Laskas Randnotizen zu Hans G. Helms‘ DIE IDEOLOGIE DER ANONYMEN GESELLSCHAFT (Teil 8)

In einem Brief erinnerte sich Friedrich Engels an ein Gespräch mit Stirner im Herbst 1842:
Wir diskutierten viel über Hegelsche Philosophie, er (Stirner) hatte damals die Entdeckung gemacht, daß Hegels Logik mit einem Fehler anfängt: das Sein welches sich als Nichts erweist und so in Gegensatz zu sich selbst tritt, kann nicht der Anfang sein; der Anfang muß gemacht werden mit etwas das selbst schon unmittelbare, naturwüchsig gegebene Einheit von Sein und Nichts ist, und aus dem erst dieser Gegensatz sich entwickelt: Und dies war nach Stirner – das „Es“ (es schneit, es regnet), etwas das ist und zugleich auch Nichts ist. – Nachher scheint er dann doch dahinter gekommen zu sein, daß es (mit) dem Es, nicht minder als mit dem Sein und Nichts, doch Nichts ist. (z.n. H.G. Helms: Die Ideologie der anonymen Gesellschaft, S. 75f)
In ihrer Besprechung von Stirners Der Einzige und sein Eigentum machen sich Marx und Engels über Stirners „undialektisches“ Denken lustig, denn der könne Übergänge, etwa vom Jüngling zum Mann nicht dialektisch erklären: (…) wir erfahren bloß, daß ‚Es‘ Dienst verrichten (…) muß (…)“ (Die Ideologie der anonymen Gesellschaft, S. 75). Helms schließt sich der Häme an, wobei er aus Der Einzige und sein Eigentum zitiert. Helms:
(…) Ja, so wird Stirner im „Wegweiser für die galante Welt“ die feine Gesellschaft auf Stichen nach Fragonard oder Boucher im „Verkehr“ „gruppirt“ gesehen haben. „Man pflegt wohl zu sagen: ‚man habe diesen Saal gemeinschaftlich inne‘.“ Das pflegt bloß Stirner zu sagen, bei dem es „aber vielmehr so“ zu sein pflegt, „daß der Saal Uns inne oder in sich hat“, sodaß der arglose Leser meinen könnte, der Stirner, der hat „es“ doch „in sich“. „So weit die natürliche Bedeutung des Wortes Gesellschaft“, der Stirner augenblicklich die unnatürliche, die einzige Bedeutung folgen lassen wird. „Es stellt sich dabei heraus, daß die Gesellschaft nicht durch Mich und Dich erzeugt wird“, sonst wäre alles in Butter, „sondern durch ein Drittes“ – da ist es wieder, dieses „unheimliche“ „es“ oder „man“ –, „welches aus Uns beiden Gesellschafter macht, und daß eben dieses Dritte das Erschaffende, das Gesellschaft Schaffende ist.“ (Die Ideologie der anonymen Gesellschaft, S. 120)
Schließlich zitiert Helms eine Stelle aus Der Einzige und sein Eigentum:
Der Gegensatz des Realen und Idealen ist ein unversöhnlicher, und es kann das eine niemals das andere werden (…). Der Gegensatz beider ist nicht anders zu überwinden, als wenn man beide vernichtet. Nur in diesem „man“, dem Dritten, findet der Gegensatz sein Ende; sonst aber decken Idee und Realität sich nimmermehr. (z.n. Die Ideologie der anonymen Gesellschaft, S. 129, 486)
[Diese Reihe soll zur Auseinandersetzung mit Bernd A. Laskas LSR-Projekt animieren.]
Jung Chang und Jon Halliday haben in ihrem Buch Mao: Das Leben eines Mannes, das Schicksal eines Volkes über mehr als 900 Seiten hinweg den wohl größten Egomanen dargestellt, der je gelebt hat. 70 Millionen seiner Landsleute schickte er in den Tod, den Rest verdammte er zu Elend und Armut, er zerstörte eine der großen Kulturen der Menschheit und starb verbittert, weil er China nicht zu einer dominierenden Weltmacht machen konnte. Ohne Zweifel war er der mit Abstand größte Verbrecher und Massenmörder, den die Menschheit hervorgebracht hat. Und dabei ging es immer nur um ihn selbst und nicht etwa irgendeine Ideologie (Marx und Engels hat er nie gelesen). Er war ein Außerirdischer vollkommen losgelöst von jedweder Tradition und verachtete die Moral und das Gewissen. Ist er damit nicht eine perfekte Verkörperung von Stirners Einzigem? Oder man schaue sich Klaus Schwab oder Bill Gates an, die „Maoisten“ der Jetztzeit, die nach dem Motto leben: Tu, was du willst!
