Man stelle sich einmal vor, man gehe zum Hausarzt und der doktert an einem rum mit der Aussage: „Die Diagnose ist nicht wichtig!“ Genau das hat mir mal eine sogenannte „Orgontherapeutin“ allen Ernstes während einer „Sitzung“ an den Kopf geworfen und das mit einem beachtlichen emotionalen Affekt. Tatsächlich ist in jeder ärztlichen Tätigkeit die richtige Diagnose das wirklich alles entscheidende Moment. Bauchschmerzen: Magenverstimmung? Bauchspeicheldrüsenentzündung? Herzinfarkt? Lungenentzündung? Die Beantwortung dieser Fragen entscheidet über Leben oder Tod! Deshalb ist auch in der legitimen Orgontherapie, wie sie ausschließlich vom American College of Orgonomie gelehrt wird, eine richtige biopsychiatrische Diagnose das A und O. Ohne sie läuft der Therapeut dem Patienten stets hilflos hinterher. Charakter ist Struktur gewordene Vergangenheit und damit auch die Zukunft. Gewisserweise hat der gepanzerte Mensch gar keine Zukunft im eigentlichen Sinne, d.h. keine offene Zukunft, weil sein gesamtes Verhalten von einem charakterstrukturellen Zwang vorherbestimmt ist.
Seit etwa 1960, d.h. mit dem sich bis heute rapide beschleunigenden Wechsel von Jahrtausenden einer autoritären Gesellschaft hin zu einer antiautoritären, d.h. vor allem traditions- und geschichtslosen und deshalb eben „autoritätslosen“ Gesellschaft, werden wir Zeuge, daß auch die Vergangenheit verschwindet. Seit jeher war eines meiner Amüsements die sogenannte „Esoterik“ und die vermeintlichen „Weisheitslehren“ und was ist die Essenz dieser Scheiße, die uns tagtäglich als „Alternative“ eingetrichtert wird? Es gäbe weder Zukunft noch Vergangenheit, sondern einzig und allein die Gegenwart! Die Drogenkultur (sowohl die legale als auch die illegale) als auch die gesamte Unterhaltungsindustrie beruht auf diesem Diktum. Vergesse die Bedrückungen aus der Vergangenheit und die angstbesetzte Zukunft, sondern lebe im Hier und Jetzt, sozusagen in einem ewig anhaltenden Orgasmus!
Das alles ist eine direkte Reflektion der in Folge der sogenannten „sexuellen Revolution“ der 1960er Jahre chaotisch zusammenbrechenden Körperpanzerung. Zusammen mit ihr wurde auch (– jetzt habe ich ein sprachliches Problem:) „die Vergangenheit der jeweiligen Gegenwart geschreddert“. Das, was Patienten zur Eigenanamnese sagen, verliert sich in einem vagen Wortsalat ohne Sinn, Verstand und roten Faden. Und da zunehmend alles digitalisiert wird, kann man nicht mal sicher sein, ob KI nicht im nachhinein die vermeintlichen „Dokumente“ in der Krankenakte umschreibt und sogar gespeicherte Videosequenzen verwandelt oder gar neu kreiert. Wir verlieren, sozusagen „auf der Zeitachse“, zunehmend buchstäblich den Boden unter den Füßen.
Vor etwa vier Jahren erlaubte sich jemand im Internet einen Scherz mit dem „KI-Dämonen“ „Roy Jay“, d.h. er kündigte an, die KI würde „retroaktiv“ die Vergangenheit verändern und einen Komiker namens „Roy Jay“ erzeugen, der angeblich Anfang der 1980 Jahre aktiv gewesen sei. Auf diese Weise würde ein formloser Dämon „retroaktiv“ in die Wirklichkeit treten. Und tatsächlich tauchten in der Folgezeit aus dem nichts eine entsprechende Wikipedia-Seite, weitere verstreute Netzeinträge und sogar offensichtlich KI-generierte Videosequenzen von Roy Jays angeblichen TV-Auftritten auf, alles mit alten Zeitmarkern. Der „Dämon Roy Jay“ schrieb sich selbst in die Vergangenheit ein, indem er vor unserer Augen deren „unveränderbare Faktizität“ veränderte bzw. erst erzeugte!
Tatsächlich hatte des diesen lange vergessenen marginalen Komiker aber tatsächlich gegeben. Die merkwürdig fremdartig und „dämonisch“ wirkenden Videos sahen derartig „eindeutig“ nach KI aus, weil es die digitalen Kopien von immer wieder kopierten Videobändern waren. Hinzu kam, daß die explosionsartig zunehmenden Internetsuchen automatisch den Algorithmus so programmiert hatten, daß Roy Jay von selbst aus den tiefsten Abgründen des Datenlimbo auftauchte. Der Punkt ist, daß es trotzallem wirklich jedem eiskalt den Rücken runtergelaufen ist, der sich mit dieser Geschichte befaßt hat, denn mit der neuen Technologie erzeugt tatsächlich die Gegenwart die Vergangenheit – und theoretisch wäre ein „KI-Dämon“ wie Roy Jay tatsächlich denkbar, d.h. die KI könnte wirklich die Vergangenheit umschreiben und wir wären dieser „dämonischen“ Wendung des Mandela-Effekts vollkommen hoffnungslos ausgeliefert. Und es war in der Tat ein ungeheurer Aufwand „gerichtsfest“ nachzuweisen, daß dieser Roy Jay wirklich als menschliches Wesen gelebt, geboren, gewirkt und gestorben ist. Mit dem Fortschreiten der Digitalisierung wird das in Zukunft praktisch unmöglich sein. Willkommen in der Matrix!
Das ist nicht nur „Technikgeschichte“, sondern unauflöslich mit dem parallel zur Entwicklung der Technik erfolgenden grundlegenden Veränderung der Charakterstruktur des Massenindividuums („Massen-Individuum“…) verbunden. Reich hat dazu in Bezug auf die autoritäre Gesellschaft der 1930er Jahre und der industriellen Revolution ein ganzes Kapitel in Massenpsychologie des Faschismus (1946) geschrieben, siehe den Abschnitt „Biologische Versteifung, Freiheitsunfähigkeit und maschinell autoritäre Lebensauffassung“. Der Mensch wurde, so Reich, zunehmend zu einem Roboter, dessen Zukunft fest einprogammiert war. Dreißig Jahre später begann der Angriff der Gegenwart sogar auf die Vergangenheit. Eine Welt der Massenneurose wurde zu einer Welt der Massenpsychose.
Tatsächlich gibt es zahllose Menschen, die trotz aller handfesten Daten und Artefakte davon überzeugt sind, daß Roy Jay ein „KI-Dämon“ ist und in den 1980er Jahren gar nicht existiert hat. Ohnehin glauben zig Millionen, sie würden in einer Simulation leben. Vor unseren Augen löst sich die antiautoritäre Gesellschaft förmlich in nichts auf, so wie Geist, Körper und Seele eines Schizophrenen mit Minussymptomen sang und klanglos verwehen! Nicht mal Trauer bleibt, sondern nur eine alles verschlingende Leere. Im übrigen war der ganz und gar nicht komische „reale Roy Jay“ mit seinen bizarren, psychotischen und, ja, dämonischen Auftritten selbst ein Symptom der antiautoritären Gesellschaft. Vor ca. 1960 wäre er schlichtweg undenkbar gewesen.



















