Es ist eine erhellende Frage, ob Reich ein „überschreitender“ Denker war mit dem Transzendieren als Grundprinzip seiner Weltsicht, im wörtlichen Sinne als auch im Sinne der Anerkennung von etwas „Transzendentalen“, d.h. dem eigentlichen Wesen entsprechend. Der Freudsche Begriff des „Ich-Ideals“, dem man entgegenstrebt, weil es dem eigenen Grundwesen entspricht, trifft das sehr gzut. Ganz ausdrücklich transzendental wird Reich bei seinen häufigen Äußerungen über die „kosmische Sehnsucht“. Weitere Stichworte sind: „außerhalb der Charakterstruktur des Homo normalis“, „bioenergetischer Kern jenseits der Panzerung“, „Kinder der Zukunft“, „primordiales Orgon“, „Funktion statt Struktur“, die „funktionelle Transmutation“ wie auch alle anderen Funktionsschemata Reichs (z.B. die des Metabolismus des orgonomischen und mechanischen Potentials in Äther, Gott und Teufel). Der Begriff „Funktion“ an sich ist transzendental, genauso wie die Evolution an sich transzendental ist; die Arten „überschreiten“ sich. In der Rede an den Kleinen Mann sagt Reich:
Du denkst immer zu kurz, kleiner Mann, nur vom Frühstück bis zum Mittagessen. Du mußt es lernen, in Jahrhunderten zurück und in Jahrtausenden vorwärts zu denken. (S. 97) Doch ich habe mich über die hinweggeschwungen, und ich sehe dich aus der Perspektive von Jahrtausenden, vorwärts und rückwäts in der Zeit. (S. 79)
Reichs transzendentales Grundprinzip entspricht dem, was Nietzsche „Wille zur Macht“ genannt hat, im Sinne der Überschreitung der Grenzen. Diese Metastruktur der Orgonomie wird mißverstanden und so kommt es zu Fehlinterpretationen in Richtung Metaphysik und Mystik, so als hätte Reich einen „Urgrund“ bzw. transzendentale „höhere Welten“ erschlossen, nach denen es zu streben gilt („transzendieren“).
Dieses Mißverstehen entspricht der Nietzsche-Rezeption Heideggers mit ihrer falschen metaphysischen Interpretation von Nietzsches „überschreitender“ Philosophie, wie Georg Picht es dargelegt hat: es geht Nietzsche darum einen Glauben zu setzen – was dem Grundwesen des Lebens entspricht, da ohne einen solchen Leben nicht möglich ist (Nietzsche, Stuttgart 1988). Daraus, d.h. aus dem Willen zur Macht, eine Meta-Physik, d.h. eine Art „Ding“, zu machen, ist Grundlage jeder Mystik, jeder Ideologie und Religion und muß im Auge behalten werden, wenn man die Orgonomie vor den Schlammfluten des schwarzen Okkultismus bewahren will.
Man nehme „Christus“ in Reichs Oeuvre: Für Reich ist Christus das Ich-Ideal der Menschheit; etwas, was außerhalb der gepanzerten Welt steht und wonach man streben muß. Das bedeutet aber noch lange nicht, daß es Christus in dem Sinne gibt, wie es die Christen glauben, und daß man eines Tages bei ihm im Himmel ist. Es mag alles ähnlich klingen und von ähnlichen Emotionen getragen sein, doch es sind zwei vollständig unterschiedliche Vorstellungswelten!
Leider kann man aber auch gerade das Entwicklungsmodell teleologisch mystifizieren, wie es z.B. Teilhard de Chardin getan hat. Gegen ein solches Mißverstehen sei auf Hans Hass verwiesen, der im ersten Band seiner Naturphilosophischen Schriften zeigt, daß es keine göttliche Intelligenz hinter und nichts Perfektes in der Evolution gibt. Hass zerstört die Illusion, die Evolution würde geradlinig verlaufen und vollkommene Ergebnisse zeitigen. Er widerlegt definitiv die Existenz Gottes. Es sei auch auf Reichs Kritik am Konzept der Naturnotwendigkeit im nationalsozialistischen Biologismus erinnert, wie er sie in Die Massenpsychologie des Faschismus dargelegt hat.
