Posts Tagged ‘Nihilismus’

Peter liest die Laska/Schmitz-Korrespondenz (Teil 12)

14. April 2024

Die Korrespondenz zwischen Hermann Schmitz und Bernd Laska ist allein schon deshalb interessant, weil sie auf verblüffende Weise ziemlich genau den Konflikt zwischen den Psychoanalytikern und Reich wiederholt.

Wie in den 1920er Jahren in Wien und Berlin geht es auch hier um eine neue „Ich-Psychologie“. Nicht von ungefähr will Schmitz Laskas Ausdruck „rationales Über-Ich“ durch den Begriff „rationale Ich“ ersetzt sehen (S. 275). – Schmitz diagnostiziert am Anfang des europäischen Denkens eine Art Zersplitterung des menschlichen Innenlebens, bei der alles, ob in uns oder in unserer Umgebung, als ein Sammelsurium objektiver Dinge betrachtet wird, zwischen denen sich ein Kampf um Vorherrschaft abspielt. Um das Jahr 1800 kam es zu einer entscheidenden Wende, als die „subjektiven Tatsachen“ entdeckt wurden, aber weiterhin alles wie „objektive Dinge“ behandelt wurde. Das Subjekt ist damit einerseits „ich selbst“, andererseits aber, da objektiv ungreifbar, zerrinnt es zu einem Nichts. Mit diesem „Ich hab‘ mein Sach‘ auf nichts gestellt!“ (Stirner) begann, so Schmitz, der Nihilismus, dessen zerstörerische Kraft wir heute in einer immer haltloseren und „kindischeren“ Gesellschaft hautnah miterleben. Ironie und Zynismus, entsprechend der angeschnittenen Entfremdung am Beginn des europäischen Denkens, und das alles beherrschende Machtspiel beginnen buchstäblich alles zu atomatisieren.

Ähnlich den „Ich-Psychoanalytikern“ zu Reichs Zeiten, die die „objektivistische“ Libido durch Soziologie (das Einbinden des Individuums in die Gemeinschaft) ersetzten, versucht Schmitz unter Wahrung der kritischen, aufklärerischen Distanz, die dem europäischen Projekt inhärent ist, die beschriebene Spaltung aufzuheben, indem er dem „Heiligen“ bzw. dem „unbedingten Ernst“ eine erneute Chance gibt, vor allem aber, indem er auf die „einpflanzenden Gesamtumstände“ setzt, bei denen der Unterschied zwischen Subjekt und Objekt weitgehend aufgehoben ist, d.h. imgrunde setzt er auf eine Einbindung in die Gemeinschaft, wie sie beispielsweise beim Spracherwerb gegeben ist. Das erinnert sehr an die Entwicklung der Psychoanalyse sozusagen „jenseits des Ödipuskomplexes“, insbesondere mit ihrem Fokus auf Frühstörungen, die Mutter-Kind-Bindung etc.

Laska hingegen beharrt darauf, daß das Ich unter dem Druck von außen zersplitterte, indem es dieses Außen in Gestalt des „irrationalen Über-Ichs“, einer nicht mehr kritisch hinterfragbaren inneren Instanz, aufnahm. Die heutigen Verhältnisse sind, so Laska, nicht etwa auf Stirner zurückzuführen, der universell als der bzw. das Böse hingestellt wird, sondern auf dessen „Bewältigung“ durch insbesondere Marx und Nietzsche. Laska versucht aber immerhin eine Brücke zu Schmitz zu schlagen, indem er erstens bestimmten „implantierenden Situationen“ durchaus nicht die Notwendigkeit abspricht und zweitens auf eine hier noch nicht genannte, dritte Instanz bei Schmitz neben dem Heiligen und der einpflanzenden Situation verweist: den „starken Daimon“, also so etwas wie einen autonomen inneren zielgerichteten Antrieb. Dieser Daimon dürfe, so Laska, nicht unterdrückt, sondern müsse gehegt und gepflegt werden, durchaus auch durch „implantierende Situationen“, um „Eigner“ im Sinne Stirners aufwachsen zu lassen.

Schmitz wendet ein, daß ein „starker Daimon“ nur bei wenigen Menschen anzufinden ist und, hätten alle ihn, gäbe es nur ein Hauen und Stechen zwischen lauter Rechthabern. Außerdem habe auch beispielsweise Hitler einen „starken Daimon“ besessen, dieser sei also nichts von vornherein Positives. Das erinnert fatal an das Menschenbild der orthodoxen Psychoanalytiker: der Mensch als sadomasochistisches Tier, das durch das Heilige und „implantierende Situationen“ gebändigt werden muß, bzw., bei den Neo-Psychoanalytikern, der Mensch als formbare Masse, der an die Hand genommen werden muß.

Übrigens ist Laskas Verständnis von „Daimon“ sehr irreführend, denn der „Dämon“ entspricht eher den „isolierten Über-Ich“, wie ihn Reich beim triebhaften Charakter beschrieben hat. Er steht keineswegs für einen starken inneren Kern. Beispielsweise meint Schmitz Goethe haben einen schwachen Daimon besessen.

Wie gesagt: das ganze wirkt wie eine um hundert Jahre versetzte Debatte zwischen den Psychoanalytikern (Schmitz) und Reich (Laska)! Sie wirft übrigens auch ein Licht zurück auf die 1920er Jahre. Schmitz  zufolge ist es „Stirner: Ich gegen eine fremde Welt“, während es für Laska „Stirner: Ich gegen das Fremde in mir“ ist. Genauso wie Schmitz dachten die Psychoanalytiker damals: den „schizoiden“ Menschen mit der Welt zu versöhnen, während Reich der „Schizophrene“ war, der gegen die Welt wütete.

