Reaktionen auf den Evolutionismus (Edward B. Tylor und James Frazer), bei dem z.B. das Inzesttabu als natürlicher Entwicklungsschritt betrachtet wurde, war einerseits der Funktionalismus Bronislaw Malinowskis mit seinem extremen kulturellen Relativismus (Inzesttabu kann nur aus dem kulturellen Kontext erklärt werden: Sexualität stört den überlebensnotwendigen Familienzusammenhang), und andererseits der Diffusionismus (nach Eliot Smith soll alle Zivilisation von einem Punkt aus „diffundiert“ sein und damit auch das Inzesttabu).
Einen solchen diffusionistischen Ansatz, wonach die Gleichartigkeit kultureller Elemente durch kulturellen Austausch bedingt ist, hat James DeMeo mit seiner Saharasia-Theorie in die Orgonomie hineingetragen. Gemeinsam mit der funktionalistischen Anthropologie Malinowskis (die Gleichartigkeit von Gebrauchsgegenständen und Verhaltensmustern entsteht durch die Zwänge der Funktionserfüllung) hat dieser Ansatz, daß auch er von der prinzipiellen Unterschiedlichkeit der Kulturen ausgeht: als in sich abgeschlossene nicht mit anderen Kulturen vergleichbare Ganzheiten, die bei Kontakt aufeinander wirken.
Die Orgonomie ist natürlich vom funktionellen Ansatz her der funktionalistischen Schule ganz besonders zugetan, auch wenn sie aus der Arbeit des Hauptvertreters des Funktionalismus (Malinowski) eher evolutionistische Folgerungen gezogen hat, indem sie eine Kultur (die der Trobriand-Inseln) allen anderen Kulturen als ursprünglichen Zustand zugrundegelegt hat und radikal gegen den „liberalen“ Relativismus Malinowskis antrat. Aber auch mit diesem modifizierten „Funktionalismus“ gelang es der Orgonomie nicht, das Aufkommen des Patriarchats zu erklären. Reichs zwei Versuche, dies zu leisten (in Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral und in Die kosmische Überlagerung), sind letztendlich gescheitert. Erst DeMeos bewußte Anwendung des Diffusionismus hat hier die definitive Lösung gebracht: das Patriarchat hat sich Reichs ORANUR-Forschung gemäß in den großen Wüsten gebildet und ist von dort über die letzten sechs Jahrtausende langsam auf die ganze Erde diffundiert (Reichs Vorstellung der sich ausbreitenden „Emotionellen Wüste“ und der Epidemie „Emotionelle Pest“).
Auf das äußerste verkürzt spiegelt sich im Widerspruch von funktionalistischer und diffusionistischer Kulturtheorie der Widerspruch von ungepanzert-funktioneller (OR) und gepanzert-dysfunktioneller (DOR) Natur, von Matriarchat und Patriarchat.
Im expliziten Anschluß an Darwin hat Marx die sozioökonomische Entwicklung der Menschheit als „Naturgeschichte“ zu rechtfertigen gesucht und mit einem evolutionistischen Model 6000 Jahre patriarchaler Entwicklung glorifiziert, sowie mit einem paradiesischen Abschluß geadelt. Marx sah keinen Unterschied zwischen natürlichen und künstlichen Institutionen, was unvereinbar mit Reichs Haltung ist. Ich frage mich, wie Reich es zuwege brachte, psychoanalytische „Evolutionisten“ wie Roheim von einer marxistischen Position aus anzugreifen, die erst recht einen „saharasia-affirmativen Evolutionismus“ implizierte – wie ihn z.B. Herbert Marcuse ganz offen vertreten hat.
Was Reichs marxistische Position in den 1930er Jahren noch kurioser macht, ist die Rechtfertigung seines sexualökonomischen „freudomarxistischen“ Ansatzes durch den Verweis auf Malinowskis Erforschung des „Urkommunismus“, während Malinowski selbst am Ende seines Buches über die Ökonomie der Trobriander schrieb:
Abschließend möchte ich noch hervorheben, daß sich im Licht dieser Analyse zeigt, wie vergeblich die Unterscheidung zwischen kommunistischem und Privateigentum ist. Ich hätte durchweg zeigen können, wie jeder Anspruch, jede Beziehung zwischen Mensch und Boden betontermaßen sowohl individuell wie kollektiv ist. Die Konzeption der ursprünglichen Heraufkunft [der Clans aus dem Inneren der Erde] impliziert eine große Verwandtschaftsgruppe, den Subclan, der uranfänglich von einem Individuum, der Urahne – vielleicht auch ihrem Bruder –, repräsentiert wird, und den heute gleichermaßen ein Individuum repräsentiert, das Oberhaupt. Diese Gruppe ist nach Geschlecht und Alter differenziert und in kleinere Lineages unterteilt. Und innerhalb des Subclans gibt es sogar individuelle Besitztitel auf Land, und das Land selbst ist gleichsam aus Rücksicht auf den Wunsch nach individuellen Unterscheidungen aufgeteilt. Obwohl nämlich der persönliche Parzellenbesitz in gewisser Weise unserer eigenen Vorstellung von letztgültigen Verhältnissen im Bodenrecht am nächsten kommt, ist er doch auf den Trobriand-Inseln nur von allergeringster ökonomischer Relevanz. Dennoch ist dieser Umstand hier äußerst wichtig, da er belegt, wie wenig der sog. Urkommunismus in der Wirtschaftseinstellung der Eingeborenen vorkommt. Geradezu zum Ärger der anthropologischen Theoretiker insistiert der Trobriander darauf, eine eigene Parzelle zu haben, die mit seinem Personennamen assoziiert ist. Bei der alten Entgegensetzung handelt es sich um einen schlechten und unklugen Kurzschluß; durchgehend haben wir gesehen, daß das eigentliche Problem nicht im Entweder-Oder von Individualismus und Kommunismus liegt, sondern in der Wechselbeziehung kollektiver und persönlicher Ansprüche. (Korallengärten und ihre Magie, S. 413).
