolutionär, kein Demagoge, wie ihn die Juden gerne gesehen hätten, warum war er kein Liberaler? Weil er von einer Änderung der Zustände kein Heil erwartete, und diese ganze Wirtschaft ihm gleichgültig war. Er war kein Revolutionär, wie z.B. Cäsar, sondern ein Empörer, kein Staatsumwälzer, sondern Einer, der sich emporrichtete. Darum galt es ihm auch allein um ein „Seid klug wie die Schlangen“, was denselben Sinn ausdrückt, als im speziellen Falle jenes „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist“; er führte ja keinen liberalen oder politischen Kampf gegen die bestehende Obrigkeit, sondern wollte, unbekümmert um und ungestört von dieser Obrigkeit, seinen eigenen Weg wandeln. Nicht minder gleichgültig als die Regierung waren ihm deren Feinde, denn was er wollte, verstanden beide nicht, und er hatte sie nur mit Schlangenklugheit von sich abzuhalten. Wenn aber auch kein Volksaufwiegler, kein Demagog oder Revolutionär, so war er und jeder der alten Christen um so mehr ein Empörer, der über Alles sich emporhob, was der Regierung und ihren Widersachern erhaben dünkte, und von Allem sich entband, woran jene gebunden blieben, und der zugleich die Lebensquellen der ganzen heidnischen Welt abgrub, mit welchen der bestehende Staat ohnehin verwelken mußte. (Der Einzige, S. 355f)

Warum taucht Der Einzige und sein Eigentum in der Bibliographie von Reichs Buch über die Jesus-Geschichte, Christusmord 1953 auf? Weil Reich sich an die obige Stelle (Der Einzige, S. 355f), die er 1919/20 gelesen hatte und die man leicht überliest, nach Jahrzehnten erinnert? Kaum! Weil das Buch zu seiner Entwicklung gehört und deshalb in einem Buch genannt werden muß, das in der Reihe „Biographische Materialien“ erscheint? Kaum, denn dafür ist diese Bibliographie denn nun doch viel zu fixiert auf das Christusthema. Bleibt als Möglichkeit, daß Reich kurz vorher Der Einzige erneut gelesen hat. Ich weiß, daß ich wieder über alle zulässigen Grenzen hinaus spekuliere, aber was soll’s:

Die obige Stelle war die unmittelbare Initialzündung für Reichs Christusmord und die erneute Lektüre Stirners hat, ähnlich wie bei Carl Schmitt in der Kerkerhaft (siehe Bernd A. Laska: „Katechon“ und „Anarch“. Carl Schmitts und Ernst Jüngers Reaktionen auf Max Stirner), etwas mit Reichs damaliger Lebenskrise zu tun: „Alone“, ORANUR, die zerfallende Ehe, der Bruch mit Theodore Wolfe, Zeitzeugen zufolge hat sich Reich plötzlich vollkommen verändert, der Rückzug nach Maine, der angebliche Ausbruch seiner Psychose (Boadella et al.), Reichs Konfrontation mit dem Herztod, an dem er denkbar knapp vorbeischlitterte, etc. – damals ist etwas zerbrochen und dieser Bruch hat etwas mit der Stirner-Lektüre zu tun!

Das würde bedeuten, daß Reichs Leben sich zwischen zwei Stirner-Lektüren ausspannt. Vorspiel 1919/20: Stirner-Lektüre – im Drama 1923-1951 (von der Orgasmustheorie bis zum ORANUR-Experiment) wird das Stirner-Erlebnis verdaut, Palimpsests im Sinne Laskas aufgebaut und das „unterirdische“ LSR-Projekt weitergebracht – Finale: alles bricht zusammen, die ORANUR-Krise: Reich stellt fest, daß das „unnatürliche“ Irrationale einen Platz im Natürlichen hat – zerschmettert und desillusioniert findet der Held wieder Trost beim „Bruder Max“ seiner frühen Jahre: erneute Stirner-Lektüre – Christusmord. Nachspiel: „Ich bin ein Außerirdischer!“ – Zugegeben Spekulation.

Was ist der Sinn des Lebens, der Sinn der Welt? (Teil 2)

13. Februar 2025

In der heutigen Mephistophelischen (antiautoritären) Gesellschaft steht, wie der Begriff „antiautoritär“ bereits sagt, vor allem eines im Vordergrund: Ich! Alles ist von Egoismus und „Ego-Zentrik“ geprägt. „Selbstverwirklichung“ ist der eine, unhinterfragbare höchste Wert. Selbst im „spirituellen“ Bereich steht der Egotrip im Vordergrund. Weltanschauungen und sogar „Religionen“ werden ganz nach eigenem Gusto paßgenau zugeschnitten, so daß ja keine „Entfremdung“ auftritt.