Peter liest die Laska/Schmitz-Korrespondenz (Teil 8)

6. April 2024

Stark vereinfacht geht Hermann Schmitz von zwei Sündenfällen aus. Der erste ist der, den auch Reich in Christusmord beschreibt. Schmitz typisch verquast:

Der erste Sündenfall, der nach dem biblischen Mythos, besteht darin, daß die Menschen lernen, was gut und böse ist, also Vorzugsrichtungen des Verhaltens zu ihnen zustoßenden Herausforderungen nicht mehr nur blind, sondern mit Wissen und Wollen folgen können. Dabei lernen sie aber erst, was gut und böse ist, als handle es sich bei allem, was sie zu wissen nötig haben, um objektive oder neutrale Tatsachen. (…) Der erste Sündenfall schafft Halt nach außen, durch die Möglichkeit selbständiger, einsichtiger Orientierung am Gegebenen. (S. 175)

Schmitz beschreibt hier die Genese der Panzerung. Die Menschen verlieren die Unmittelbarkeit. Es ist, als wenn sich eine Wand, die Panzerung, zwischen sie und ihre Umwelt und zwischen sie und ihre Innenwelt schiebt. Bei letzterem denke man etwa an Freuds Entdeckung des unbekannten Kontinents des Unbewußten. Aber sie haben immer noch eine Orientierung sozusagen „am Sternenhimmel“ dort draußen und dem „sittlichen Gesetz“ hier innen: der Rahmen der autoritären Gesellschaft.

Der zweite Sündenfall ereignete sich, Schmitz zufolge, um das Jahr 1800 herum mit der „Entdeckung der strikten Subjektivität“ durch Johann Gottlieb Fichte (1762-1814):

Der zweite Sündenfall, der Fichte’sche, belehrt sie, daß es nicht so ist, daß sie also nicht einfach nachsehen können, was (an sich und für alle) ist und sein soll, sondern sich jeder in seinem Namen darum kümmern muß, was meine (seine) Tatsache, sein Programm, sein Problem ist. (ebd.)

Der zweite Sündenfall schafft dem Menschen Unsicherheit im Verhältnis zu sich, weil sich herausstellt, daß der Halt, der nach dem ersten Sündenfall noch gegeben war, langsam aber sicher wegbricht: alles ist subjektiv, willkürlich und unsicher.

Was Schmitz hier beschreibt, sind zwei menschheitsgeschichtliche Einschnitte, die sich vor etwa 6000 Jahren und ziemlich präzise um das Jahr 1960 ereignet haben: der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral und damit der Körperpanzerung und der Beginn der vermeintlichen „sexuellen Revolution“ und damit die weitgehende Ersetzung der Körperpanzerung durch die okulare Panzerung. Der Einbruch des kompletten Wahnsinns von Timothy Leary bis heute, der Freigabe des Cannabis-Konsums:

Man hört geradezu wie die Körperpanzerung Anfang der 1960er Jahre zusammenbricht! An ihre Stelle tritt die komplette Orientierungslosigkeit, der radikale „Werteverfall“ und – der Tod. Seit nun über 60 Jahren macht die Menschheit diese zweite Zensur durch, deren Bedeutung man nicht überschätzen kann, – sie könnte final sein.

Einerseits muß man Schmitz zugutehalten, daß er ein Gespür dafür hat (wer sonst hat diese beiden Sündenfälle so treffend beschrieben?), andererseits ist es fundamental verfehlt, wenn er schreibt, daß der erste Sündenfall „der Ausgang aus der Selbstsicherheit des skrupellosen instinktiven Lebens in die Verantwortung rationalen Prüfens und Wägens von Gut und Böse“ war (S. 179). Der Zusammenbruch der Selbststeuerung und Einbruch des Irrationalismus und der Perversion war für ihn „rational“, das Leben davor „skrupellos“. Schmitz ist ein in der Wolle gefärbter Reaktionär: die Kultur geht vor!

Den zweiten Sündenfall, den er, wie gesagt mit Fichte (und Stirner) und dem Beginn der „ironistischen“ Romantik verbindet, will Schmitz auffangen, indem er sie sozusagen vollendet, – indem er von dem „dem Vorurteil herunterkommt, alle Tatsache müßten objektiv sein, so daß das Subjektive in eine rätselhafte Rand- und Schwebestellung gerät, für die man bald die Metapher des (selbst paradoxen) Nichts erfindet; so kommt es zum Nihilismus. Dieses Mißverständnis, und damit der Nihilismus, kann geheilt werden“ (S. 176). Die Heilung vom Nihilismus verspricht die Neue Phänomenologie, indem sie sozusagen die Welt wiederverzaubert: Subjekt und Objekt verzahnen sich wieder. Die Welt ist dann nicht mehr etwas, wo man seine Stellung in der objektiven Welt findet, „sondern (die Menschen) müssen jeweils ihre Stellung durch eigene Stellungnahme finden und ständig neu gegen Erschütterungen, emotionale Hinfälligkeit, Labilität, personale Regression, sich aufrichtend, behaupten“ (S. 183).

Mal abgesehen davon, daß ich hier „Nietzsche pur“ höre, ist das ganze nichts anderes als ein ständiges Ausweichen vor dem Wesentlichen. Platt ausgedrückt: es geht weder darum, wie du dich in der Falle verortest (wie nach dem ersten Sündenfall), noch darum, wie du zur Falle Stellung beziehst (wie Schmitz es nach dem zweiten Sündenfall uns nahelegen will), sondern erstens mußt du sehen, DASS du in der Falle sitzt, um dann zweitens diese Falle zu verlassen. Laska versucht ständig Schmitz diesen einfachsten aller Gedanken nahezubringen, aber Schmitz ist blind, verrannt. Wie ALLE Philosophie dient auch die Neue Phänomenologie dazu, die Existenz der Falle zu sichern.

