Entwurf einer Besprechung von Robinson: The Freudian Left (17.12.71)

Ich habe mich anfangs gesperrt, einen derartigen „persönlichen“ Nachruf zu schreiben, weil sich über vier Jahrzehnte erstreckende Beziehung zwischen Laska und mir nie eng war. Dazu waren wir einfach zu unterschiedlich. Der Katholik Laska war über Karlheinz Deschners Religionskritik und die Anfänge der linken Studentenbewegung Mitte der 1960er Jahre als einer der ersten Nachkriegsdeutschen überhaupt auf Reich gestoßen. Ich war denkbar areligiös und „akulturell“ aufgewachsen und gerade deshalb hatten mich Religion und Kultur (Bildende Kunst und Musik) von früh an in ihren Bann gezogen – Dinge, die Laska, zunächst Bauzeichner und dann Ingenieur (Baustatiker), zeitlebens wirklich vollkommen kalt ließen. Nachdem meine kindlich-jugendlichen „Studien“ im „religiös-kulturellen“ Bereich und auch im naturwissenschaftlichen (ich laß eifrig das „X-Magazin“, „Bild der Wissenschaft“, die Bücher von beispielsweise Hoimar von Ditfurth etc.) nur meine wachsende Verachtung für all dieses Zeugs nährten, stieß ich schließlich auf Reich („Bingo!“) und wollte fortan nichts anderes sein als ein orthodoxer Anhänger der Orgonomie. Für mich war und ist sie die endgültige Wahrheit.
Mein Problem war damals, daß ich als Arbeiterkind (Laska war auch eins!) niemanden kannte, der auch nur im allerentferntesten meine wirklich extrem absonderlichen, da hochgestochenen Interessen teilte, und ich auf die paar Mitte der 1970er Jahre erhältlichen Reich-Bücher und irgendein „Reichianisches“ Zeugs a la Alexander Lowen reduziert war. In einem dieser Bücher stieß ich schließlich auf eine Annonce für Laskas Zeitschrift „Wilhelm Reich Blätter“, fand über diesen Umweg schnell Kontakt zu Jerome Eden, bestellte das „Journal of Orgonomy“ etc. Laska hatte eine ganze Welt für mich geöffnet, die Orgonomie war noch lebendig, wovon ich vorher keinerlei Ahnung hatte. Aber schon bald begann mein Konflikt mit Laska: ich verdammte ihn ob des Einflusses der amerikanischen Orgonomen auf mich sehr bald als „Reichianer“. Er war dabei, zu einem „Feind“ zu werden. Daß er es wagte, Artikel von Alexander Lowen zu veröffentlichen und gewisse andere Leute auch nur zu Wort kommen zu lassen! Ich erlebte über seine Zeitschrift sozusagen „live“ mit, wie er sich immer mehr Max Stirner zuneigte, was für mich der Anlaß war, Stirner auseinanderzunehmen. Einfach nur, weil Laska sich auf ihn berief! Das baldige, wirklich klägliche Scheitern meines Unterfangens Stirner zu „dekonstruieren“ und meine Einsicht, daß Laska in dieser Beziehung vollkommen recht behalten hatte, waren eine nachhaltige Lektion.
1982 stellte er wegen solcher hoffnungslosen Figuren wie mir seine Zeitschrift ein und begann zu erforschen, was die Essenz seiner beiden Helden Reich und Stirner sei. Schon bald kam LaMettrie hinzu und Laskas „LSR-Projekt“ nahm langsam Gestalt an. Ich war einer der erstaunlich wenigen alten Leser, die ihm auf diesem Weg treu blieben und seine Bücher von und über LaMettrie kauften, sowie das eine Buch mit Stirners Parerga. Er bewegte sich aber sozusagen am Rande meiner eklektischen Interessen (Orgonbiophysik, UFOs, Roter Faschismus, Saharasia, Orgonometrie, Hans Hass, christliche Theologie, Nietzsche, etc.), die kaum bis keinerlei Überschneidungspunkte mit ihm hatten. Unser persönliches Verhältnis blieb stets unterkühlt, obwohl wir uns einige Male trafen, wobei ich aber jeweils sozusagen nur „Anhängsel“ anderer war. Seine Website ließ meine alte Begeisterung für seine geistige Klarheit und nicht zu übertreffende „akademische“ Integrität immer wieder von neuem aufflammen bis hin zu regelmäßigen begeisterten „Bekenntnissen“ zu seinem LSR-Projekt. Er war sichtlich konsterniert, derartig enthusiastische Treueschwüre ausgerechnet von meiner Seite zu hören.