Als Heilmittel gegen diese verhängnisvolle Atomisierung der Gesellschaft wird uns das angedient, was in der alten autoritären Gesellschaft einzig und allein wichtig war: die Sache! Man müsse sich auf das alte Wir-Gefühl besinnen, auf die überkommenen Religionen mit ihren unverrückbaren Dogmen und Traditionen, auf die Nation, etc.

Im ersteren Fall geht es um Willkür und „Freiheit“, im letzteren um „Charakter“ und Verbindlichkeit. Man opfert entweder im Zweifelsfall andere auf dem Altar des eigenen Ich oder man opfert sich selbst auf dem Altar der Gemeinschaft.

Das beschreibt ungefähr den gegenwärtigen Zustand der gesellschaftlichen Panzerung: Ichbezogene und restlos verzogene Kinder treiben die Lehrer in den Wahnsinn, die ihnen Verantwortung und ein „Gemeinschaftsgefühl“ nahebringen wollen. Diese Lehrer treiben mit ihren weltfremden Ideen über „Selbstverwirklichung“ wiederum so manche Eltern, die mit beiden Beinen in der wirklichen Welt stehen, in die Verzweiflung. Dergestalt stehen sich überall, je nach dem jeweiligen funktionellen Zusammenhang, stets zwei Fraktionen gegenüber und blockieren sich gegenseitig und damit die gesamte Gesellschaft: „Ich!“ gegen „Die Sache!“

Tatsächlich kann nur ein Schwein sich selbst und nur ein Idiot irgendeine „Sache“ wichtig nehmen. Der erstere lebt vollkommen abgetrennt von seinem bioenergetischen Kern „prinzipienlos“ in seiner äußeren Charakterschicht, der Fassade; während letzterer nur damit beschäftigt ist, sich selbst unter Kontrolle zu halten (Mittlere Schicht).

Was also ist wichtig? Seinem bioenergetischen Kern zu folgen! Genau das hat Reich getan und dies durch die Aussage zum Ausdruck gebracht, er, Reich, sei nur das Werkzeug einer objektiven funktionellen Logik. Wichtig im Leben ist einzig und allein dieser Logik zu folgen, d.h. seinem „Herzen“. Das bedeutet konkret, daß man klare und folgerichtige Gedanken hat, diese unzweideutig und unmißverständlich für jeden begreiflich zum Ausdruck bringen kann, seinen Gefühlen vertrauen kann und sich ohne Reibungsverluste in die Arbeitsdemokratie einfügt: Liebe, Arbeit und Wissen! Das ist der Sinn des Lebens. „Das Leben selbst ist des Lebens Zweck.“

Am Ende sieht Faust ein:

Das ist der Weisheit letzter Schluß: / Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, / Der täglich sie erobern muß. / Und so verbringt, umrungen von Gefahr, / Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr. / Solch ein Gewimmel möcht’ ich sehn, / Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn. / Zum Augenblicke dürft’ ich sagen: / Verweile doch, du bist so schön!

Oder wie Reich am Ende seiner Rede an den Kleinen Mann schrieb:

Ich weiß, daß du ein anständiges, solidarisches, arbeitsames Lebewesen bist wie eine Biene oder Ameise. (…) Du bist groß, wenn du dein Handwerk pflegst, es liebend betreibst, Freude am Schnitzen und Bauen und Malen und Dekorieren und Säen und am Himmel und an Bläue und am Reh und am Morgentau und an Musik und an Tanz, an deinen heranwachsenden Kindern und am schönen Körper deiner Frau und deines Mannes hast. (…) Und wenn ich an stillen Abenden, nach getaner Arbeit, mit meinem Geliebten und meinem Kinde auf der Wiese vor dem Haus sitze, das Atmen der Natur verspüre, dann steigt das Lied in mir auf, das ich so gerne höre, das Lied der Vielen, das Lied der Zukunft: … Seid umschlungen, Millionen …!