Ja, denn nichts stand Stirner ferner, als das Diktum, daß meine Freiheit bei der Freiheit der anderen, mein Glück beim dadurch vielleicht verursachten Unglück der anderen aufhört. Mein Freiheits- und Glückstreben ist einzig vom Ausmaß meiner Macht abhängig! Das heißt aber noch lange nicht, daß ein Mensch wie Mao ein Eigner seiner Selbst ist, denn zur Macht gehört auch der Wille. Warum sollte ich diese Verrücktheiten verüben? Welches total verkorkste Interesse sollte ich daran haben, andere unglücklich zu sehen? Wenn ich meine eigene Impotenz kompensieren müßte, dann wäre ich ein Besessener, ein Neurotiker, ein vom Über-Ich tyrannisierter und verkrüppelter, also das genaue Gegenteil eines Eigners meiner Selbst.
Und man komme mir nicht mit den Heiligen, die in allem das vermeintliche Gegenteil von Mao verkörpern. Sie machen sich klein, um „im Himmelreich“ die Ersten und Größten zu sein. Sie sind auf ihre Weise ebenso verkrüppelte Egomanen wie Mao. Man schaue sich das Leben von Mutter Theresa an:
Im November 1932 hielt Leo Trotzki seine berühmte „Kopenhagener Rede“ unter dem Titel „Die russische Revolution“. Sie endete mit den folgenden drei Absätzen:
Zwar hat die Menschheit mehr als einmal Giganten des Gedankens und der Tat hervorgebracht, die die Zeitgenossen wie Gipfel einer Bergkette überragten. Das Menschengeschlecht hat ein Recht auf Aristoteles, Shakespeare, Darwin, Beethoven, Goethe, Marx, Edison, Lenin stolz zu sein. Warum sind diese aber so selten? Vor allem darum, weil sie fast ausnahmslos aus höheren und mittleren Klassen hervorgegangen sind. Von seltenen Ausnahmen abgesehen, sind die Funken der Genialität in den niedergehaltenen Tiefen des Volkes, ehe sie noch auflodern konnten, erstickt. Aber auch deshalb, weil der Prozeß der Zeugung, der Entwicklung und Erziehung des Menschen im Wesen eine Sache des Zufalls blieb und bleibt: nicht durchleuchtet von Theorie und Praxis, nicht dem Bewußtsein und dem Willen untergeordnet.
Die Anthropologie, Biologie, Physiologie, Psychologie haben Berge von Material gesammelt, um vor dem Menschen in vollem Umfange die Aufgaben seiner eigenen körperlichen und geistigen Vervollkommnung und weiteren Entwicklung aufzurichten. Die Psychoanalyse hob mit Sigmund Freuds genialer Hand den Deckel vom Brunnen, der poetisch die „Seele“ des Menschen genannt wird. Und was hat sich erwiesen? Unser bewußtes Denken bildet nur ein Teilchen in der Arbeit der finsteren psychischen Kräfte. Gelehrte Taucher steigen auf den Boden des Ozeans und fotografieren dort geheimnisvolle Fische. Indem der menschliche Gedanke auf den Boden seines eigenen seelischen Brunnens hinabsteigt, muß er die geheimnisvollsten Triebkräfte der Psyche beleuchten und sie der Vernunft und dem Willen unterwerfen.
Ist er einmal mit den anarchischen Kräften der eigenen Gesellschaft fertiggeworden, wird der Mensch sich selbst in Arbeit nehmen, in den Mörser, in die Retorte des Chemikers. Die Menschheit wird zum ersten Male sich selbst als Rohmaterial, bestenfalls als physisches und psychisches Halbfabrikat betrachten. Der Sozialismus wird ein Sprung aus dem Reiche der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit auch in dem Sinne bedeuten, daß der gegenwärtige, widerspruchsvolle und unharmonische Mensch einer neuen und glücklicheren Rasse den Weg ebnen wird.