Im Vergleich zu ihm, habe ich mich immer als hemmungslosen „Dampfplauderer“ empfunden und es stets bedauert, daß er nicht „mehr Worte gemacht hat“. Welch ein Privileg ihn gekannt zu haben. Er war mein distanzierter Erzieher, ich sein letztendlich doch loyaler Schüler. Danke, Herr Laska!
Bernd Laska war kein Mann großer bzw. ausufernder Worte, da die doch nur dazu dienen, den Kern der Aussage im Gewirr der Argumente verschwinden zu lassen. Oder wie mir Laska 1999 schrieb:
Zu all dem kann man sicher viel Kluges schreiben – „man“, aber nicht ich. „Parallelen“ gibt’s immer irgendwie massenhaft, ich suche die Diskrepanzen. Ich will ja gerade raus aus dem ganzen Sprachschlamassel, in dem natürlich auch L/S/R noch drin steckten.
Laskas Theorie über Reich war kurz zusammengefaßt: Mai 1926 überreicht Reich sein Manuskript von Die Funktion des Orgasmus, worauf Freud antwortet: „So dick?“, will sagen, Reich solle sich wie alle anderen Psychoanalytiker gefälligst mit immer neuen Nebensächlichkeiten auseinandersetzen. Reich erkrankt an Tuberkulose und schreibt Anfang 1927 im Sanatorium von Davos unter ein Portraitphoto von sich selbst: „Konflikt mit Freud“. Im Juli 1927 fällt die Politisierung Reichs. Laskas Kommentar: „Freud & Co trieben R in die ‚Politik‘, um ihn dann unter eben dem Vorwand, seine ‚Politik‘ sei ‚gefährlich‘, zu vernichten.“
Ausführlicher führte Laska mir gegenüber aus:
Freud war anfangs eher jovial gegenüber dem ganz jungen R (nie „seelenverwandt“, wie Sie aaO schreiben), dann ironisch („So dick?!“ / „ambitionierter Steckenpferdreiter“) etc., bald ernsthaft besorgt, aber noch um Gelassenheit bemüht abwartend, schließlich (nach Maso-Ms 1.1.1932 „Schritte gegen Reich“) zur Vernichtung entschlossen. Er wußte nur nicht: wie. Denn R hätte sich nie ohne Begründung abservieren lassen, trat vielmehr immer unverhüllter als der „wahre Freud“ gegen den lebenden (insofern „wahreren“) Freud auf. Da kam für Freud die „politische Karte“ wie gerufen, und er verschmähte es in seiner Not sogar nicht, sich mit einer elenden Figur wie Boehm zu verbünden (17.4.33: „Befreien Sie mich von Reich!“) Dieser politische „Nebel“ von 1933/34 blendete manche PsA damals, blendete sogar R und blendet Fallend & Co noch heute. (Und ich könnte – wenn Sie darauf bestehen, um das Diabolische daraus zu tilgen – auch konzedieren, daß er sogar den Nebelwerfer Freud blendete). Also: kein „master plan“; fataler: eine echte, ohne viel Absprache funktionierende „conspiracy“ (im lat. Wortsinn), im übrigen auch die, in die ich Jim Martin’s Funde einbetten würde (während JM die „order from Moscow“, falls sie gefunden werden würde, für das non-plus-ultra an conspiracy zu halten scheint).