Letztendlich dokumentiert das Laska/Schmitz-Buch die Diskussion zwischen einem realitätstüchtigen Erwachsenen (Laska) und einem komplett verpeilten Kind (Schmitz) – mit manchmal ganz interessanten Einsichten.

Nachbemerkung: Wie „1800“ und „1960“ vereinbaren? Der Riß von 1960, der durchaus die Vernichtung der Menschheit besiegeln könnte, hat eine lange Vorgeschichte. Man denke nur an die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, den Ersten Weltkrieg, der, nicht zuletzt in sexualökonomischer Hinsicht, den gesamten Planeten auf den Kopf gestellt hat. Man denke an Nietzsche als Seismographen einer ungeheuren Umwälzung: den Einzug des alles zerfressenden Nihilismus. Kierkegaard. „Schmitz‘ Fichte“. Die Französische Revolution. Rousseau – der auf LaMettrie zurückgeht. Das ganze ist untrennbar verbunden mit der industriellen Revolution, die bereits Goethe am Ende von Faust II thematisiert. Unter diesem ständig wachsenden Druck, die letzten Faktoren waren vielleicht die Pille und die Drogenkultur (schon zu Reichs Zeiten mit der „Beat-Generation“ vorbereitet), hat dann in den 1960er Jahren die Körperpanzerung begonnen wegzubrechen und die Augenpanzerung trat an ihre Stelle: Its a Mad Mad Mad Mad World (1963)

https://www.youtube.com/watch?v=ejDx-zn7M5Y

Reich im Kampf gegen den Nihilismus des Westens (Teil 2: Der Tod Gottes)

25. Oktober 2023

Man lasse sich auf den allgegenwärtigen Nihilismus ein, der einen umgibt! Es ist, als wenn die gesamte westliche Zivilisation von einem todestrieb-artigen „Es hat doch sowieso alles keinen Sinn!“ infiziert ist. Und das schon seit langer Zeit! Ich verweise auf Nietzsches Analyse der allgegenwärtigen „Dekadenz“; den anorgonotischen „Zuständen“, unter denen die Menschen zu Zeiten Freuds litten (hysterische Ohnmachtsanfälle, Neurasthenie, Wagnerianische Todessehnsucht, etc.). Man schaue sich auch das Gruselkabinett der nationalsozialistischen Führungsmannschaft an: der entscheidungsschwache Hitler, der den halben Tag im Bett gammelte und sein ganzes Leben nicht einen Tag gearbeitet hat; Göring, der schwabbelige Morphinist; der verklemmte Phantast Himmler, der Rouge auftrug und all die anderen haltlosen Gestalten. Das ganze „stramme“ Gehabe der SA und vor allem der SS scheint mir wie ein verzweifelter Selbstheilungsprozeß: plakative „Gepanzertheit“, um der inneren „Schlaffheit“ (Anorgonie) entgegenzuwirken. Ähnlich die muskelbepackten „Superhelden“ in der amerikanischen Trivialkultur. Hollywood scheint sich nur noch um „Superhelden“ zu drehen! Karikaturen von Nietzsches „Übermensch“.

Ob das hierhin gehört? Ich habe mal eine Diplom-Psychologin, die jahrelang mit sicherheitsverwahrten Triebtätern gearbeitet hat, gefragt, wie man denn Kinderficker erkennt: klein, „schwabbeliger“, schlaffer Körper, schwammiges, konturloses Gesicht.

Woher diese Dekadenz, die sich heute vor allem im ekelerregenden Gendergetue und Transunsinn zeigt? Nietzsche sprach vom „Tod Gottes“. Der mache in der „aufgeklärten“ Gesellschaft zwar kaum noch jemand betroffen, doch tatsächlich würde uns durch dieses Geschehen langsam aber sicher der Boden unter den Füßen weichen. Aus orgonomischer Sicht ist es die immer stärker werdende Trennung von unserem bioenergetischen Kern, die mit einer immer weiter um sich greifenden Abnahme an Vitalität einhergeht.

Zurückzuführen ist das auf den Zerfall des christlichen Weltbildes, der Ständegesellschaft, vor allem aber auf die bereits von Goethe am Ende von Faust II problematisierte industrielle Revolution. Man betrachte auch die bis auf Rousseau und Goethes Werther zurückgehende Romantik, die im beschriebenen Nationalsozialismus kulminierte. Heute findet sie ihre Entsprechung in all dem Fantasy-Schwachsinn, mit dem uns Hollywood beglückt.

Gott und die Natur waren verschwunden, der Mensch „aus der Kirche und vom Acker“ verband, doch statt nun frei sein Leben zu leben, fing er an sozusagen Gott und die Natur zu „zitieren“, als hätte er nicht viel mit ihnen zu tun. Die Natur wurde sozusagen zu einem „Bühnenereignis“ wie bei Caspar David Friedrich und „Gott“ wurde wie bei Ludwig Feuerbach sozusagen zu einer Stimme aus dem Off: die Stimme der „humanistischen Moral“. Das ganze Schmierentheater kulminiert gerade bei unseren Grünen denaturierten vermeintlichen Naturfreunden und gemeingefährlichen Moralisten bzw. Gutmenschen. Sie haben beispielsweise die norddeutsche Tiefebene mittels Vogelschreddern („Windkraftanlagen“) lückenlos in eine Industrielandschaft verwandelt und zukünftige Deutsche einer fremdrassischen Terrorherrschaft ausgeliefert.