Die transzendentale Sichtweise der Orgonomie hat auch Auswirkungen auf die therapeutische Praxis, ist doch die Neurose nichts anderes als „stures Verharren“ angesichts einer sich ändernden Umwelt. Dann liegt die Aufgabe der charakteranalytischen Psychotherapie in der Öffnung hin zur „Transzendenz“, d.h. sowohl nach „transzendental“ außerhalb des Panzers als auch „transzendierend“ zur Zukunft. Besonders wichtig ist das okulare Segment. Es entspricht der psychogenetischen Stufe, in der der Bezugsrahmen gesetzt wird. Danach kommt die orale Stufe, d.h. die Hinwendung zur nährenden Welt bzw. den möglichen existentiellen Enttäuschungen, die damit einhergehen können („Depression“). Gefolgt von der analen Stufe: Organisation bzw. Desorganisation. Dann die phallische Stufe: aggressive Behauptung: Wille zur Macht in seiner krudesten Form, gefolgt schließlich vom Gegenteil der Behauptung: dem vollständigen Loslassen in der genitalen Stufe.
Dieses Stufenmodell ist potentiell sehr irreführend, denn es legt nahe, daß die prägenitalen Triebe primär sind, d.h. die Genitalität sich aus ihnen erst entwickeln muß. Tatsächlich geht es um den Ausdruck der primären (sozusagen „primordialen“) Genitalität auf jeweils höherer Organisationsebene. In diesem Sinne verkörpert die Orgonomie das Gegenteil von Transzendenz etwa im Gegensatz zur Psychoanalyse, wo es um „Sublimation“, „Vergeistigung“, Überwindung der Triebe geht. Wie jede Naturwissenschaft gibt es ab einem gewissen Punkt auch keine Weiterentwicklung der Orgonomie als solcher. Man denke im Vergleich nur daran, daß sich seit Newton kaum etwas an der Optik geändert hat oder seit Schrödinger und Heisenberg kaum etwas an der Quantenmechanik. Eines Tages wird es keine Weiterentwicklung der Physik mehr geben (jedenfalls nicht in grundsätzlichen Fragen).
Es gibt nichts jenseits des Orgons und so auch keine „transzendentale“ Entwicklung; das funktionelle Denken wurde entdeckt, es war sich immer gleich und wird sich nie entwickeln können, ganz einfach, weil das Orgon ständig gleich funktioniert (vgl. den sehr wichtigen Artikel von S. Clark & R. Frauchinger: „Paradigm-Maker or Paradigm-Breaker“ Journal of Orgonomy, 20, 1986). Entweder hat man einen Orgasmus oder man hat keinen, es gibt da kein Wachstum in der Qualität der „Orgasmen“. Meine Beschreibung der Entwicklung der Orgasmusfunktion im Tierreich wurde u.a. dadurch so verwickelt, weil die Orgasmusfunktion als die Grundkonstituente des Lebendigen an sich keine Entwicklung kennt. In der ewigen Wiederkehr, die die Pulsation ausmacht, kann es keine Entwicklung geben.
Die Kinder der Zukunft sind die Kinder der Urzeit. Kaum etwas ist Lächerlicher als der Begriff einer „kulturellen Entwicklung“: die Höhlenmalereien in Frankreich haben schon vor 15 000 Jahren alles in der Malerei geleistet; nichts wird jemals die griechische Plastik, die Malerei und Plastik der Renaissance oder die klassische Musik übertreffen. Es gibt keine Entwicklung, sondern nur der ewig gültige Ausdruck des sich immer gleichbleibenden kosmischen Orgons. Es ist mehr als nur fraglich, daß sich der Mensch in irgendeiner Weise biologisch, spirituell oder sozial weiterentwickeln wird – wie es die Christen, die Kommunisten, die Nazis und jetzt das New Age erhoffen. In den matriarchalen „primitiven“ Gesellschaften, wie die der Trobriander, gab es keine Entwicklung, sondern nur die Ewige Wiederkehr von ein für allemal eingesetzten Ritualen. Man beachte auch die „geschichtlichen“ Marxistischen Angriffe auf Reichs „ungeschichtliches“ Menschenbild; ebenso die an der Geschichte orientierte Psychoanalyse und vergleiche sie mit der orthodoxen Orgontherapie, wie Reich selbst sie am Ende praktizierte, die nur am hier und jetzt interessiert war und die Historie, d.h. die Zeit weitgehend draußen vor ließ!