Laska schrieb mir einst:
Reichs Weg scheint mir noch lange nicht plausibel und produktiv gedeutet. Als Resultat meines gewiß langen Studiums des Reich’schen Werkes auf der Basis meiner Herkunft aus der arbeitenden/realistischen Sphäre ist LSR entstanden. Mein Verhältnis zum Komplex Philosophie ist vielleicht vergleichbar mit dem, das Reich zum Komplex Neurose hatte. Reich begab sich in diesen Unrat nicht, weil er sich dort – wie Freud et al. – wohl und heimisch fühlte. LSR erinnert auch ein bißchen an eine „Widerstandsanalyse“…
Was das LSR-Projekt betraf hat sich Laska nie „offen erklärt“. Der Leser müsse erst den großen Verdacht nachvollziehen, dann können wir des Pudels Kern besprechen – wenn das dann noch nötig ist! Es ist ähnlich wie mit der Charakteranalyse, die ursprünglich zur eigentlichen psychoanalytischen Deutung („des Pudels Kern“) führen sollte, dann aber die Deutung überflüssig gemacht hat: der Patient spricht es selbst aus, er spürt es selbst.
Es sei auch gesagt, wie er zu mir und damit zum NACHRICHTENBRIEF stand:
Aber noch einmal kurz zu unserer Differenz jenseits vieler möglicher Mißverständnisse. Sie läßt sich vielleicht ein wenig so umschreiben: Sie favorisieren mehr den späten Reich (ab ca. 1940), ich mehr den frühen. Sie fokussieren auf Nietzsche, den kühnen Denker, ich auf den evasiven. Sie sehen in „Mystik“, „Gott“, „Gewissenszwang“, „irrationalem Über-Ich“, etc. etwas von Wert, während ich es „radikal liquidiert“ sehen möchte in meiner Wunschwelt – wobei, wie ich gleich hinzufügen muß, es mir nicht um die Konstruktion einer Wunschwelt geht, sondern LSR für mich eher so etwas wie eine lebensnotwendige Selbstbehauptung darstellt.
Zur Orgonomie und dem ganzen Umfeld stand er wie folgt:
Die Abwehr gegen Reich (von Fachleuten) war für mich (als Nichtfachmann) schon immer das stärkste Indiz, daß Reich „recht hatte“ (nicht nur „jeder hat irgendwo recht“). Die Entwicklung seit 1945 scheint aber dahin zu gehen, daß die alte Abwehr gegen L+S+R schwindet – im Namen der großen Toleranz und der Abneigung gegen die „großen Gesänge“ und der Ideologie der Ideologielosigkeit und… Alles wird ihnen „egal“ – bis auf die jeweils ihnen durch die Massenpropaganda suggerierten „Entscheidungen“, die die sich souverän dünkenden modernen Subjekte zu treffen meinen (politisch, alltagsmodisch, wie auch immer). LSR wird vielleicht von einigen als philosophiehistorische Schrulle genommen, sogar goutiert (bis sie auf eine andere Schrulle stoßen). Ein anderes Problem wäre die Abwehr Reichs durch Reichianismus (rein oder „weiterentwickelt“) bzw. die „Rehabilitationen“, wie sie L+S+R gelegentlich von „wohlmeinenden“ Leutchen erfahren.
Und an anderer Stelle:
Ich habe irgendwo das Werk Rs als Palimpsest bezeichnet, das aus vielen Schichten besteht, die eine Grundaussage überdecken. Die Schichten bestehen aus den Bemühungen Rs, seine Grundaussage „wissenschaftlich“ zu vermitteln – was von den jeweiligen Wissenschaftsgemeinden nicht akzeptiert wurde. Ich trage mit LSR diese Schichten ab. Mit welcher Berechtigung könnte ich als Laie auf allen Gebieten auch darauf bestehen, daß R richtig liegt und die Experten falsch? Und warum sollte ich? Ich bin an der Grundaussage interessiert, und ich bin mir „existentiell“ vollkommen sicher, daß Rs (weder „wissenschaftliche“ noch „philosophische“) Grundaussage richtig ist. Die will ich mit LSR freilegen. Schon die Genese des LSR-Projekts zeigt, daß R dessen Anfang war (und Motor ist). Auf ein Verständnis der „Reichianer“ kann ich dabei leider nicht hoffen.
Und schließlich:
Viele Reichanhänger scheinen darauf aus zu sein, WR zu „rehabilitieren“. Mein Herangehen ist eher umgekehrt: Was war und ist an WR so inakzeptabel, daß so viele sich von ihm distanzier(t)en, ihn hass(t)en, bekämpf(t)en – und zwar ohne Nennung des wahren Grundes?