Man muß ständig „Aktivist“, etwa „antifaschistischer Klimakleber“, sein, um sich stets von neuem Absolution einzuhandeln, ist man doch für alles persönlich verantwortlich. Das machte auch die Anziehungskraft des Marxismus aus: wenn du versagt hast, lag das nicht an dir, sondern ist den Umständen zu schulden. Dergestalt war der Marxismus der perfekte Religionsersatz – und ist es heute in Gestalt seiner Verwesungsreste, mit denen noch immer ständig irgendwas „dekonstruiert“ wird und sei es die eigene Geschlechtszugehörigkeit.

Aber das ganze ist wie angedeutet nicht wirklich neu. Es ist das alte Elend eines „ausgehöhlten“, substanzlosen, anorgonotischen Daseins, infolge einer drastisch gescheiterten Aufklärung, die „Gott“ (die mystisch verzerrte Wahrnehmung des eigenen Bauchgefühls) zur zerebralen Stimme machte, und infolge einer Mechanisierung des Lebens, das die Natur zum kitschigen Schauspiel degradierte. Am Ende steht die „ethische Führung durch die KI“ und der Kampf gegen „den Kohlenstoff“ – d.h. gegen das Leben selbst im Namen „der Natur“. Das „Ausgehöhltsein“ wird heute sofort augenfällig, wenn man sich die neuste Generation von Studenten anschaut: keine Persönlichkeiten mehr, alle die gleiche Meinung, Haltung, Kleidung, Musikgeschmack, die gleiche INNERE LEERE.

Reich im Kampf gegen den Nihilismus des Westens ( Teil 1: Der Tod des Menschen)

24. Oktober 2023

Für Reich war Christus ein genitaler Charakter, der sein Anderssein innerhalb der Begriffswelt seines ererbten pharisäischen Judentums zum Ausdruck zu bringen versuchte – bzw. gar nicht anders konnte. Das Christentum entstand aus dem Versuch seiner Jünger diesen Mann irgendwie zu verstehen. Für sie war er ein Mensch, aber auf unbestimmte Weise auch etwas darüber hinaus; nach ihrem jüdisch-hellenistischen Weltbild ein „Gottmensch“. In der griechischen und orientalischen Kirche wurde dann mehr die göttliche Seite hervorgehoben, was ihn unnahbar machte, die Religion „orthodox“ erstarren ließ und ganz zu einem Machtinstrument des Staates machte.

In der römischen Kirche und im Anschluß daran in der evangelischen wurde mehr die menschliche Seite hervorgehoben. Man denke nur an all die Kruzifixe mit dem zerschundenen, erniedrigten und leidenden Heiland, – während im Osten selbst der am Kreuz hängende Jesus noch immer der souveräne Kaiser des Universums ist.

Auf beiden Seiten triumphierte dergestalt die Emotionelle Pest, indem sie den lebendigen Impuls „Christus“ zum Erstarren brachte. Wobei der Westen auch noch der gnostischen Häresie verfiel, die sozusagen das Menschliche, Allzumenschliche an Jesus wieder wettmachen sollte. Aus dem souveränen Herrscher des Universums wurde der Botschafter aus einer Lichtwelt, der die Frohe Botschaft in die absolute Finsternis trägt. Das sieht man im zentralen Satz der Theologie der Westkirche, den ich wie folgt formulieren möchte: „Ohne die Gnade Gottes sind wir alle elende, verkommene Sünder, die die Hölle und die Strafe Gottes verdienen. Jedes gute Potential, überhaupt schlichtweg alles Gute in uns kommt einzig und allein von Gott und der Kraft des Heiligen Geistes, wenn wir uns taufen lassen und unser Herz Christus schenken.“ Dieser Satz ist die Emotionelle Pest des Abendlandes: Du bist weniger als nichts, das Über-Ich ist alles.

Die im Westen triumphierende Gnosis betrachtet die Schöpfung und damit auch jedes einzelne menschliche Herz als zutiefst verfehlt und böse von Natur aus. Wir müssen innerlich ersterben, damit der Lichtbringer aus einer anderen Welt, Christus, in uns leben kann. Das zeigte sich unmittelbar in der Kindererziehung. Kinder, die in evangelikalen und fundamentalistisch katholischen Sekten aufgewachsen sind, können Geschichten aus den Abgründen der Hölle erzählen… Selbst unsere eigenen Kinder sind weniger Wert als Hundekot, wenn wir nicht Christus in sie hineinprügeln. Unsere eigenen Triebe, überhaupt alles an uns, ist des Teufels, solange nicht ganz allein Christus in uns herrscht.

Kann man sich einen schlimmeren Verrat an der „Lehre“ des vor 2000 Jahren ermordeten Christus Jesus vorstellen? In der antignostischen Orthodoxie scheint immerhin das genaue Gegenteil durch: daß die Schöpfung und damit der Mensch von Grund auf gut ist:

Die von Gott gegebene Würde wird durch das Vorhandensein der sittlichen Grundsätze in jedem Menschen bestätigt, die durch die Stimme des Gewissens erkannt werden. Darüber schreibt der heilige Apostel Paulus im Brief an die Römer: „Die Forderung des Gesetzes ist ihnen ins Herz geschrieben; ihr Gewissen legt Zeugnis davon ab, ihre Gedanken klagen sich gegenseitig an und verteidigen sich” (Röm 2, 15). Namentlich deshalb offenbaren die sittlichen Normen, die der menschlichen Natur eigen sind, wie auch die sittlichen Normen, die in der Göttlichen Offenbarung enthalten sind, den Plan Gottes mit dem Menschen und seine Bestimmung. Sie sind wegweisend für ein glückseliges Leben, das der von Gott geschaffenen Natur des Menschen würdig ist. Das größte Vorbild eines solchen Lebens hat der Welt der Herr Jesus Christus offenbart.

