ein Gastbeitrag von Dr. med. Mann
Hört man das Wort „antiautoritäre Gesellschaft“, denkt man an Rebellion oder gar „Emanzipation“. Manche werden sich fragen, ob dieser Begriff nicht ein fataler Fehlgriff ist, um eine Gesellschaft zu beschreiben, die (unter dem Deckmäntelchen der „Demokratisierung“) immer mehr Lebensbereiche reglementiert und bürokratisiert; was sich letzten Endes als weitaus repressiver entpuppt, als es die vielbeklagte „Repression in der bürgerlichen Gesellschaft“ je gewesen ist. Am Beispiel des Arzt-Berufs läßt sich zeigen, welch totalitäre Züge die antiautoritäre Gesellschaft annimmt, trotz vordergründig gegenteiliger Assoziationen bei dem Begriff „antiautoritär“.
Kaum ein Berufsstand war in der autoritären Gesellschaft geachteter als der des Arztes. Dabei spielten zwar Standesdünkel und Mystizismus („Halbgötter in Weiß“) hinein, aber diesem verzerrten Kontakt zum bioenergetischen Kern entsprach dennoch eine gewisse arbeitsdemokratische Rationalität. Es galt, was der Arzt sagte und verordnete. Das sorgte für einen gewissen Dezentralismus und autonome Strukturen. Kein Gesetzgeber, keine Regierung oder Versicherung kam auf den Gedanken, das fachärztliche Urteil anzuzweifeln oder an seiner Gültigkeit zu zweifeln. Patienten folgten widerspruchslos den Anordnungen und Verordnungen des Fachmanns.
Das hat sich grundlegend geändert und zeigt plastisch die fatalen Auswirkungen der antiautoritären Gesellschaft. Zunächst einmal versteht sich der Patient zunehmend als „kritischer Kunde“ und tritt mit einem entsprechend übersteigerten Anspruchsdenken an den Arzt heran, dem ganz offen Wunderkuren abverlangt werden, weil der Patient möglichst gar nichts tun (und nichts an sich und seinem „ungesunden Lebenswandel“ ändern) will – außer den Arzt zu kritisieren. Hiervon kann jeder Arzt „ein Lied singen“, der z.B. mit der „Einstellung“ eines Diabetes mellitus zu tun hat. Dazu passend, verstehen sich viele Ärzte und sogar Psychotherapeuten mittlerweile nicht mehr als „Heiler“, sondern als hochspezialisierte „Dienstleistungs-Anbieter“.
Dabei tritt der Arzt zunehmend in Konkurrenz mit Ratschlägen aus den Massenmedien und jeder Menge anderer „Fachleute“. Oder mit anderen Worten, seine Autorität wird ständig infrage gestellt. Fast jeder Patient (v.a. die jüngeren), der selber nullkommanull Erfahrungen mit Psychopharmaka hat, meint den Arzt (dessen entsprechende Empirie auf Tausenden von Fällen sowie auf seiner Kenntnis unzähliger wissenschaftlicher Studien beruht) gleich im Erstgespräch belehren zu müssen, daß das von ihm vorgeschlagene Medikament laut Google-Recherche ja „fürchterliche Nebenwirkungen“ habe. Tatsächlich ist deren Auftretens-Wahrscheinlichkeit jedoch gegebenenfalls geringer als diejenige, daß man sich beim Autofahren beide Beine bricht.
Der Arzt wird sogar als „Agent der Pharmaindustrie“ verdächtigt, d.h. als Geschäftemacher im Verbund mit „bösen Mächten“. An die Wirksamkeit der Medikation wird sowieso nicht mehr geglaubt, und es gibt ein ewiges Ringen um die „Compliance“ (also Krankheitseinsicht und Mitarbeit) des Patienten. Dieser Aspekt ist auch volkswirtschaftlich von großer Relevanz, da verschiedenen Untersuchungen zufolge etwa jede zweite ärztlich verschriebene Tablette nicht im Magen des Patienten landet, sondern im Müll oder der Toilette entsorgt wird.
Daraus sich ergebende ausbleibende Therapieerfolge werden natürlich dem Arzt angelastet: „die da oben“ haben immer schuld! Wenn man in ein Flugzeug steigt, funktioniert die Arbeitsdemokratie: jeder Passagier vertraut ganz selbstverständlich dem Piloten sein Leben an, da dieser ja im Gegensatz zu den Insassen „von der Pike auf gelernt“ hat, ein Flugzeug zu steuern. Im Gesundheitswesen ist es hingegen ganz anders: fast jeder Patient sieht sich selber als „kleinen Arzt“ oder Psychologen. So beklagte Wilhelm Reich schon zu seinen Zeiten, daß sich jeder „kleine Mann“ für einen psychiatrischen Experten hält, nur weil er selber Emotionen hat.