Auf meinen Einwand, der späte Reich stehe ihm wohl fremd gegenüber, antwortete Laska:
Nein, überhaupt nicht fremd. Aber ich sehe sie [also Reichs damalige mehr konservative Haltung] nicht als die genuin Reich’sche bzw. LSR’sche. Natürlich ist die „konservative, pessimistische Anthropologie“ angesichts der Menschheitsgeschichte (incl. „Trobriander“ etc.) die realistischere, aber etwa in dem Sinn wie Hegel realistisch ggü den alten Aufklärern war. Reich bzw. LSR sollte angesichts von Reichs späten Äußerungen jedenfalls nicht unter die „konservative, pessimistische Anthropologie“ subsumiert werden. In diesem Sinne nehme ich „den Frieden, den er mit der Religion und den anderen bürgerlichen Institutionen schloß“, nicht allzu ernst. Ich erkläre ihn mir biographisch wie so vieles in Reichs Karriere (—>meine „Palimpsest“-These). Immerhin schloß er den CM, wenn ich mich recht entsinne, mit der Vision, wahre „Kultur“, die bisher nicht war, werde einmal möglich sein. (bei Stirner: das Zeitalter des „Eigners“). Woher nahm er diese Zuversicht? Jedenfalls nicht aus den Erhebungen aus den „6 Jahrtausenden“. Doch wohl, wie Stirner: Aus sich!
…dieser Reich – der frühe Reich: Ich würde sagen: beide stehen mir gleichermassen fern. Aber es gibt darunter (—> meine „Palimpsest“-These) einen dritten, und den habe ich wohl von Anfang an gespürt. Seine Freilegung ist – LSR.
Abschließend:
Am Anfang meiner tieferen Beschäftigung mit WR stand die Erfahrung, daß die „Reichity“ nicht „tragfähig“ ist; daß die allermeisten Reichianer xxxxxxx sind. Die „Stirnerity“ dito. Und gäbe es eine „Lamettrity“, erwartete ich jetzt nichts anderes. Meine Reaktion darauf war LSR.
Laska stand über den heutigen Auseinandersetzungen:
An diesem ganzen Hin-und-Her zwischen Permissivität (zB Clinton) und moralischer Aufrüstung (zB Bush) nehme ich keinen besonderen Anteil. Aber ich glaube, Reich hatte recht mit der pauschalen Tendenz-Diagnose: „The human ocean has begun to stir.“ Er ist nicht mehr zu beruhigen. Der Zerfall der alten, „ethischen“ (Über-Ich-kontrollierten) Kultur zeigt sich überall. Daran ändert der „boom“ der Ethik nichts, auch nicht die „konservativen Feldzüge“ dieses oder jenes Reaktionärs. Nur: was wird daraus? Nix Gutes, wie ich vermute. Was immer nach den alten Schemata geschieht – Moral plus oder minus – ist falsch. Wäre ich Gott, wäre ich sehr alarmiert über die Zukunft meiner Schöpfung. Zum Glück bin ich’s nicht.
Leider gibt es m.W. niemanden (mit einer löblichen Ausnahme :-), der diesen Prozeß wenigstens prinzipiell richtig zu deuten weiß. Selbst die kühnsten Revolutionäre waren „Ethiker“ oder „Anti-Ethiker“ wie Sade (der nicht umsonst ein Star unter heutigen Intellektuellen ist – sofern sie nach Ahnherren suchen); sie waren und sind auf Moral/Über-Ich angewiesen, zum Gehorchen oder zum Revoltieren. „Anethiker“ wie L/S/R blieben rudimentär/nihilismusgetarnt/palimpsestartig – kaum identifizierbar.
Die orgonomische Wissenschaft setzt sich aus fünf Bereichen zusammen: 1. Medizin, 2. Soziologie, 3. Biologie, 4. Physik und 5. Kosmologie.
1927 erschien das Buch Die Funktion des Orgasmus, das die Grundlage der spezifischen Lebensarbeit Reichs darstellt. In den folgenden Jahren arbeitete Reich in fünf Bereichen die Grundlagen dessen aus, was wir heute als „Orgonomie“ kennen.
1. Er wurde zu einem militanten Marxisten, der im Anschluß, angefangen mit der 1934 erschienen Schrift Was ist Klassenbewußtsein? sich das Konzept erarbeitete, das er später als „Arbeitsdemokratie“ bezeichnete.