Unwürdig ist das Leben eines Menschen in Sünde, weil es den Menschen selbst zerstört und anderen Menschen sowie der Umwelt Schaden zufügt. Die Sünde stellt die Hierarchie der Beziehungen in der Natur des Menschen auf den Kopf. Statt daß der Geist Macht über den Leib hat, unterwirft er sich in der Sünde dem Fleisch. Der Heilige Johannes Chrysostomus verweist hierauf und sagt: „Wir haben die Ordnung verkehrt und das Böse ist so stark geworden, daß wir die Seele zwingen, den Wünschen des Fleisches zu folgen” (Gespräch 12 Homilien über Genesis). Das Leben nach den Gesetzen des Fleisches ist den Geboten Gottes zuwider und entspricht nicht den sittlichen Grundsätzen, die von Gott in die Natur des Menschen hineingelegt wurden. In den Beziehungen zu anderen Menschen handelt der Mensch unter dem Einfluß der Sünde als Egoist, der sich nur um die Befriedigung seiner Bedürfnisse auf Kosten der Nächsten kümmert. Ein solches Leben ist gefährlich für eine Person, für eine Gesellschaft und für die Umwelt, weil es die Harmonie des Seins zerstört und mit seelischen und körperlichen Leiden, Krankheiten und Hilflosigkeit gegenüber den Folgen der Zerstörung der Umwelt endet. Ontologisch führt ein sittlich unwürdiges Leben nicht zur Zerstörung der von Gott gegebenen Würde, aber es trübt sie so weit ein, daß sie kaum wahrnehmbar ist. Gerade deshalb bedarf es einer starken Willensanstrengung, um die natürliche Würde eines Schwerverbrechers oder eines Tyrannen zu sehen und erst recht, um sie anzuerkennen. (https://www.kas.de/c/document_library/get_file?uuid=5633845a-d204-d782-ad23-56ddf784c6b9&groupId=252038)

Bei allem Kampf gegen „das Fleisch und den Egoismus“, der natürlich auch die Ostkirche prägt, bleibt doch zumindest die Würde des Menschen erhalten. Ich habe das zitiert, weil man hieran sehen kann, wie aus der „Lehre Christi“ sich die frühe Kirchenlehre entwickelte und aus diesem bereits lebensfeindlichen, pestilenten Kern der gnostische Nihilismus des Westens – der schließlich im Tod Gottes mündete.

West gegen Ost, Liberale gegen Konservative: Die Theologie des Ukraine-Krieges

9. September 2023

Das Grundcharakteristikum gepanzerten Denkens ist das Zerstückeln der funktionellen Einheit in unversöhnliche Gegensätze, die dann notdürftig in willkürlichen zusammengezimmerten Konstrukten wieder zusammengeführt werden. Nehmen wir die Bibel; das Buch, das die Geschichte der Menschheit beschreibt.

Am Anfang stehen zwei Bäume. Der eine Baum schenkt das ewige Leben, d.h. man ist eins mit allem. Der zweite ist der „Baum der Erkenntnis“, d.h. diese Eintracht wird analytisch auseinandergenommen, das angeblich Gute vom angeblich Schlechten geschieden – die Einheit zerfällt und mit der Zwietracht zieht der Tod in die Welt ein.

Der kleine Finger meiner rechten Hand lebt verhältnismäßig „ewig“. Schlag ich ihn aber mit einem Hackebeil ab, löse ich ihn aus der Einheit des Körpers, wird er schnell verrotten. Entsprechend hatten sich Adam und Eva von Gott gelöst, als sie sich seinem Gebot widersetzten und vom Erkenntnisbaum aßen. Die Frucht ihrer Sünde war der Tod.

Gott kehrte in Gestalt Christi zu seinen Geschöpfen zurück, um die Nachkommen von Adam und Eva zu erlösen. Was und wie das geschah, läßt sich auf zweierlei Art und Weise beschreiben und erklären, d.h. gemäß dem Schisma des Christentums in West- und Ostkirche; einer Zwietracht, in der sich die Urtragödie der Menschheit wiederholt.

In der Westkirche mußte die Menschheit das Paradies verlassen, weil es sich Gottes „Einheitsgebot“ (d.h. nicht von der entzweienden Frucht zu essen) widersetzte. Diese Ursünde, die Urrebellion, war erblich und konnte nur aufgehoben werden, indem das unschuldig geborene himmlische „Christkind“ auf die Erde kommt und am Kreuz stellvertretend die Sühne für all die schuldbeladen geborenen Erdenkinder übernimmt und durch seinen Martertod ungeschehen macht. Du bist erlöst, wenn du dich zu Christus bekennst und auf diese Weise mit ihm eins wirst und dergestalt an der Sündenvergebung teilhast.

In der Ostkirche hingegen erbten die Kinder von Adam und Eva nicht etwa deren Sünde, litten also nicht an der „Erbsünde“, sondern sie erbten so etwas wie einen „Gendefekt“: daß man sterben muß, den Tod. Der Herrscher des Garten Edens erschien schließlich erneut auf Erden, um an den „Baum des Lebens“ geschlagen zu werden. Wer in der Eucharistie von der Frucht dieses Baumes ißt (dem Fleisch und Blut Christi), wird vom besagt Defekt geheilt und dergestalt vom Tod befreit.