Nach Hegel ist die Natur durch die ewige Wiederkehr des Gleichen gekennzeichnet, während es in der menschlichen Kultur historische Entwicklung gibt. Wenn Reich nun Kultur und Natur versöhnen wollte, konnte er dies nur auf Grundlage der Natur machen. Dies ist sehr wichtig, um Reichs Stellung in der deutschen nachhegelschen Geistestradition, zu der der Marxismus zentral gehört, verstehen zu können. Aus der Sicht der sich ständig gleichbleibenden primitiven Kulturen ist Reichs Anklage des „Sitzens“ (des auf der Stelle Sitzenbleibens des gepanzerten Menschen) bei all ihrer Berechtigung irgendwie, d.h. auf einer tieferen Ebene „unorgonomisch“. Auch ganz praktisch ist es fraglich, an die Entwicklung von Menschen zu glauben: entweder nimmt man die Wahrheit sofort an, wenn man auf sie trifft, oder nie! Hierher gehört Reichs tiefer therapeutischer Pessimismus.
Natürlich hat sich z.B. Reich entwickelt. Aber meine Chronik der Orgonomie zeigt doch gerade eben auch, daß bei Reich schon alles am Anfang da war. Das gleiche sieht man ganz besonders deutlich bei Nietzsche: schon als 13jähriger hat er praktisch genau dasselbe geschrieben, wie als 43jähriger. Dies hat besonders schön Hermann Josef Schmidt in seinem Buch über Nietzsches Kindheit dargelegt (Nietzsche absconditus, Berlin 1991). Der reife Mann („Übermensch“) wird dem Kind wieder ähnlicher; dem, was der erste Psychologe, d.i. Nietzsche, den „Grundcharakter“ genannt hat (Menschliches, Allzumenschliches, A 612). (Vgl. auch Nietzsches Brief vom 19.12.1876 an Cosima Wagner, der Nietzsches endgültige Selbstfindung signalisiert.)
Lebenspraktisch kann man kaum Entscheidenderes sagen, als daß man sich auf seine Ursprünge besinnen muß, um „der zu werden, der man ist“ (Nietzsche). Eine solche Sichtweise hat auch eine weitgehende therapeutische Bedeutung bei Patienten, die sich selbst verloren haben, ohne Identität durch die Welt fallen und dann in Außensteuerungen halt suchen, anstatt zur Selbststeuerung zu finden, die auf der ewigen Wiederkehr des Gleichen in der orgonotischen Pulsation beruht. Deshalb geht man heute ja auch zum Psychologen, wegen Identitäts- und Sinnkrisen.
Es wurde ausgeführt, die Orgasmusfunktion sei an sich transzendental, überschreitend im Sinne von Entladung und Erfüllung der orgastischen Sehnsucht („Liebe“). Aber diese Transzendenz will nur sich selber, ist eine immer wiederkehrende periodische Funktion, ewige Wiederkehr, wie z.B. bei der Zellteilung (= Orgasmus) des potentiell unsterblichen Einzellers, der gefangen ist im absoluten Ring der Immanenz. Dieser Seinsaspekt des Lebendigen ist die andere Seite der Orgasmusfunktion. Der patriarchale Mensch ist aus diesem Sein herausgefallen und mußte sich vor dem „orgastischen Tod“ („der kleine Tod“, Orgasmusangst = Todesangst) in die Erstarrung (Panzerung) retten, um nicht unterzugehen.