2. Er engagierte sich in der Sexualreformbewegung und erarbeitete im Rückgriff auf die Arbeit von Bronislaw Malinowski die theoretischen Grundlagen seines späteren Konzepts „Kinder der Zukunft“.
3. Er baute die Psychoanalyse zur Charakteranalyse aus, um diese dann ab 1934 zur „charakteranalytischen Vegetotherapie“ zu erweitern.
4. Auf der Grundlage der damaligen biomedizinischen Forschung, insbesondere der von Friedrich Kraus („vegetative Strömung“), legte er die theoretischen Grundlagen dessen, was er ab1934 als „sexualökonomische Lebensforschung“ bezeichnete.
5. Mit der Ausarbeitung und Weiterentwicklung des auf Marx und Engels zurückgehenden Dialektischen Materialismus legte er die Grundlagen des späteren „orgonomischen Funktionalismus“.
Bemerkenswerterweise wurden diese fünf Stränge nicht nur zwischen 1927 und 1934 zu Zeiten seines sehr zeitaufwendigen und lebensgefährlichen politischen Engagements ausgeformt, sondern lassen sich jeweils auf seine Formations- und Selbstfindungsjahre zwischen 1919 und 1926 zurückverfolgen. Sein starkes soziales Engagement zeigte sich bereits in seiner Arbeit am von ihm angeregten psychoanalytischen Ambulatorium für Mittellose in Wien. Eine Arbeit, die sich in seinem ersten Buch, Der triebhafte Charakter (1925), niederschlug, das sich hauptsächlich mit dem „Lumpenproletariat“, sozusagen „den Wilden“ der Neuzeit, beschäftigte und das seine ersten charakteranalytischen Formulierungen enthält. Es sei auch auf seine beiden Artikel über „Eltern als Erzieher“ (1926) und seine frühen naturphilosophischen Studien (insbesondere Henri Bergson und F.A. Lange) verwiesen. Nach 1927 (Die Funktion des Orgasmus) kondensierten sich diese Anfänge zu den genannten fünf Strängen.
Die Zeit zwischen 1927 und 1934 ist kaum zu überschätzen und man reibt sich die Augen, was der Mann in diesen sieben Jahren alles geleistet hat. Nicht nur, daß er die Psychoanalyse zur Charakteranalyse weiterentwickelte, kreierte er auch eine eigenständige Massenpsychologie und das nicht nur in der bequemen Schreibstube, sondern im aktiven politischen Kampf. Sowohl in Wien als auch in Berlin baute er eine sexualpolitische Organisation auf. Quasi nebenbei schrieb er ein Buch zur Ethnographie, das selbst Bronislaw Malinowski selbst beeindruckte, und verfaßte eine sexualsoziologische Studie. Später wurden sie bekannt als Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral und als Die sexuelle Revolution. Und er bereitete spätestens mit seiner bahnbrechenden Studie über den masochistischen Charakter, die Anlaß des endgültigen Bruchs mit Freud war, den „Einbruch ins biologische Fundament“ vor.
„Funktion“ kommt aus dem Lateinischen und bedeutet soviel wie „seines Amtes walten“. Wenn beispielsweise unterschiedlichste geographisch, geschichtlich und kulturell weit voneinander getrennte Stämme identisch aussehende Löffel benutzen, um Suppe zu essen, dann ist gegenseitige Beeinflussung („Technologietransfer“) so gut wie ausgeschlossen und die Gleichheit der Problemlösung bedeutet folglich, daß schlichtweg die Funktion die Struktur bestimmt. Wobei das Material unerheblich ist, solange es dazu dienlich ist „seines Amtes zu walten“, nämlich in diesem Fall Flüssigkeit in den Mund zu heben.