Im Osten ist also von Schuld und Sühne gar keine Rede, was dabei aber verlorengeht. ist das „Christkind“. Es ist schlichtweg undenkbar, daß in der orthodoxen Ikonographie Christus als schwaches, ahnungsloses, hilfsbedürftiges Menschenbaby dargestellt wird, so wie es der Westen tut, um Christi alles entscheidende Unschuld möglichst sinnfällig zu unterstreichen. Allein schon damit entfällt in der orthodoxen Welt die Möglichkeit ein Buch wie Reichs Christusmord zu formulieren!

Andererseits zeichnet die römisch-katholische und protestantische Interpretation der Bibel ein derartig kleinkariertes, legalistisches und rachsüchtiges Gottesbild, daß in ihr Atheismus und Nihilismus von vornherein angelegt sind.

Nur so wurde überhaupt die Aufklärung möglich, aber unter welchem Preis! Der Preis war die Fixierung des westlichen Geistes auf die Frage der Schuld und auf das Schuldgefühl. Wirklich alles dreht sich um das Schuldgefühl, d.h. die in der Muskulatur blockierte Aggression (die besagte Rebellion gegen Gottvater)!

Für den konservativen westlichen Christen wurde das immerhin durch den immer wieder beschworenen Opfertod Christi gemildert. Das Schuldgefühl wurde weitgehend erledigt und der Konservative konnte sich deshalb mit anderem beschäftigen und einigermaßen rational handeln.

Beim vermeintlich „aufgeklärten“ nur oberflächlich vom Christentum emanzipierten Liberalen hingegen löste sich wegen seiner strukturellen Unfähigkeit zum „Glauben“ (Vertrauen aufgrund von Kernkontakt) dieser Knoten keinesfalls und bestimmte ungebrochen sein Leben. Das erklärt die dauernden Versuche des Liberalen mit immer neuen gutmenschlichen Aktionen, Sozialprogrammen, Masseneinwanderung, Unterwerfungsgesten und immer neuen Schuldbekenntnissen, irgendwie mit der nagenden Schuld umzugehen. Imgrunde beschäftigt ihn nichts anderes! Es ist ein Irrsinn jenseits jeder Psychose!

Das erklärt auch den instinktiven Haß des Liberalen auf das „durch und durch gewissenlose“ orthodoxe Rußland, der anfänglich sogar den Marxismus beseelte und seit 1989 erneut beseelt. Entsprechend ist auch die fanatische Kriegsbegeisterung AUSGERECHNET des Liberalen angesichts des Ukrainekriegs erklärlich. Umgekehrt steht der Osten dem Emanzipatorischem, dem Individuum und der individuellen Verantwortung beim Westmenschen unverständig gegenüber.

In gewisser Weise sehen wir, West und Ost, im jeweils anderen förmlich den leibhaftigen Teufel. Das ist so, weil der gepanzerte Mensch weder das Proto-Evangelium (die Geschichte vom Garten Eden) noch das Evangelium (die Geschichte vom Christusmord) verstehen kann. Er sieht nur immer Bruchstücke, die er jeweils zu einseitigen bizarren Kollagen zusammenfügt. Die wahre Geschichte des Christentums wurde erst 1953 erzählt.

Die biologische Fehlrechnung in der Ökonomie (Teil 3)

4. September 2023

Der Austausch von Waren, von dem die klassische Ökonomik ausgeht, ist eine Verfallserscheinung der ursprünglichen Ordnung, wie Bronislaw Malinowski sie anhand der Trobriader Melanesiens gezeigt hat (siehe Reichs Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral). Diese basierte fast ausschließlich auf Vertrauen: man gab etwas und wußte, daß man eines Tages einen höheren Gegenwert zurückerhalten würde. „Zeit“ war nie leer, sondern immer etwas, was mit „bioenergetischer Spannung“ gefüllt war.

Mit dem Zerfall dieser ursprünglichen Ordnung ging dieses Vertrauen und diese „Zeitfülle“ verloren. Der Mensch „verfiel dem Gold“. Wenn ich das richtig verstanden habe, handeln davon fast alle Mythen vom Verlust der alten Ordnung, die Wagner in seinem krypto-kommunistischen Ring der Nibelungen zusammengeführt hat. An die Stelle von Vertrauen tritt die Gier nach Gold und die Willkür der Götter, die wie Wotan ständig „ordnend“ eingreifen und trotzdem nur immer mehr Chaos erzeugen, bis es schließlich zur „Götterdämmerung“ kommt, letztendlich weil niemand mehr irgend jemanden vertrauen kann und alles dem Nihilismus (sozusagen der „Zeitleere“) verfällt. (In Tolkiens kongenialem krypto-katholischem Herr der Ringe geht es um die Wiederherstellung einer ewigen moralischen Ordnung, zu der es keine mögliche Alternative gibt.)