Hinzu kommt, daß genau wegen dieser grundsätzlich antiautoritären Haltung das Leben zunehmend „kollektiviert“ und bürokratisiert wird. Sie wirkt sich dadurch nicht etwa „emanzipatorisch“ aus, sondern läuft im Gegenteil auf eine totalitäre Kontrolle sämtlicher Lebensbereiche hinaus. Heutzutage verbringt ein Arzt fast die Hälfte seiner Arbeitszeit nicht etwa mit der Behandlung von Patienten, sondern damit, unzählige Schreiben zu verfassen und Formulare auszufüllen, um sich gegenüber viel weniger fachlich qualifizierten Sachbearbeitern von gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen (die den Patienten und die Begleitumstände seiner Erkrankung gar nicht persönlich kennen), der Kassenärztlichen Vereinigung, Rentenversicherungsträgern, der Ärztekammer, Gerichten, Gutachtern für Psychotherapie-Anträge, dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen usw. ständig dafür zu rechtfertigen, ob die von ihm gestellte Diagnose und die darauf basierende Behandlung auch richtig ist.
Schon bei der Auswahl des geeigneten Medikaments ist der Facharzt nicht etwa frei (früher gab es mal die so genannte „Therapie-Freiheit“ des Arztes), sondern hat sich an verbindliche „Behandlungs-Leitlinien“ der Fachgesellschaften zu halten, wenn er nicht „mit einem Bein im Gefängnis stehen“ will. Das unsägliche „Punkte-System“ der Kassenärztlichen Vereinigungen mit Fallpauschalen bzw. „DRGs“ (Diagnosis Related Groups), „Richtgrößen-Volumen“ „Budgetierungen“ und entsprechenden Regreß-Forderungen bei deren Überschreitung, tun ihr Übriges, um den VerwaltungsAufwand (und den Frust des Arztes) extrem in die Höhe zu treiben.
Daß das „Gesundheits“-Wesen v.a. aus diesen Gründen hoffnungslos überbürokratisiert, organisiatorisch „gepanzert“, korrupt und konsekutiv viel zu teuer ist, ist eine der „heiligen Kühe“, die in der öffentlichen Diskussion tabu sind – schließlich geht es doch um den „Erhalt von Arbeitsplätzen“ (also z.B. die der über 100.000 „SOFAs“ = SozialversicherungsFachangestellten), was das Herz jedes Gewerkschafters und Sozialdemokraten höher schlagen läßt.
Parallel dazu hat der Gesetzgeber (ebenfalls im Rahmen der genannten „Demokratisierung“) neulich dafür gesorgt, daß die „Patienten-Rechte“ noch weiter gestärkt werden. Was sich auf den ersten Blick gut anhört, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als veritabler Schwachsinn. Jeder Patient kann jeden Arzt „einfach so“ wegen eines vermeintlichen Behandlungsfehlers auf unglaubliche Summen Schadensersatz verklagen. Pikanterweise muß dazu nicht etwa (wie im sonstigen Rechtssystem selbstverständlich) der Patient nachweisen, daß ein solcher Fehler geschehen ist, sondern der Arzt muß vielmehr vor Gericht selber den positiven Nachweis erbringen, daß er korrekt behandelt und nichts falsch gemacht hat! Was natürlich in der Konsequenz dazu führt, daß die umfangreiche schriftliche Dokumentation wichtiger wird als die Behandlung selber. Welcher Kassenpatient kennt nicht die (daraus resultierende) groteske Situation, daß der Facharzt während des Erstgesprächs den Patienten kaum noch ansieht, sondern bereits auf seiner PC-Tastatur wie wild Daten und Abrechnungsziffern eintippt? Dies ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie die Kontroll- und Regulationswut der Institutionen in Wahrheit zur zunehmenden Panzerung der Arzt/Patient-Beziehung führt, die doch eigentlich das „A und O“ einer jeden guten Behandlung darstellt.
Besonders perfide an dieser Art des systematischen Totalitarismus ist, daß man heute (im Gegensatz zu den Zeiten der autoritären Gesellschaft) nicht mehr auf einzelne „autoritäre“ Herrscher bzw. Individuen wütend sein kann, da die Entmündigung des Bürgers im ach so „demokratisch aufgeklärten“ Zeitalter sehr viel subtiler erfolgt durch die Allmacht der allgegenwärtigen Institutionen (die noch dazu vorgeben, sie täten das alles ja im Sinne der Bürger bzw. Patienten-Rechte).
