Notiz: Urteile über Stirner (o.J.)

In der gestrigen Besprechung erwähnte ich Volker Gerhardts weitverbreitete und in mehreren Auflagen erschienene Monographie Friedrich Nietzsche (Verlag C.H. Beck, 1992). Sie zeigt, egal wieviel man bei Nietzsche, nicht zuletzt anhand von Gerhardts Ausführungen, LaMettrie-, Stirner- und Reich-Gemäßes findet, Nietzsche im Kern doch Anti-LSR ist. Das heißt aber noch lange nicht, daß ich Nietzsche aus dem „orgonomischen Fundus“ streichen werde, genausowenig wie ja auch Freud, Marx und andere!
Wer einen weitgehend LSR-konformen Nietzsche lesen will, sei auf meinen alten Artikel Der verdrängte Nietzsche verwiesen. Dazu bietet Volker Gerhardt sehr gute Einführung in Nietzsches Werk einen interessanten Punkt hinsichtlich des Willens zur Macht. 1885 notierte sich Nietzsche, daß die physikalisch aufgefaßte „Kraft“ einer „Ergänzung“ bedürfe. Es müsse diesem Begriff, so Nietzsche, „eine innere Welt zugesprochen werden“, im Sinne eines Triebes, Strebens, Willens. Für diesen inneren, sozusagen „psycho-physischen“ (Reich hätte gesagt „bioenergetischen“) Ursprung wählte Nietzsche den Begriff „Wille zur Macht“. „Dieser bezeichnet“, so führt Gerhardt weiter aus, „die ursprüngliche Einheit aller geistigen und physischen Kraft.“ Das soll die absolute Diesseitigkeit der Welt wahren, d.h. das Werden soll nicht nur erklärt, sondern auch verstanden werden. Gerhardt: „Erst heute können wir ermessen, wie modern Nietzsches Fragestellung ist, die über die Abgrenzung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften hinaus ist und die den Ursprung unserer Erkenntnis in uns selber nicht vergißt.“ Gerhardt verweist in diesem Zusammenhang auf den Aristotelischen Begriff der „dynamis“ bzw. „potentia“ (S. 182f). Reich hat ähnlich argumentiert, als er etwa in The Einstein Affair, darauf insistierte, daß mit seiner Arbeit sich die Psychologie, Psychiatrie, Medizin nicht mehr an der Physik orientiere, sondern umgekehrt.
Aber zurück zur notwendigen Entzauberung Nietzsches: „Wille zur Macht“ hat Nietzsche bei Stirner abgeschaut. Stirner: „Macht – das bin Ich selbst, Ich bin der Mächtige und Eigner der Macht“ (Der Einzige und sein Eigentum, S. 230), wobei Nietzsche die entscheidende Wendung unter den Tisch fallen läßt: „Ich bin nur dadurch Ich, daß Ich Mich mache, d.h. daß nicht ein Anderer Mich macht, sondern Ich mein eigen Werk sein muß“ (ebd., S. 256, Hervorhebungen hinzugefügt).
Gerhardt führt aus, daß bei Nietzsche aus der bloßen „Selbsterhaltung“ der „Wille zur Macht“ wird, der so überwältigend sein kann, daß man die Selbsterhaltung darüber vergißt. „Die Lust an der Expansion wird zu einer eigenständigen Größe“ (Gerhardt, S. 129). Der Wille zur Macht trete, so Gerhardt, „im Medium von Befehl und Gehorsam auf (…) und tendiert mit dem Anspruch auf Unterordnung zu hierarchischer Organisation“ (S. 186f).
Das ist nichts anderes als die Apologetik des sadomasochistischen Wahns der gepanzerten Welt! Sexualfeindlich! Rechtfertigung des Über-Ich! Was auch deutlich wird, wenn Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches schreibt: „Die Bestie in uns will belogen werden, Moral ist Notlüge, damit wir von ihr [d.h. der besagten Bestie] nicht zerrissen werden“ (z.n. S. 131). Das ist das exakte Gegenteil der Jahrtausendentdeckung von der Laska und Christian Fernandes sprechen!