Löffel kann ich nach Gebrauch in eine Küchenschublade legen. Funktionen hingegen sind etwas Abstraktes, das vielleicht eine Zeit, aber keinen Ort hat. Die „Funktion“ ist immer eine Beziehung, verweist also stets auf eine (mindestens) Zweiheit. Etwa so, wie die Liebe zwischen einer Frau und einem Mann. Sie hat vielleicht ihre Zeit, aber ich kann sie nicht wie ein Ding verorten, obwohl sie zweifellos real ist. Genauso wie das „Amt“ eines Postboten real ist, aber nichts, was Ausdehnung und Masse hat. Bei der Funktion ist es stets so, daß es der Beziehung zwischen dem Teil und dem Ganzen entspricht. Beispielsweise kann der Postbote nur innerhalb einer Gemeinschaft seines Amtes walten, ohne diese ist er von vornherein „funktionslos“.
Die funktionelle Betrachtung eines Sachverhaltes, etwa eines Krankheitsprozesses, bedeutet stets, daß ich die Einzelerscheinung im Rahmen der Ganzheit betrachte, in diesem Fall des Gesamtorganismus. In einem Sandhaufen hat das einzelne Sandkorn keine Funktion, weil es keine Ganzheit des Sandhaufens, keine Funktionseinheit „Sandhaufen“ gibt. Ganz anders sieht das aus, wenn ich dem Sandhaufen von außen eine Funktion verleihe, etwa den eines Wasserdamms. Aber davon wollen wir absehen und eine zweite Option betrachten: der Sandhaufen gewinnt durch bionösen Zerfall autonom ein Eigenleben und wird zu einem Biotop oder gar einer Art Organismus. – Drücken wir uns vorsichtiger aus: aus maximaler Unordnung entwickelt sich spontan immer mehr Ordnung und entsprechend kann sich langsam eine Teil-Ganzheit-Dynamik entwickeln, wodurch eine funktionelle Betrachtung möglich wird. Umgekehrt kann man mich in einen großen Fleischwolf werfen und meine derart produzierten „Körperteile“, die winzigen Fleisch- und Knochenfetzen, verlieren jedwede Funktion in Relation zum Haufen Hack. Sie sind auswechselbar!
Was mich ausmacht und was den ehemals strukturlosen, jetzt aber strukturierten „Sandhaufen“ ausmacht, ist die Beziehung zwischen den Teilen und dem Ganzen. Ich bin ein Beziehungsgefüge! Der Mystiker sagt, ich hätte eine „Seele“, während der Mechanist mir eine Pille verabreicht, wenn ich mich schlechtfühle, so als beruhe alles auf strukturellen (chemischen) Störungen. Der „Funktionalist“ hingegen sieht, daß etwas im Beziehungsgefüge nicht stimmt und versucht diese funktionellen Störungen wieder herzurichten.
Die erwähnte funktionelle Störung ist, entsprechend der Chemie oder Anatomie bei einer strukturellen Störung, „orgonotischer Natur“. Was soll das sein, „Orgon“? Ich hätte jetzt beinahe geantwortet: „Orgon ist eine Funktion der Funktion“, will sagen: je höher die Organisationsstufe, d.h. je ausgeprägter die Wechselbeziehung zwischen Teil und Ganzem, desto höher die „Orgonität“, entsprechend dem „orgonomischen Potential“.
Alle denkbaren Energien versuchen gemäß dem mechanischen Potential („Entropie“) Beziehungsgefüge aufzulösen. Beispielsweise ebnen Gravitation, Wind und Temperaturschwankungen letztendlich jedes Gebäude ein, was sich beschleunigt, wenn niemand mehr in ihm wohnt. Die von Reich entdeckte Orgonenergie ist die einzige Energie, die Beziehungsgefüge aufbaut, sie erhält und sich dabei weiter akkumuliert, je komplexer das Beziehungsgefüge wird. Zwar ist auch sie massefrei, aber im Gegensatz zum Abstraktum „Funktion“ hat das Orgon eine Ausdehnung, ist deshalb verortbar und man kann es von Ort A nach Ort B versetzen, beispielsweise mit einem Orgonenergie-Akkumulator oder einem Medical DOR-Buster. Entsprechend der erwähnten „Seele“, entspricht das Orgon in etwa dem „Gott“ der Mystiker. „Gott“, der seines Amtes waltet. Die Mechanisten fallen immer wieder auf die mechanische Entsprechung zurück, den „Äther“, um ihn dann wieder zu leugnen, da ihnen das „Funktionelle“ letztendlich fremd ist.