So kommt es, daß Gesetze und Vorschriften zunehmend den Gestaltungsfreiraum des Arztes einschränken und ihn zu einem bloßen Rädchen im Getriebe machen, das zu funktionieren hat und das ja nichts aus eigenem Antrieb unternehmen darf. Gegenwärtig wird er sogar von umfassendem „Qualitäts-Management“ und „Zertifizierungs-Maßnahmen“ gepiesakt, was wirklich jeden Handschlag standardisiert und vor allem eins bedeutet: zusätzlicher Papierkram, der von der eigentlichen Arbeit abhält. Das Fachwissen und die Erfahrung des Einzelnen gelten nichts mehr. Er hat sich standardisieren zu lassen und muß sich vor irgendwelchen Gremien rechtfertigen, wenn er aus der Reihe tanzt.
Zu allem Überfluß nimmt der Druck von Seiten der privaten Versicherungen zu, und der Arzt muß sich immer mehr gegenüber irgendwelchen Sachbearbeitern rechtfertigen, weil beispielsweise die Medikation (ihrer Meinung nach!) nicht mit der Diagnose harmoniert. Da diese Auseinandersetzungen grundsätzlich über den Patienten laufen, wird so die Autorität des Arztes und das Vertrauen in den Arzt zusätzlich unterminiert.
Und schließlich kommt etwas zum Tragen, was insbesondere in Amerika den Arztberuf zu einem veritablen Alptraum gemacht hat: Patienten, die für ihr Leid ganz „antiautoritär“ immer andere verantwortlich machen, beginnen die rechtlichen Mittel auszuschöpfen. Groteskerweise geht es bei etwaigen Gerichtsverhandlungen aber gar nicht um den Arzt, sondern um seine Haftpflichtversicherung, die möglichst wenig an Entschädigung zahlen will und entsprechend den Arzt weiter entmündigt. Selbst wenn er einen Fehler gemacht hat, darf er den nicht offen einräumen! Er und andere dürfen aus seinen Fehlern nicht klug werden.
Eines der Hauptresultate von alledem sind explosionsartig steigende Kosten (nicht zuletzt aufgrund der der Haftpflicht), die gegenwärtig z.B. die Gilde der freiberuflichen Hebammen buchstäblich auslöschen. Dies und die damit einhergehenden schreienden Ungerechtigkeiten werden natürlich „dem Kapitalismus“ angelastet, was die antiautoritäre Ideologie weiter unterfüttert und nach mehr bürokratischer „Abhilfe“ ruft – so daß sich der Teufelskreis immer weiter fortsetzt.
Man kann sich den „Lösungsansatz“ etwaiger Reformer schon denken: es wird natürlich alles darauf hinauslaufen, „autoritäre Strukturen“ noch radikaler zu hinterfragen und die fachliche Autorität der Ärzte noch mehr zur Disposition zu stellen. Auf diese Weise zerstört die antiautoritäre Gesellschaft die Arbeitsdemokratie in einer scheinbar unaufhaltsamen Abwärtsspirale, während die frühere autoritäre Gesellschaft zumindest eine Karikatur der Arbeitsdemokratie bewahrte.
Am Ende wird vor allem einer der Dumme sein: der Patient und Steuerzahler, um den sich ja angeblich alles dreht und der alles bezahlen muß. Tatsächlich geht es aber bei dieser Angelegenheit jedoch nur um eines, nämlich um das auf den gesellschaftlichen Schauplatz verlagerte ödipale Drama – die „antiautoritäre Emanzipation“ mit ihrer infantilen Rebellion gegen die „Vaterfigur“ Arzt.
Die „Organmediziner“ sind in ihrer Position ziemlich sicher, da letztendlich doch die Realität, etwa in Gestalt eines Blinddarmdurchbruchs, die Oberhand behält und so für den Erhalt einer gewissen arbeitsdemokratischen Ordnung sorgt. Ganz anders sieht es aber im Bereich der Psychiatrie (sowie Psychotherapie, Psychosomatik udgl.) aus, die seit Beginn der antiautoritären Ära, also seit etwa 1960, von absurden Bewegungen wie der „Anti-Psychiatrie“ oder dem „Sozialistischen Patientenkollektiv Heidelberg“ und wirren Pseudo-Philosophen wie Michel Foucault grundsätzlich in Frage gestellt wird. Wer es wagt, „psychische Gesundheit“ zu definieren, steht gleich als „Nazi“ da.
