Jedem, der die orgonomische Literatur verfolgt, wird über kurz oder lang auffallen, daß die psychiatrische Nosologie der medizinischen Orgonomen eine vollkommen andere ist als die der normalen Psychiater. Wo findet sich in der Orgonomie etwa der „Borderliner“ oder gar die „multiple Persönlichkeit“? Patienten haben in der Psychiatrie und Psychotherapie „histrionische Persönlichkeitszüge“ oder „anankastische Persönlichkeitszüge“, aber von einem „hysterischen Charakter“ oder „Zwangscharakter“ ist nie die Rede. Leute können unter einer „bipolaren Störung mit anakastischen Persönlichkeitszügen“ leiden. Fällt so etwas in der Orgonomie ganz unter den Tisch?
Peter A. Crist beschäftigt sich u.a. mit derlei Fragen in „Nature, Character, and Personality. Part 1: Introduction and General Principles“ (The Journal of Orgonomy, Vol. 27, No. 1, Spring/Summer 1993, S. 48-60).
Demnach entsprechen „Persönlichkeitsstörungen“ der Unfähigkeit der äußeren Schicht der menschlichen Charakterstruktur, also der „sozialen Fassade“, den Ausdruck der zweiten Schicht, d.h. der „sekundären Schicht“, in Schach zu halten. Entsprechend dreht sich in der modernen Psychiatrie alles um soziale Normen. Das was gesellschaftlich stört, soll eingeschränkt werden. Wenn die „soziale Fassade“ die sekundären Triebe nicht mehr kontrollieren kann, greift die soziale Kontrolle in Gestalt des Psychiaters ein.
Orgonomische Psychiater beschäftigen sich mit einem ganz anderen Problem, dem „Charakter“. Hier geht es um die Fähigkeit der zweiten, d.h. der mittleren Schicht die Impulse, die aus dem bioenergetischen Kern nach außen Drängen, zu binden oder zu entladen. Der triebgehemmte Charakter ist entsprechend wie tot, er besteht fast nur aus „Energiebindung“, man denke etwa an den Zwangscharakter. Der triebhafte Charakter hingegen ist „Opfer seiner Triebe“, wird von wilden Ausbrüchen und Süchten getrieben. Der genitale Charakter jedoch kann sich je nach Situation angemessen zurückhalten oder sich vollkommen gehenlassen. Entsprechend beruht die Charaktereinteilung nicht auf sozialen, sondern biologischen Normen.
Das ganze kann man in etwa wie folgt beschreiben:
Die gängige Psychiatrie wird vom roten Pfeil beschrieben, die orgonomische vom blauen.
Diese Zusammenhänge sind auch der Grund warum ich gestern so sehr über den Begriff des „okularen Charakters“ aufgeregt habe. Mit solchen Begrifflichkeiten (die man in diversen „Reichianischen“ Therapieschulen zuhauf findet) wird die oben beschriebene Unterscheidung hoffnungslos zugekleistert und das Resultat kann nur sein schlechte gängige Psychiatrie plus schlechte orgonomische Psychiatrie, also weniger als gar nichts!
Die multiple Persönlichkeit ist eine Störung, bei der es zu einer Fragmentierung der sozialen Fassade in voneinander isolierten „Persönlichkeiten“ gekommen ist, die jedoch jeweils auf den zugrundliegenden einheitlichen Charakter zurückgeführt werden können. Die Störungen der sozialen Fassade, die den Borderliner kennzeichnen, werden in der gängigen psychiatrischen Literatur beschrieben: ständiger Wechsel von Idealisierung und Entwertung in Beziehungen, überstarke Angst vor Verlassenwerden, wankendes Selbstbild, selbstzerstörerisches Verhalten, innere Leere, extreme Stimmungsschwankungen, aufbrausendes, paranoides Temperament, etc. Die histrionische Persönlichkeit präsentiert ständig eine „dramatische Fassade“. Alle diese Persönlichkeitsstörungen können einzeln oder in Kombination bei den unterschiedlichsten Charakterstrukturen auftreten.
Das Wesen des Orgonomischen Funktionalismus wird sehr schön deutlich, wenn man Crists Erläuterungen von vor 20 Jahren mit seinem einem Brief an die Freunde des American College of Orgonomy von 2012 vergleicht. Obwohl das Thema ein ganz anderes ist, die Renovierung des „Hauptquartiers“ der Orgonomie, geht es doch um die gleichen bioenergetischen Überlegungen über die Fassade („Persönlichkeit“) und den Charakter.




