Beziehungsgefüge lassen sich stets, wie bereits angedeutet, auf ein Funktionspaar reduzieren. Man denke etwa an den Postboten. Dieser macht nur durch seinen funktionellen Gegenpart Sinn, den Briefempfänger. Entsprechend entfalten sich Funktionen, indem sie sich in immer neue Funktionspaare aufspalten. An einem Ende steht das einheitliche Orgon, das sich immer weiter aufteilt bis wir Myriaden von Funktionsvariationen vor uns haben. Das beste Beispiel ist die befruchtete Eizelle, aus der sich die zahllosen Körperzellen durch immer neue Zellteilungen entwickeln. Am Ende steht ein Funktionsgefüge, das in seinem Funktionieren vom Orgon bestimmt wird: der Organismus. Was den Postboten betrifft, beschreibt Reich in Massenpsychologie des Faschismus die arbeitsdemokratische Entsprechung, also die Gesellschaft, wie folgt: Zunächst wird der Briefverkehr individuell geregelt, doch mit dem Entwicklung der Zivilisation und dem Bevölkerungswachstum besteht schließlich die Notwendigkeit einen „Briefträger“ anzustellen.
[Die Gemeinschaft] enthebt dazu einen ihrer Mitbürger, der sich noch in nichts von seinen Kameraden unterscheidet, von allen anderen Arbeiten, garantiert ihm seinen Lebensunterhalt und verpflichtet ihn dafür, der Gemeinschaft das Befördern der Briefe zu besorgen. Dieser erste Briefträger ist die menschlich verkörperte zwischenmenschliche Beziehung des Briefeschreibens und -beförderns. Auf diese Weise entstand ein gesellschaftliches Organ, das noch nichts anderes tut, als den Auftrag der vielen Briefschreiber durchzuführen. (…) Nehmen wir nun weiter an, daß die primitiven Ortschaften sich im Laufe vieler Jahre, nicht zuletzt auch infolge der neuen Funktion des Briefeschreibens und des damit entwickelten sozialen Verkehrs, zu kleinen Städten (…) entwickelt haben. Ein Briefträger genügt nicht mehr, es sind nun 100 Briefträger notwendig. Diese 100 Briefträger benötigen nun eine eigene Administration in Gestalt eines Oberbriefträgers. Dieser Oberbriefträger ist ein früherer einfacher Briefträger, der der Pflicht des Briefeübermittelns enthoben wurde. Er hat dafür die umfassendere Pflicht übernommen, die Tätigkeit der 100 Briefträger auf die praktischste Weise einzurichten. (…) Er erleichtert (…) den 100 Briefträgern die Arbeit, indem er die Tageszeiten bestimmt, in denen Briefe ausgehoben und verteilt werden. Er kommt auch auf die Idee, Briefmarken anzufertigen, die die gesamte Funktion vereinfachen. Auf diese Weise hat sich eine einfache, lebensnotwendige Funktion der Gesellschaft verselbständigt. „Die Post“ wurde zu einem „Apparat“ der Gesellschaft (…).
Die Post entwickelt ein Eigenleben mit Abteilungen und Unterabteilungen, Spezialisten und immer neuen Aufgabenfeldern. Das, was als „Arbeitsmoral“ und „Ethik“ gar „Pflichtbewußtsein“ bezeichnet wird, ohne die der sehr verantwortungsvolle Beruf des Postboten nicht denkbar wäre, ist nur ein mystischer Ersatz für das, was Reich als arbeitsdemokratisches „Fachbewußtsein“ bezeichnet hat, welches wiederum Ausdruck der hohen Orgonität der spezialisierten gesellschaftlichen Administration ist. Sie verleiht den einzelnen Mitarbeitern Würde, Stolz, Korpsgeist und jenen Schwung, der die Arbeit zu einem unverzichtbaren Quelle von Lust und Sinn im Leben macht – bzw. machen sollte. Heute spürt man so etwas leider nur noch in aufstrebenden jungen Firmen, bei denen jeder von einem unwiderstehlichen Enthusiasmus erfüllt ist und entsprechend die „Arbeitsmoral“ kein Problem ist. Diese hohe Orgonität überträgt sich sogar auf das Gebäude, das das Postamt beherbergt und deshalb, wie bereits angedeutet, dem Verfall länger widersteht.