Reich hat im Oktober 1933 diese Aussagen Trotzkis in seiner kurzen Korrespondenz mit ihm in einen – Reich‘schen Zusammenhang gestellt.
Die kommunistische Partei kann als wirtschaftspolitische Organisation die sexualpolitische Arbeit nicht leisten, hierzu ist eine eigene Massenorganisation notwendig, doch kann diese ohne Anlehnung an eine politische Partei ebensowenig zur vollen Entwicklung kommen. Ich bitte Sie nun, mir mitzuteilen, wie Sie zu einer Zusammenarbeit stehen. Dazu wäre natürlich notwendig, daß sich die Führung der politischen Organisation ausreichend über die Grundprobleme der Sexualpolitik orientiert und im Falle des grundsätzlichen Einverständnisses die Organisation unterstützt. Ich glaube bei Ihnen für die Bedeutung der Sexualpolitik für den Klassenkampf mehr Verständnis, als sonst der Fall ist, zu finden und gründe diese Ansicht auf den Schluß Ihrer Kopenhagener Rede; sowie auf Ihre Schrift „Fragen des Alltagslebens“, ich glaube aus dem Jahre 1924, in der Sie im Anhang mit vollem Verständnis die Fragen der Funktionäre dieses Gebiet betreffend abdruckten. Ich darf, ohne es hier zu beweisen, anfügen, daß der Rückgang der Kulturrevolution in der SU zentral mit der Tatsache innigst zusammenhängt, daß die sexuelle Revolution im Jahre 1923 abgestoppt und nicht ins Klare weiterentwickelt wurde.
Reich verkannte vollkommen, daß er und Trotzki (und mit ihm praktisch das gesamte damalige „progressive Lager“) auf zwei vollkommen unterschiedlichen Seiten standen. Marx, Engels, Lenin, Trotzki, Stalin ging es um die Beherrschung der „anarchischen“ Natur, und zwar im Sinn sowohl der äußeren als auch der inneren. „Planwirtschaft!“ Freudianisch ausgedrückt: wo Es war sollte Ich herrschen. Reich ging es ganz im Gegenteil um die Beendigung dieser Art von Herrschaft per se: wo Über-ich war, sollte Ich sein. Das Menschentier sollte „entdomestiziert“ werden und auf gesellschaftlicher Ebene die „natürliche Arbeitsdemokratie“ freigelegt werden.
In seinen obigen Ausführungen dachte Trotzki an etwas grundlegend anderes; etwas, was dem heutigen „Transhumanismus“ nahekommt: „Bewußtsein“, „Wille“, „körperliche und geistige Vervollkommnung und weitere Entwicklung“, „Triebkräfte der Psyche beleuchten und der Vernunft und dem Willen unterwerfen“, „mit den anarchischen Kräften der eigenen Gesellschaft fertigwerden“, „der Mensch in den Mörser, in die Retorte des Chemikers stecken“. Transhumanismus: „Die Menschheit wird zum ersten Male sich selbst als Rohmaterial, bestenfalls als physisches und psychisches Halbfabrikat betrachten.“
Dahinter steckt der eine welthistorische Konflikt zwischen LSR und DMF, zwischen LaMatrie, Stirner, Reich auf der einen und Diderot (Rousseau sowie weitere Menschenbändiger und -züchter), Marx (Nietzsche sowie weitere Menschenbändiger und -züchter) und Freud (Marcuse sowie weitere Menschenbändiger und -züchter) auf der anderen Seite. Bernd Laska hat gezeigt, daß ein Teil von Reichs Tragödie darin bestand, diesen grundlegenden anthropologischen Unterschied zwischen sich und Leuten wie Trotzki, nicht zu sehen bzw. nie deutlich genug wahrzunehmen und eindeutig auszuformulieren. Bereits ins der Deutschen Ideologie hatte Marx gegen Stirner dargelegt, daß der Weg zur Emanzipation nichts Abstraktes sei, blablabla, sondern nur über die Veränderung der Umwelt möglich sei, wobei sich der Mensch selbst verändere…
[Diese Reihe soll zur Auseinandersetzung mit Bernd A. Laskas LSR-Projekt animieren.]