Wie die Ethnographen immer wieder festgestellt haben, scheint der Hauptlebensinhalt solch primitiver Gesellschaften der ständige, wirtschaftlich vollkommen sinnlose, Austausch von Geschenken zu sein. So als würde man eine heiße Kartoffel so schnell wie möglich weiterreichen, um sich nicht die Finger zu verbrennen. Der Austausch von Geschenken, englisch „gift“, beinhaltet den Austausch von „Gift“ – ein Wort, das den gleichen linguistischen Ursprung hat wie das englische Wort für Geschenk. Diese etymologische Doppeldeutigkeit weist auf eine unbewußte Wahrheit hin, denn, wie Reich dargelegt hat, verrät die Wortbildung die Ausdrucksweise des Lebendigen. Jemanden ein Geschenk zu überreichen, bedeutet das eigene Gift loszuwerden, sodaß der Beschenkte es weiterreichen muß und so weiter in einem ewigen Kreislauf.
Freigebigkeit wird hoch angesehen, während Knauserigkeit verachtet wird. Dieses weniger ethische als vielmehr ästhetische Urteil scheint damit zusammenzuhängen, daß beim krampfhaften Festhalten der Tauschgüter eine energetische Stagnation eintritt und buchstäblich giftiges DOR akkumuliert wird. Um diesen unappetitlichen Faulprozeß zu verhindern, wird das statische Resultat energetischer Überlagerung in Bewegung gehalten – es soll sich in ORgon zurückverwandeln. Schon als Kind ist mir aus persönlichem Augenschein aufgefallen, daß Menschen, die im Luxus leben, daran wirklich buchstäblich ersticken. Sie haben etwas seltsam „Unappetitliches“ an sich und strahlen eine merkwürdig „übersättigte Schwermut“ aus. Ein Gefühl, wie wenn man zu viele Süßigkeiten zu sich genommen hat und alles klebrig geworden ist. Ich glaube, es ist eine wirkliche DOR-Krankheit.
Damit will ich natürlich nicht sagen, daß die Trobriander dem „Luxus“ abhold sind, ganz im Gegenteil: Aus Berichten über die Trobriander und andere Naturvölker läßt sich schließen, daß für sie Reichtum und der mit ihm verbundene soziale Status sehr wichtig ist. Man schaue nur, wieviel Wert Naturvölker auf Kleidung, Schmuck und schöne Körperformen legen. Für sie sind Sein und Schein ein und dasselbe. Sie sind ein einziger Hohn auf Erich Fromms zutiefst triebfeindliches pfaffenhaftes „Haben oder Sein“!
Bereits die grundlegende Dualität von Sexualität und Hunger von der Freud (und übrigens gewissermaßen auch Marx) ursprünglich ausging, um die Neurosen zu erklären, war ein solches triebfeindliches Konstrukt. So hat auch Reich, der ja das erste Triebkonzept der Psychoanalyse wiederbelebte, sich kaum auf diese angeblich natürliche Dichotomie bezogen. – Ernährung hatte ursprünglich kaum etwas mit bewußter Erhaltung, sondern vielmehr mit reiner Triebbefriedigung zu tun. In seinen Korallengärten und ihre Magie schreibt Malinowski, daß dem Trobriandern
nur verschwommen gegenwärtig (ist), daß Essen Ernährungswert besitzt. Sie wissen zwar, daß das Nichtvorhandensein von „Grundnahrungsmitteln“ Hungersnot bedeutet, die sie zutiefst fürchten, aber die wichtigste Bedeutung des Essens liegt darin, daß es ein lebendiger Genuß ist – und der wird durch die Zutat von „Delikatessen“ erhöht und ausgedehnt.
Man kann die Trobriander wirklich in keinster Weise als Beleg für sozialistische Theorien oder für den „Urkommunismus“ in Beschlag nehmen. Und wenn man den oben erwähnten „altruistischen“ Geschenkaustausch herausstreicht, muß gesagt werden, daß er wahrhaftig nichts idyllisches „urkommunistisches“ an sich hat, sondern von stetiger Spannung erfüllt ist, da ständig versucht wird, den anderen mit der eigenen Großzügigkeit auszustechen.
Betrachten wir parallel dazu die sozialen Auswirkungen des Geschlechtstriebes, sehen wir, daß dieser ebenfalls individualistisch und unsozial ist, denn er leugnet die Gleichheit der Menschen und ihren gleichen Wert. Wie konnte da der „Sexualökonom“ Reich erwarten, bei den Marxisten Anklang zu finden?!