Für Nietzsche sorgte, so Gerhardt, „das moralische Bewußtsein“ „im Gang der mit unerhörten Opfern und Einschränkungen verbundenen Disziplinierung und Kultivierung der menschlichen Gattung“ für „die Sicherung der Individualität“. Die historische Leistung der Moral liege darin, den Menschen zu einer „selbstverantwortlichen Person“ gemacht zu haben (S. 133). Gerhardt zitiert dazu aus Menschliches, Allzumenschliches: „Ohne die Irrtümer, welch in der Annahme der Moral liegen, wäre der Mensch Tier geblieben.“ Nietzsche spricht in diesem Zusammenhang vom „heroischen“ Menschen und verweist auf Herakles, der sich „gegen die (äußeren) Reize der Schönheit und für die (inneren) Werte der Tugend entscheidet“ (S. 141). Bei Nietzsche zerstört die Moral (also das Über-Ich) nicht das Individuum, sondern sie erschafft das Individuum. Ein krasserer Gegensatz zu LSR ist schlichtweg nicht denkbar!
Es ist bezeichnend, daß in Gerhardts Buch Stirner nur im Kapitel über Nietzsches Nachwirkung im 20. Jahrhunderts auftaucht: neben Schopenhauer und Feuerbach sei Deutschland durch Stirner auf Nietzsche vorbereitet gewesen… (S. 219). Stirner als Nietzsches Wegbereiter! Bezeichnend ist auch, daß im Register von Gerhardts Buch bei „Stirner“ nicht etwa auf diese Stelle verwiesen wird, sondern auf S. 57, wo Stirner gar nicht auftaucht! Wer mit der Literatur vertraut ist, weiß, daß derartige Fehlleistungen in Bezug auf Stirner ständig auftreten. Unsere Kulturbewahrer stolpern ständig über ihn und geraten dabei aus dem Gleichgewicht…
My sister and I hat dazu nur einen Kommentar:
Der durchschnittliche Patient berichtet seinem Psychiatern und Psychotherapeuten vom bodenlosen Schmerz, Kummer und Angst und davon, daß sein Leben zu einer Falle geworden ist. 99 Prozent aller Menschen, würden, wenn sie denn den Schritt zu einer Psychotherapie wagten, schlicht und einfach die Hölle beschreiben, in der sie leben. Was bedeutet „Hölle“? Nach dem ursprünglichen Christentum ist die Hölle kein Ort, sondern ein Zustand: der „geistige“ (energetische) Zustand von Gott permanent getrennt zu sein, weil Seine Liebe einen umbringt. In orgonomischen Begriffen ist diese Vernichtungsangst angesichts der Liebe die „Orgasmusangst“. Nach christlichem Verständnis ist die Liebe Gottes dann unerträglich, wenn man sich in einem Zustand der Sünde befindet. „Sünde“ ist nichts anderes als Panzerung, d.h. die Unterdrückung der orgonotischen Strömung (= „Gott“). Sünde ist das große „NEIN!“ – das „Nein“ zu Gott und seiner Schöpfung. Sie ist der negativistische „Teufel“. Profan: das „Nein!“ angesichts der Herausforderungen des Lebens.
Der Fehler der Christen besteht darin, dies als moralisches Problem zu betrachten, während es in Wirklichkeit „Ökonomie“ ist („Sexualökonomie“). Wie berechnende kleine Krämer haben wir uns für eine Vielzahl von „harmlosen“ und „erträglichen“ kleinen Schmerzen und Frustrationen entschieden, anstatt den einen großen gefährlichen Schmerz zu riskieren und zu ertragen, der darin besteht, der Realität ins Auge zu sehen – und die Falle zu verlassen. Genau das ist das Geheimnis des neurotischen Leidens: die kleinen schuldbeladenen Befriedigungen in der warmen Stube, anstatt hinaus in die weiten eisigen Ebenen, windgepeitschten zu gehen und das Großwild zu erlegen. Das ist letztendlich der Unterschied zwischen den Versagern, die im Morast kleben bleiben, und jenen, die Erfolg im Leben haben.
Gegenwärtig rutschen wir immer weiter in den Höllenschlund ab, indem wir systematisch eine solche Generation von sozialistisch gesinnten Versagern heranziehen, die jeden als „Nazi“ betrachten, der Kontur in ein Leben bringt, das keine Energiepotentiale, keine Spannung mehr, nicht mal mehr den Unterschied der Geschlechter ertragen kann. Eine Generation ohne hervorstechende Persönlichkeiten, sondern nur ein unterschiedsloser Einheitsbrei. Eine Generation, die das Risiko scheut und sich darin erschöpft, das zu negieren und einzuebnen, was vorangegangene Generationen erschaffen haben. Nietzsche:
Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch nicht mehr den Pfeil seiner Sehnsucht über den Menschen hinaus wirft, und die Sehne seines Bogens verlernt hat, zu schwirren! (…)
Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch keinen Stern mehr gebären wird. Wehe! Es kommt die Zeit des verächtlichsten Menschen, der sich selber nicht mehr verachten kann.