Freud vertrat die diametrale Gegenposition zur Anthropologie Reichs, d.h. am Anfang steht die Willkürherrschaft des „Urvaters“, der schließlich von seinen eigenen Söhnen beseitigt wird (Stichwort Ödipuskomplex). Wie man sich das konkret vorstellen kann, läßt sich anhand der Eigentumsökonomik Gunnar Heinsohns aufzeigen. Dieser zufolge stand am Anfang, d.h. in der Antike, die Verwaltung und mehr oder weniger willkürliche paternalistische Verteilung von Gütern. Nach einem revolutionären Umbruch wurde der Feudalbesitz (materielle Beherrschung) aufgeteilt und durch einen Rechtsakt in Eigentum (rechtliche Beherrschung) umgewandelt. Konkret war das die gleichmäßige Aufteilung des Landes unter den vatermörderischen Revolutionären. Von diesem Zeitpunkt an geht es, so die Vorstellung Heinsohns, nicht mehr um das Verteilen von Gütern, sondern um die Verwertung des Eigentums unter den Bedingungen der Erzwingung von Mehrertrag durch den Zins. Wer bei einem Kreditgeschäft auf die freie Verfügbarkeit seines Eigentums, das etwa verpfändet oder verkauft werden kann, zeitweise verzichtet, möchte dafür kompensiert werden („Eigentumsprämie“), der Kreditnehmer kann also das fremde Eigentum, das er zeitweise besitzt, zum eigenen Vorteil nicht frei nutzen, sondern muß einen Zins unter der ständigen Drohung erwirtschaften, bei Nichterfüllung das eigene Eigentum, das den Kredit absichert, durch entsprechende Rechtstitel zu verlieren.

Eigentum wird durch einen nichtphysischen Rechtsakt geschaffen. Am Anfang steht die Parzellierung des Landes mit je einem Eigentümer der einzelnen Parzellen. Dadurch, daß es eingezäunt wird, ändert sich an einem Stück Land zunächst einmal gar nichts, trotzdem ist das, Heinsohn zufolge, der alles entscheidende Bruch in der Wirtschaftsgeschichte, denn durch das Eigentum, wird der Kredit- und Zinsmechanismus ingang gesetzt und der Eigentümer dadurch gezwungen, dieses Land profitabel zu bewirtschaften. Plötzlich zählen persönliche Beziehungen rein gar nichts mehr, der Austausch wird sozusagen „blind“, vor allem aber „mathematisiert“, d.h. infolge des abstrakten Eigentumsbegriffs zählt einzig und allein die Quantität: die unmenschliche Kälte des Kapitalismus.

Heinsohn (ähnlich wie zuvor Freud) sieht nicht, daß es sich hier um Verfallserscheinungen der ursprünglichen „ungepanzerten“ Ordnung handelt und die beschriebene „Blindheit“ eine Folge von Panzerung ist.

Die große Verachtung

25. August 2023

Es gibt gegenüber LaMettrie, Stirner und Reich eine ganz bestimmte „lächelnd herablassende“ Haltung von Menschen, die sich als „Aufklärer“ gerieren. Im Vergleich mit dem „göttlichen Marquis“ habe LaMettrie nicht die letzte Konsequenz gezogen, sondern sei nur charmant, galant, hedonistisch. Das entspricht ungefähr der Haltung Freuds gegenüber Reich, der das letztendlich Destruktive und zutiefst Perverse an den Trieben nicht habe sehen wollen. Kommt Stirner ins Spiel, werden letztendlich immer Marx oder Nietzsche bzw. eine Kombination von beiden ins Feld geführt. Doch letztendlich läßt sich der Vorwurf gegen Stirner auf ein einziges Wort kondensieren: „Kleinbürger“. Als Jugendliche hätten wir früher gesagt: „Ein blöder Wichser!“ Am Peinlichsten sei aber Naivling Reich, der früher vielleicht verklemmte Pubertierende habe ansprechen können und der sich mit dem „Orgon“ endgültig selbst trottelhaft ins Abseits gestellt habe. In jeder Hinsicht wurde er bei den „68ern“ von Marcuse und heute von Foucault obsolet gemacht, d.h. von einem Amalgam aus Sade, Marx, Nietzsche und Freud.

Ich muß bei den vermeintlich aufklärerischen Jüngern der letzten sechs immer an finster dreinschauende ganz in schwarz gekleidete Jugendliche denken, die ständig „nihilistische“ Dinge von sich geben, neuerdings sich die Genitalien amputieren lassen und von sich glauben, sie hätten die Weltläufe durchschaut. Tatsächlich ist das natürlich nur Lebensangst und die Selbstimmunisierung gegen Enttäuschung: wenn eh alles finster und scheiße ist… Das Erschreckende ist, daß dieser primitive Mechanismus nunmehr fast 300 Jahren den „kritischen“ Teil unserer Kultur bestimmt. Wenn ich die „kritische Elite“ unserer Intellektuellen anschaue, sehe ich verpeilte Rotzlöffel, die vor Lebensangst, Angst vor bioenergetischer Expansion, schlottern.

Vor LaMettrie, Stirner und Reich haben sie Angst, weil die ihre Feigheit, Heuchelei und Duckmäuserei angesichts des Lebens entlarven. Wieviel sicherer ist da doch die Feier des „Todestriebes“, wie Sade ihn betrieben hat und zu dem etwa Nietzsche in Gestalt von Schopenhauers Philosophie flüchtete. Heute bieten sich Marcuse und Foucault an.

Email [„Eine vacante Vision“] (2012)

13. August 2023

Email [„Eine vacante Vision“] (2012)

Email [das dreimalige Scheitern der Aufklärung] (2012)

22. Juli 2023

Email [das dreimalige Scheitern der Aufklärung] (2012)

Reflektionen über Max Stirner von konservativer Warte (Teil 59)

31. März 2023

[Diese Reihe soll zur Auseinandersetzung mit Bernd A. Laskas LSR-Projekt animieren.]