Laskas Randnotizen zu Hans G. Helms‘ DIE IDEOLOGIE DER ANONYMEN GESELLSCHAFT (Teil 15)

28. November 2024

Laskas Randnotizen zu Hans G. Helms‘ DIE IDEOLOGIE DER ANONYMEN GESELLSCHAFT (Teil 15)

Laskas Randnotizen zu Hans G. Helms‘ DIE IDEOLOGIE DER ANONYMEN GESELLSCHAFT (Teil 12)

5. November 2024

Laskas Randnotizen zu Hans G. Helms‘ DIE IDEOLOGIE DER ANONYMEN GESELLSCHAFT (Teil 12)

Laskas Randnotizen zu Hans G. Helms‘ DIE IDEOLOGIE DER ANONYMEN GESELLSCHAFT (Teil 11)

19. Oktober 2024

Laskas Randnotizen zu Hans G. Helms‘ DIE IDEOLOGIE DER ANONYMEN GESELLSCHAFT (Teil 11)

Besprechung der Anthologie DAS LSR-PROJEKT

9. August 2024

Das neue Laska-Buch ist da!

Irgendwie fehlt das „Abstract“ zum LSR-Projekt. Man weiß nicht recht, worauf man sich einläßt und worauf man achten soll. Das scheint mir generell das Problem zu sein, wenn man „so allein vor sich hin tüftelt“: daß man sozusagen sich die Sahnestücke für zuletzt aufbewahren will – es fehlt der heilsame Zwang die Zusammenfassung an den Anfang der Arbeit zu stellen. Der Autor sitzt zuhause und reibt sich genüßlich die Hände bei der Vorstellung, wie der Leser jene Landschaft durchschreitet und in sich organisch aufnimmt, die der Autor für ihn geschaffen hat, um ihn zu ganz bestimmten Ausblicken zu führen. Und wie fühlt sich der Leser? WENN er überhaupt angefangen hat, das unbeschilderte Land zu betreten, d.h. zu lesen, fühlt er sich als würde er durch ein sinnlosen finsteren Irrgarten stolpern, wobei er sich ständig fragt: „Was mach ich hier eigentlich? – und was soll das ganze überhaupt?“

Also: zuerst die Resultate präsentieren! Auch wenn es weh tut: „Perlen vor die Säue werfen!“, „Jetzt verpufft meine hart erarbeitete Wahrheit!“ Die gleich am Anfang präsentierten Früchte kann der Leser wohl nicht würdigen, vielleicht nicht mal verstehen, aber er weiß, worauf er bei der Lektüre achten soll. Zumindest sollte man erklären, was man mit ihm vorhat.

Ein solches „Abstract“ liegt nun mit dem von dem Würzburger Philosophen Dr. Christian Fernandes herausgegebenen Laska-Anthologie Das LSR-Projekt vor.

Man erlaube mir einen eigenen kleinen Versuch:

Begriffe wie „Selbstsucht“, „Egoismus“, „Eigensinnigkeit“, „Sichgehenlassen“ haben zu recht einen denkbar schlechten Leumund. Gleichzeitig erweist sich jedem denkenden und historisch versierten Menschen „die Gesellschaft“, an die man sich anpassen soll, um nicht „selbstsüchtig“, „rücksichtslos“ etc. zu sein, als denkbar „irrational“, im Sinne von destruktiv, verblendet und dem sicheren Untergang geweiht. Jeder Mensch, der in dieser Gesellschaft aufwächst und durch sie „enkulturiert“ wird, verinnerlicht vom Tage seiner Geburt an diese Irrationalität, so daß seine vermeintliche „Eigensinnigkeit“ schließlich nur Ausdruck dieser Irrationalität sein kann. Die Irrationalität wird dadurch verdoppelt, daß die als „Über-Ich“ verinnerlichten gesellschaftlichen Gebote, das bekämpfen sollen, was es ohne sie gar nicht gäbe. Genau das bezeichnet Bernd A. Laska als „irrationales Über-Ich“. Potenziert wird diese Irrationalität dadurch, daß durch die Bildung des „irrationalen Über-Ich“ die Selbstregulierung jedes Einzelnen durch ein „rationales Über-Ich“ (schlichtweg Rücksicht auf andere gemäß der im ungestörten Sozialverkehr jedem sich von selbst evident werdenden Goldenen Regel) unmöglich gemacht wird.

Laskas Randnotizen zu Hans G. Helms‘ DIE IDEOLOGIE DER ANONYMEN GESELLSCHAFT (Teil 2)

28. Juni 2024

Laskas Randnotizen zu Hans G. Helms‘ DIE IDEOLOGIE DER ANONYMEN GESELLSCHAFT (Teil 2)