Seht! Ich zeige euch den letzten Menschen.
„Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?“ – so fragt der letzte Mensch und blinzelt. (…)
„Wir haben das Glück erfunden“ – sagen die letzten Menschen und blinzeln.
Sie haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben: denn man braucht Wärme. Man liebt noch den Nachbar und reibt sich an ihm: denn man braucht Wärme.
Krankwerden und Mißtrauen-haben gilt ihnen sündhaft: man geht achtsam einher. Ein Tor, der noch über Steine oder Menschen stolpert!
Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben.
Man arbeitet noch, denn Arbeit ist eine Unterhaltung. Aber man sorgt, daß die Unterhaltung nicht angreife.
Man wird nicht mehr arm und reich: beides ist zu beschwerlich. Wer will noch regieren? Wer noch gehorchen? Beides ist zu beschwerlich.
Kein Hirt und eine Herde! Jeder will das Gleiche, jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig ins Irrenhaus.
„Ehemals war alle Welt irre“ – sagen die Feinsten und blinzeln.
Man ist klug und weiß alles, was geschehn ist: so hat man kein Ende zu spotten. Man zankt sich noch, aber man versöhnt sich bald – sonst verdirbt es den Magen.
Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit.
„Wir haben das Glück erfunden“ – sagen die letzten Menschen und blinzeln. –
[Diese Reihe soll zur Auseinandersetzung mit Bernd A. Laskas LSR-Projekt animieren.]
Was Laska Marx und Nietzsche vorgehalten hat, dreht sich in keinster Weise um Plagiatsvorwürfe, Prioritäten etc., sondern einzig um ihre Verweigerung einer (öffentlichen) Auseinandersetzung mit Stirner. Mich erinnert das etwas an die mecho-mystische Physik: angefangen mit der Rotverschiebung bis hin zu irgendwelchen Problemen der Elementarteilchenphysik: anstatt sich mit dem Sachverhalt „an sich“ auseinanderzusetzen, wird gleich der ganze Kosmos, der „Urknall“, „String-Theorie“ etc. involviert, um ein Teilproblem zu lösen. Entsprechend entwickelten Marx und Nietzsche umfassende Welttheorien, nur um mit dem Stachel Stirner fertigzuwerden. Hier gehört auch Nietzsches Rede vom „Nihilismus“ (bei Marx ist es Hegelisierend die „Entfremdung“) hin: die Menschen würden (wenn man Nietzsche sozusagen „rückübersetzt“) lieber ihre Gesellschaft in den humanen Grundfesten sprengen, den ganzen Planeten in die Luft jagen, statt sich mit LSR auseinanderzusetzen. Hat schon mal jemand Nietzsches „Nihilismus“-Meme mit dessen Angst vor Stirner verbunden? Laska meinte, Nietzsche wäre in den Wahnsinn, ins Nichts, geflohen, genau zu dem Zeitpunkt als eine Stirner-Renaissance drohte. Die Menschen sterben lieber, als der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. So als stünde LSR für das absolute Grauen, schlimmer als der Tod. Es ist das Grauen der Vampire und Gespenster vor dem Sonnenlicht – der Authentizität zwischen den Gedanken, von der ich oben sprach. Wenn der Lebenssaft in verdorrte Glieder fließt, ist das der Supergau, da alles Morsche und Versteinerte, das nicht mehr lebendig pulsieren und nachgeben kann, zersprengt wird.
Laska war an Reich geschult: entweder gibt es eine „sexualökonomische“ Selbstregulierung oder eine sexualfeindliche moralische Regulierung. Entsprechend kann man zweierlei zeigen: erstens, daß die moralische Regulierung durch und durch widersprüchlich ist und letztendlich immer das hervorruft, was sie bekämpfen will; zweitens, kann man die beiden Ansätze nicht vermischen, weil dabei nicht halb, sondern doppelt so viel Leiden herauskommt. Diese quasi manichäische Radikalität ist nur eins: konsequentes Denken. Und das ist wahrscheinlich das größte Tabu. Niemand wagt etwas konsequent zu Ende zu denken, sondern biegt immer vorher ab.