Wenden wir uns Günter Rohrmosers Buch Ernstfall zu. Flott zu lesen, voller überraschender Einsichten und nicht unsympathisch. Trotzdem fühle ich mich ständig an Laskas Arbeit über Carl Schmitt und Ernst Jünger erinnert, von wegen Katechon (und Jüngers von Laska nicht mehr rezipierte Hinwendung zum Katholizismus). Rohrmoser scheint so etwas wie ein „Schmitt in Reinschrift“ zu sein. Von wegen „… Verlust jeden Glaubens … intellektueller Zynismus und in letzter Konsequenz Nihilismus … dessen authentische Gestalt (der Liberalismus) womöglich selbst ist …“ (S. 19). Stirner, atomistische Revolution, Katechon, d.h. der „Aufhalter“, der Konservative, der diese apokalyptische Endzeitkatastrophe aufhält.

Verblüffend der auffällige Kontrast, die Hochachtung mit welcher Rohrmoser Marx und Nietzsche behandelt: hätten die doch, so Rohrmoser, die richtigen Probleme gesehen (Nihilismus, atomistisch Revolution), aber nicht die richtige Antwort gegeben: den „sittlichen Staat“ Hegels (also letztendlich die Kirche als Über-Ich der ansonsten der Unsittlichkeit und Atomisierung anheimfallenden Gesellschaft). Dabei verkennt der gute Mann, daß Marx genau das intendierte: die (materialistische gewendete) Hegelsche Philosophie als Kopf der (restlos proletarisierten) Gesellschaft – und daß der Realsozialismus eine Art „nietzscheanischer Marxismus“ war. Schon ganz schön frech, wenn uns ein konservativer Philosoph nun den (verkürzt gesagt) Urquell dieser Scheiße, nämlich Hegel, als Rettung der ansonsten dem Untergang geweihten liberalen Gesellschaft andient.

Wenn wir noch einmal den Visionen der großen konservativen Denker aus dem 19. Jahrhundert folgen, dann haben sie mit dem Prozeß der Modernisierung nichts anderes verbunden als die Heraufkunft einer neuen Barbarei. Nietzsches Kernthese lautete bereits: „Uns steht im 20. Jahrhundert eine Revolution bevor, aber keine sozialistische oder nationalvölkische, sondern die atomistische Revolution.“ Nietzsche sah voraus, daß die Völker mit dem Verlust ihrer Geschichte beginnen würden, sich von innen her aufzulösen bis hin zur Individualisierung, die unsere Lobredner der postmodernen Buntheit immer noch als erstrebenswertes Ziel verkünden. Individualisierung, Singularisierung oder Atomisierung sind gleichbedeutend mit der Auflösung der Ehe, Auflösung der Familie, Niedergang aller Gemeinschaftsformen; im Endergebnis ein Erosions- und Auflösungsprozeß des ganzen Volkes! Und dieser Fortschritt wird als die „eigentliche Freiheit“ verkauft. Es gibt auf dieser Welt wohl kaum ein Volk, das in diesem Erosionsprozeß so weit vorangeschritten ist, so weit sich aufgelöst hat, wie das deutsche im westlichen Teil unserer Republik. Alle Begleitumstände und Tatsachen, die wir anhand von Wirtschaft und Politik, von Wissenschaft und Publizistik über Parteienverdrossenheit, Politikerverdrossenheit und sogar Staatsverdrossenheit diskutieren, sind alles nur die Auswirkungen dieses inneren Auflösungsprozesses unseres Volkes. (Rohrmoser: „Über die Unverzichtbarkeit der Nation“. In: Studienzentrum Weikersheim (Hrsg.): Von der Parteienverdrossenheit zur Staatskrise?, Mainz 1994, S. 145f).

Und wer ist schuld? Stirner! Und Reich, der nun wirklich eine marginale Rolle gespielt hat, als 68er Beelzebub. Im obigen Sammelband lesen wir dazu:

Rekurrierend auf die freudomarxistischen Positionen Wilhelm Reichs wurden seit 1968 Schulen umfunktioniert. (…) Wenn heute z.B. von sogenannten Fachleuten gefordert wird, man solle im zwischenmenschlichen Bereich, also auch in der Familie, aggressive Impulse ausleben, und diese Theorie als wissenschaftliche Erkenntnis ausgeben, dann wird dabei tunlichst verschwiegen, daß ein solcher Ansatz die Position des Freudomarxisten Wilhelm Reich und in dessen Fortführung diejenige der anarchistisch orientierten Gestalttherapeuten Fritz Perls und Paul Goodman referiert und wissenschaftlich längst widerlegt ist. Allerdings erlaubt die Propagierung eines solchen Ansatzes in Familie und Schule eine zunehmende Verrohung im Umgang und damit eine Auflösung von Bindungen. (Eva-Maria Föllmer: „Familiäre und soziale Bindungen“. In: ebd., S. 77, alle Hervorhebungen von PN).

Bezeichnend ist natürlich, daß gerade Konservative tunlichst die Nennung von Stirner und Reich vermeiden! Man nehme etwa Günter Rohrmosers 400 Seiten-Epos (und zwar augenschädigend engbedruckte Seiten) über Nietzsche als Diagnostiker der Gegenwart (München 2000). Rohrmoser erwähnt (jedenfalls nach dem Personenregister) in diesen vollkommen freigehaltenen Vorlesungen kein einziges Mal Stirner. Sein ganzes Leben hat sich der konservative Denker mit Marx und Nietzsche auseinandergesetzt, aber der, der diese beiden erst dazu brachte, ihre Systeme zu errichten, wird nicht genannt, obwohl er, wie wir in Teil 58 gesehen haben, ihm durchaus geläufig ist.

Immerhin: „Nach der Lektüre dieses Buches wird man begreifen, daß sich die postmodernen Theoretiker einer Illusion hingeben, wenn sie aus der Not der geistigen Leere eine Tugend machen und den anarchistischen Verfall unserer Kultur als den Triumpf des Liberalismus und der Pluralität interpretieren.“