In American Odyssey äußert sich Reich selbst über die „Aufklärung“: „Die ‚göttliche Emotion‘, die gemeinhin als ‚Erleuchtung‘ bezeichnet wird, zu leugnen, ist gleichbedeutend damit, sich den Zugang zum kosmischen Orgon und damit zur Natur selbst zu versperren“ (S. 296). Dieser eine Satz drückt „meine“ ganze Theorie über verzerrten Kernkontakt („devine emotion“), Verlust dieses Restkontakts („enlightenment“) und Reichs „anti-‚aufklärerische’“ (die Anführungszeichen sind hier das wichtigste!) Position in dieser Sache aus. – Dieser Ansatz ist eine Vertiefung von LSR. Ein LSR, das Reich natürlich nie verlassen hat: er würdigte sich nie dazu herab, „die Ansicht (…) zu bestätigen, daß Gott existiert, usw. “ (ebd., S. 273). Trotzdem muß er konstatieren, „daß auch Konservative ein wahrhaft revolutionäres Herz haben und daß sie Arbeit und Liebe mehr schätzen als so mancher Sozialist“ (ebd., S. 304).
Reich hat entwaffnet, daß Freud einerseits „im Judentum verwurzelt“, andererseits „gottlos“ war; einerseits dem „Sozialismus“ offen gegenüberstand und andererseits konservativ bis ins Mark war; einerseits Reich anfangs ganz offen und echt (!) als „Seelenverwandter“ gegenübertrat (vielleicht ganz ähnlich wie bei LaMettrie und Fredericus Rex, Stirner und Engels), um sich dann schließlich als mörderischer Erzfeind zu erweisen.
Mich fasziniert diese Widersprüchlichkeit, der im übrigen wir alle ausgesetzt waren, als uns unsere Eltern einerseits mit echter Liebe entgegentraten und andererseits als Agenten einer mörderischen „Kultur“ fungierten.
Als Reich sich mit Christus identifizierte und die Kinder mit dem „Gekreuzigten“ – also mit sich selbst Christus/Reich, drückte er damit diesen Zusammenhang aus. L/S/Reich als Einzelner gegen ein mörderisches System, so wie jedes Kind „einzeln“ gegen die mörderische Gesellschaft steht.
Die Tragik an dem ganzen ist m.E. die erwähnte Widersprüchlichkeit, die diesen Einzelnen vollkommen hilflos macht: man lockt ihn mit durchaus echter Liebe – um ihm ein Über-Ich zu verpassen. Das passiert mit jedem Kind und das ist auch mit Reich passiert. Nur, daß der sich wehrte und deshalb von seinem „Vater“ (Freud) erschlagen wurde. (Freud hat das natürlich schon in Totem und Tabu von 1912 ganz anders gedreht, nämlich als die ewige Bedrohung durch den Vatermord. Letztendlich also dem „Mord“ am Über-Ich, den sich Reich schuldig machte.)
Wie aus dieser Falle herauskommen? Meine Gedankenlinie ging dahin, den Spieß umzudrehen und die besagte Widersprüchlichkeit gegen die Vertreter der Lebensfeindlichkeit selbst zu richten, indem man den letzten Fetzen an Lebensgefühl, das sie noch haben, appelliert und dabei keine Ausflüchte in allgemeines Gelaber über „Gott“, „Liebe“ und „Kultur“ zuläßt. Ich glaube Reich hat dieses lebenspositive Rest-Element in Freud gemeint, als er davon sprach, daß sein „Antlitz Spuren des Kusses der Wahrheit zeigte“ (S. 269). Während man bei den angeblichen Mitstreitern, etwa bei der „Freudian Left“ (Fenichel, Marcuse, etc.) dieses Element umsonst suchen wird. Man ist bei ihnen prinzipiell verraten und verkauft. Nun, konkret war Reich auch bei Freud „verraten und verkauft“, desgleichen auch bei „America, God’s own country“, aber, wenn es überhaupt irgendeine Hoffnung gab, dann da. Mir ist natürlich bewußt, wie absolut irrwitzig und pervers das ist. Zehntausendmal irrwitziger und perverser finde ich aber, wenn man den angeblichen Freunden folgt, die kein bißchen „traces of the kiss truth“ haben, jedenfalls nicht in dem existentiellen Sinne, wie Reich das meinte – und bloß intellektuell die „richtige Meinung“ zu vertreten, ist schließlich bedeutungslos. Und letztendlich kommt es auch „intellektuell“ durch, dieser strukturelle Verrat der angeblichen Freunde.